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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Nenschenfrühling

schlucken muß, und als Herr Peters das Pianino erhalten hatte, ans dem weder
er noch seine Frau spielen konnten, da erschien die Bürgermeisterstochter Karoline
Lindig bei dem ehemaligen Schornsteinfcgermeister und fragte im Auftrage ihrer
Mama, wieviel Herr Peters für das neue Klavier, das gewiß nicht viel wert sei,
haben wollte. Während sie noch vor dem alten Manne stand, der sie ans kleinen
spöttischen Augen betrachtete, trat Christel Sudeck ebenfalls in das Zimmer und
sollte dieselbe Bestellung von ihrer Mutter machen.

Weil aber Doktors und Bürgermeisters durch das verhängnisvolle Kränzchen
und seine Folgen "verkracht" waren, so sahen sich die einst so liebenden Freundinnen
nicht nur zornig in die Augen, sie sagten sich auch einige spitze Redensarten --
zum Entzücken des alten Peters, der unter dröhnenden Gelächter versicherte, nie¬
mals geglaubt zu haben, daß ein elendes Klavizimbel ihm soviel Vergnügen be¬
reiten könnte. Nie und nimmer würde er es hergeben.

Onkel Aurelius berichtete das alles an Taute Fritze. Untätig wie er war,
lungerte er überall herum und hatte mit dem alten Peters gleich eine Art Freund¬
schaft geschlossen, die auf dem beiderseitigen Müßiggang berichte. Tante Fritze
war nicht abgeneigt, diesem Stadtklatsch zuzuhören, wenn sie auch einen ermahnenden
Blick auf Anneli richtete, die gerade am Tische saß.

Da Anneli wahrscheinlich sehr sorglos lächelte, so sagte ihre Tante, daß eines
Kindes Unart erschrecklich viel Unheil in der Welt anrichten könnte.

Anneli wurde sehr traurig. Je mehr Zeit nach ihrem Streiche verging, desto
weniger konnte sie verstehn, daß sie ihn verbrochen hatte. Sie empfand Sehnsucht
nach Christel, die seit dem Kränzchennachmittag noch nicht wieder bei Nike Blüthen
erschienen war, und die einige Tage zu Bett gelegen haben sollte. Nun schien sie
wiederhergestellt zu sein, aber um Anneli hatte sie sich noch nicht wieder bekümmert
und würde es vielleicht niemals mehr tun.

Nach dem Essen saß Anneli wieder in ihrem kleinen Alkoven und starrte trüb¬
selig auf das alte Gesangbuch, aus dem sie noch immer Verse lernen mußte. Onkel
Willi war zwar nicht mehr so streng wie in den ersten Tagen und vergaß auch
meist, sie abzuhören. Er schrieb sehr eifrig an einer Geschichte, und manchmal las
er sich das Geschriebn^ laut vor. Anneli hörte mit halbem Ohr hin; manchmal
war es hübsch, manchmal langweilig.

Die Geschichte handelte von einem Knaben, der im Schnlmeisterhanse groß
geworden war, mitten auf der Heide, wo es wenig Bäume gab, nur Birken und
Kiefern, wo aber im Sommer die roten Blüten duftete", und die Bienen summten.
Der Junge lag im Heidekraut, sah in den blauen Himmel und träumte von
Königen und Königinnen, von Glanz und Pracht. Aber er war nur ein armer
Lehrerssohn und sollte nichts andres werden als sein Vater. Dann setzte er es
jedoch dnrch, auf die Schule und später auf die Universität zu kommen. Er hungerte,
ihn fror, er gab Stunden, um sich Bücher kaufen, um auf der Leiter des Lebens
mühsam weiter klimmen zu können. Und dann trat das in sein Dasein, von dem
er sein ganzes Leben lang geträumt hatte: der Prinz. Er kam in das Königs¬
schloß und durfte den König sehen und seine Gemahlin, durfte mit ihnen sprechen
wie mit gewöhnlichen Menschen, und der Prinz liebte ihn, wie man einen Freund
liebt. Es war alles so herrlich, so traumhaft schön, so ganz anders als die Wirklich¬
keit in der Kindheitsferne -- das arme kleine Schulhaus und die rote Heide waren
nur ein Traum gewesen, und er war wirklich ein Königssohn.

So wenigstens kam es mir vor, wenn ich Nachts allein in meinem großen
Zimmer lag, wenn mir die seidnen Decken zu schwer wurden, und ich aufstehn
mußte und mich anfassen und betasten, um mich davon zu überzeugen, daß ich
wirklich derselbe Junge war, der einstmals auf Holzschuhen mühsam durch den
Wintermorast der Heide gelaufen war, der uun an der königlichen Tafel speiste, und
den die Vornehmen des Landes wie ihresgleichen behandelten.

Onkel Willi las sich laut vor, schrieb dann einige Sätze, strich sie aus und
begann von neuem mit deutlicher Stimme zu lesen.

Soll ich weiter schreiben? Darf nicht das graue Gespinst der Vergessenheit


Nenschenfrühling

schlucken muß, und als Herr Peters das Pianino erhalten hatte, ans dem weder
er noch seine Frau spielen konnten, da erschien die Bürgermeisterstochter Karoline
Lindig bei dem ehemaligen Schornsteinfcgermeister und fragte im Auftrage ihrer
Mama, wieviel Herr Peters für das neue Klavier, das gewiß nicht viel wert sei,
haben wollte. Während sie noch vor dem alten Manne stand, der sie ans kleinen
spöttischen Augen betrachtete, trat Christel Sudeck ebenfalls in das Zimmer und
sollte dieselbe Bestellung von ihrer Mutter machen.

Weil aber Doktors und Bürgermeisters durch das verhängnisvolle Kränzchen
und seine Folgen „verkracht" waren, so sahen sich die einst so liebenden Freundinnen
nicht nur zornig in die Augen, sie sagten sich auch einige spitze Redensarten —
zum Entzücken des alten Peters, der unter dröhnenden Gelächter versicherte, nie¬
mals geglaubt zu haben, daß ein elendes Klavizimbel ihm soviel Vergnügen be¬
reiten könnte. Nie und nimmer würde er es hergeben.

Onkel Aurelius berichtete das alles an Taute Fritze. Untätig wie er war,
lungerte er überall herum und hatte mit dem alten Peters gleich eine Art Freund¬
schaft geschlossen, die auf dem beiderseitigen Müßiggang berichte. Tante Fritze
war nicht abgeneigt, diesem Stadtklatsch zuzuhören, wenn sie auch einen ermahnenden
Blick auf Anneli richtete, die gerade am Tische saß.

Da Anneli wahrscheinlich sehr sorglos lächelte, so sagte ihre Tante, daß eines
Kindes Unart erschrecklich viel Unheil in der Welt anrichten könnte.

Anneli wurde sehr traurig. Je mehr Zeit nach ihrem Streiche verging, desto
weniger konnte sie verstehn, daß sie ihn verbrochen hatte. Sie empfand Sehnsucht
nach Christel, die seit dem Kränzchennachmittag noch nicht wieder bei Nike Blüthen
erschienen war, und die einige Tage zu Bett gelegen haben sollte. Nun schien sie
wiederhergestellt zu sein, aber um Anneli hatte sie sich noch nicht wieder bekümmert
und würde es vielleicht niemals mehr tun.

Nach dem Essen saß Anneli wieder in ihrem kleinen Alkoven und starrte trüb¬
selig auf das alte Gesangbuch, aus dem sie noch immer Verse lernen mußte. Onkel
Willi war zwar nicht mehr so streng wie in den ersten Tagen und vergaß auch
meist, sie abzuhören. Er schrieb sehr eifrig an einer Geschichte, und manchmal las
er sich das Geschriebn^ laut vor. Anneli hörte mit halbem Ohr hin; manchmal
war es hübsch, manchmal langweilig.

Die Geschichte handelte von einem Knaben, der im Schnlmeisterhanse groß
geworden war, mitten auf der Heide, wo es wenig Bäume gab, nur Birken und
Kiefern, wo aber im Sommer die roten Blüten duftete», und die Bienen summten.
Der Junge lag im Heidekraut, sah in den blauen Himmel und träumte von
Königen und Königinnen, von Glanz und Pracht. Aber er war nur ein armer
Lehrerssohn und sollte nichts andres werden als sein Vater. Dann setzte er es
jedoch dnrch, auf die Schule und später auf die Universität zu kommen. Er hungerte,
ihn fror, er gab Stunden, um sich Bücher kaufen, um auf der Leiter des Lebens
mühsam weiter klimmen zu können. Und dann trat das in sein Dasein, von dem
er sein ganzes Leben lang geträumt hatte: der Prinz. Er kam in das Königs¬
schloß und durfte den König sehen und seine Gemahlin, durfte mit ihnen sprechen
wie mit gewöhnlichen Menschen, und der Prinz liebte ihn, wie man einen Freund
liebt. Es war alles so herrlich, so traumhaft schön, so ganz anders als die Wirklich¬
keit in der Kindheitsferne — das arme kleine Schulhaus und die rote Heide waren
nur ein Traum gewesen, und er war wirklich ein Königssohn.

So wenigstens kam es mir vor, wenn ich Nachts allein in meinem großen
Zimmer lag, wenn mir die seidnen Decken zu schwer wurden, und ich aufstehn
mußte und mich anfassen und betasten, um mich davon zu überzeugen, daß ich
wirklich derselbe Junge war, der einstmals auf Holzschuhen mühsam durch den
Wintermorast der Heide gelaufen war, der uun an der königlichen Tafel speiste, und
den die Vornehmen des Landes wie ihresgleichen behandelten.

Onkel Willi las sich laut vor, schrieb dann einige Sätze, strich sie aus und
begann von neuem mit deutlicher Stimme zu lesen.

Soll ich weiter schreiben? Darf nicht das graue Gespinst der Vergessenheit


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[0116] Nenschenfrühling schlucken muß, und als Herr Peters das Pianino erhalten hatte, ans dem weder er noch seine Frau spielen konnten, da erschien die Bürgermeisterstochter Karoline Lindig bei dem ehemaligen Schornsteinfcgermeister und fragte im Auftrage ihrer Mama, wieviel Herr Peters für das neue Klavier, das gewiß nicht viel wert sei, haben wollte. Während sie noch vor dem alten Manne stand, der sie ans kleinen spöttischen Augen betrachtete, trat Christel Sudeck ebenfalls in das Zimmer und sollte dieselbe Bestellung von ihrer Mutter machen. Weil aber Doktors und Bürgermeisters durch das verhängnisvolle Kränzchen und seine Folgen „verkracht" waren, so sahen sich die einst so liebenden Freundinnen nicht nur zornig in die Augen, sie sagten sich auch einige spitze Redensarten — zum Entzücken des alten Peters, der unter dröhnenden Gelächter versicherte, nie¬ mals geglaubt zu haben, daß ein elendes Klavizimbel ihm soviel Vergnügen be¬ reiten könnte. Nie und nimmer würde er es hergeben. Onkel Aurelius berichtete das alles an Taute Fritze. Untätig wie er war, lungerte er überall herum und hatte mit dem alten Peters gleich eine Art Freund¬ schaft geschlossen, die auf dem beiderseitigen Müßiggang berichte. Tante Fritze war nicht abgeneigt, diesem Stadtklatsch zuzuhören, wenn sie auch einen ermahnenden Blick auf Anneli richtete, die gerade am Tische saß. Da Anneli wahrscheinlich sehr sorglos lächelte, so sagte ihre Tante, daß eines Kindes Unart erschrecklich viel Unheil in der Welt anrichten könnte. Anneli wurde sehr traurig. Je mehr Zeit nach ihrem Streiche verging, desto weniger konnte sie verstehn, daß sie ihn verbrochen hatte. Sie empfand Sehnsucht nach Christel, die seit dem Kränzchennachmittag noch nicht wieder bei Nike Blüthen erschienen war, und die einige Tage zu Bett gelegen haben sollte. Nun schien sie wiederhergestellt zu sein, aber um Anneli hatte sie sich noch nicht wieder bekümmert und würde es vielleicht niemals mehr tun. Nach dem Essen saß Anneli wieder in ihrem kleinen Alkoven und starrte trüb¬ selig auf das alte Gesangbuch, aus dem sie noch immer Verse lernen mußte. Onkel Willi war zwar nicht mehr so streng wie in den ersten Tagen und vergaß auch meist, sie abzuhören. Er schrieb sehr eifrig an einer Geschichte, und manchmal las er sich das Geschriebn^ laut vor. Anneli hörte mit halbem Ohr hin; manchmal war es hübsch, manchmal langweilig. Die Geschichte handelte von einem Knaben, der im Schnlmeisterhanse groß geworden war, mitten auf der Heide, wo es wenig Bäume gab, nur Birken und Kiefern, wo aber im Sommer die roten Blüten duftete», und die Bienen summten. Der Junge lag im Heidekraut, sah in den blauen Himmel und träumte von Königen und Königinnen, von Glanz und Pracht. Aber er war nur ein armer Lehrerssohn und sollte nichts andres werden als sein Vater. Dann setzte er es jedoch dnrch, auf die Schule und später auf die Universität zu kommen. Er hungerte, ihn fror, er gab Stunden, um sich Bücher kaufen, um auf der Leiter des Lebens mühsam weiter klimmen zu können. Und dann trat das in sein Dasein, von dem er sein ganzes Leben lang geträumt hatte: der Prinz. Er kam in das Königs¬ schloß und durfte den König sehen und seine Gemahlin, durfte mit ihnen sprechen wie mit gewöhnlichen Menschen, und der Prinz liebte ihn, wie man einen Freund liebt. Es war alles so herrlich, so traumhaft schön, so ganz anders als die Wirklich¬ keit in der Kindheitsferne — das arme kleine Schulhaus und die rote Heide waren nur ein Traum gewesen, und er war wirklich ein Königssohn. So wenigstens kam es mir vor, wenn ich Nachts allein in meinem großen Zimmer lag, wenn mir die seidnen Decken zu schwer wurden, und ich aufstehn mußte und mich anfassen und betasten, um mich davon zu überzeugen, daß ich wirklich derselbe Junge war, der einstmals auf Holzschuhen mühsam durch den Wintermorast der Heide gelaufen war, der uun an der königlichen Tafel speiste, und den die Vornehmen des Landes wie ihresgleichen behandelten. Onkel Willi las sich laut vor, schrieb dann einige Sätze, strich sie aus und begann von neuem mit deutlicher Stimme zu lesen. Soll ich weiter schreiben? Darf nicht das graue Gespinst der Vergessenheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/116>, abgerufen am 30.06.2024.