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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

ins Gefängnis kommt, oder wenn seine Mutter nicht mehr die Hüte für die Frau
Bürgermeisterin machen darf, was dann?

Fragend sah sie mit ihren schimmernden Kinderaugen in die unruhig funkelnden
der alten Demoiselle, und diese nickte gutmütig.

Hast schon Recht, Kind. Die Welt ist bös heutzutage, und mancher, der sie
für gut gehalten hat, muß es spüren. Ich Verrath auch uicht, das mit dem Fred,
er wirds vielleicht auch schon allen Leuten gesagt haben. Er ist nicht bange, und
seine Mutter haben die Damen hier nötig -- sonst würden sie sie niemals eines
Grußes würdigen.

Arrete konnte nicht fragen, was denn Frau Roland eigentlich getan hätte, sie
mußte noch ein Glas Limonade trinke", und die Demoiselle zeigte ihr Bilder und
erzählte Geschichten dazu. Sie handelten von alten Zeiten, und alle Menschen, die
darin vorkamen, waren tot und begraben. Oder auch nicht begraben; sondern
standen vielleicht irgendwo in einer dunkeln Ecke mit einem abgetragnen Rock am
Leibe und einer Pfeife im Munde.

Anneli konnte ihr Erlebnis doch noch nicht vergessen. Gedankenlos antwortete
sie auf die Fragen der alten Dame, die von ihrem Vater und ihrer Mutter wissen
wollte, und als Slina sie beim Weggehn noch zurückhielt, um ebenfalls etwas zu
fragen, da mußte sie ihre Worte mehrmals wiederholen, ehe Anneli sie verstand.

Onkel Aurelius? Ja, er ißt noch immer bei uus zu Mittag.

Kriege er denn da was ordentliches, und wie kommt es eigentlich, daß er
deine Tante du nennt?

Sie sind verwandt.

Als ob das wahr wär! Das glaub ich nicht, Kind. Abers so ist das in die
Welt. Die Manners sind immer da verwandt, wo es einen guten Braten gibt.
Ich sag es ja: sie taugen nix!

Slina hob den Arm und drohte zu den Fenstern des Kandidaten hinüber.
Wenn ich einen Mann hätt, setzte sie grollend hinzu, er sollt mal sehen!

Aber Anneli nahm eilig Abschied und freute sich, als sie wieder in ihrem
kleinen Raum neben dem des Onkels saß. Sie war doch nicht so frisch wie sonst,
'/''d das Erlebnis beschäftigte noch immer ihre Gedanken. Wenn sie die Augen
schloß, sah sie das tote Kind mit den offnen Augen vor sich und dann das andre
mit dem geneigten Köpfchen, und sie sehnte sich danach, jemand zu fragen, was
Doktor Sudeck eigentlich mit ihnen eingefangen hätte, und ob die armen Kleinen
nun keine Engel wären mit weißen Flügeln, wie sie selbst einer zu werden hoffte.
Aber wen sollte sie fragen? Tante Fritze war ja nicht mehr so schlimm, Onkel
Aurelius war besser, als sie gedacht hatte, und Onkel Willi saß so still und fleißig
über seinen Büchern und Schreibereien, daß man ihn schon deswegen achten mußte.
Aber fragen konnte sie doch keinen dieser Menschen.

Acht Tage waren hingegangen, und die Stadt sprach von andern Dingen.
Auf dem See war ein Boot umgeschlagen, ein Jnsasse war ertrunken, und die
alten Peters am Markt hatten in der Gewerbelvtterie ein Pianoforte gewonnen.
Ein Gewinn dieser Lotterie war noch nie in die Stadt gefallen, und daß er zu
den alten Peters kam, die "och niemals Klavier gespielt hatten, war eine Laune
des Schicksals. Herr Peters war ehemals Schornsteinfegermeister gewesen. Jetzt
ruhte er von der Arbeit und hatte mit seiner Frau die goldne Hochzeit gefeiert.
Sein Haus am Marktplatz war das älteste in der Stadt, und der Bürgermeister,
der viel vom Abbrechen alter Häuser hielt, hätte es gern niederreißen lassen. Aber
der alte Peters erklärte, daß er lieber in den engsten Schornstein der Stadt kröche,
als daß er sein Haus verkaufte und abreißen ließe. Die andern Bürger gaben
ihm Recht, sie meinten, ein altes Haus wäre behaglicher als ein neues, und wenn
sich der Bürgermeister ärgerte, so schadete es nichts.

Ob der Bürgermeister wirklich ärgerlich war, verriet er nicht; wahrscheinlich
hatte er den Verdruß zu deu übrigen gelegt, den ein Stadtvater hin und wieder


Grenzboten II 1906 14
Menschenfrühling

ins Gefängnis kommt, oder wenn seine Mutter nicht mehr die Hüte für die Frau
Bürgermeisterin machen darf, was dann?

Fragend sah sie mit ihren schimmernden Kinderaugen in die unruhig funkelnden
der alten Demoiselle, und diese nickte gutmütig.

Hast schon Recht, Kind. Die Welt ist bös heutzutage, und mancher, der sie
für gut gehalten hat, muß es spüren. Ich Verrath auch uicht, das mit dem Fred,
er wirds vielleicht auch schon allen Leuten gesagt haben. Er ist nicht bange, und
seine Mutter haben die Damen hier nötig — sonst würden sie sie niemals eines
Grußes würdigen.

Arrete konnte nicht fragen, was denn Frau Roland eigentlich getan hätte, sie
mußte noch ein Glas Limonade trinke», und die Demoiselle zeigte ihr Bilder und
erzählte Geschichten dazu. Sie handelten von alten Zeiten, und alle Menschen, die
darin vorkamen, waren tot und begraben. Oder auch nicht begraben; sondern
standen vielleicht irgendwo in einer dunkeln Ecke mit einem abgetragnen Rock am
Leibe und einer Pfeife im Munde.

Anneli konnte ihr Erlebnis doch noch nicht vergessen. Gedankenlos antwortete
sie auf die Fragen der alten Dame, die von ihrem Vater und ihrer Mutter wissen
wollte, und als Slina sie beim Weggehn noch zurückhielt, um ebenfalls etwas zu
fragen, da mußte sie ihre Worte mehrmals wiederholen, ehe Anneli sie verstand.

Onkel Aurelius? Ja, er ißt noch immer bei uus zu Mittag.

Kriege er denn da was ordentliches, und wie kommt es eigentlich, daß er
deine Tante du nennt?

Sie sind verwandt.

Als ob das wahr wär! Das glaub ich nicht, Kind. Abers so ist das in die
Welt. Die Manners sind immer da verwandt, wo es einen guten Braten gibt.
Ich sag es ja: sie taugen nix!

Slina hob den Arm und drohte zu den Fenstern des Kandidaten hinüber.
Wenn ich einen Mann hätt, setzte sie grollend hinzu, er sollt mal sehen!

Aber Anneli nahm eilig Abschied und freute sich, als sie wieder in ihrem
kleinen Raum neben dem des Onkels saß. Sie war doch nicht so frisch wie sonst,
'/''d das Erlebnis beschäftigte noch immer ihre Gedanken. Wenn sie die Augen
schloß, sah sie das tote Kind mit den offnen Augen vor sich und dann das andre
mit dem geneigten Köpfchen, und sie sehnte sich danach, jemand zu fragen, was
Doktor Sudeck eigentlich mit ihnen eingefangen hätte, und ob die armen Kleinen
nun keine Engel wären mit weißen Flügeln, wie sie selbst einer zu werden hoffte.
Aber wen sollte sie fragen? Tante Fritze war ja nicht mehr so schlimm, Onkel
Aurelius war besser, als sie gedacht hatte, und Onkel Willi saß so still und fleißig
über seinen Büchern und Schreibereien, daß man ihn schon deswegen achten mußte.
Aber fragen konnte sie doch keinen dieser Menschen.

Acht Tage waren hingegangen, und die Stadt sprach von andern Dingen.
Auf dem See war ein Boot umgeschlagen, ein Jnsasse war ertrunken, und die
alten Peters am Markt hatten in der Gewerbelvtterie ein Pianoforte gewonnen.
Ein Gewinn dieser Lotterie war noch nie in die Stadt gefallen, und daß er zu
den alten Peters kam, die »och niemals Klavier gespielt hatten, war eine Laune
des Schicksals. Herr Peters war ehemals Schornsteinfegermeister gewesen. Jetzt
ruhte er von der Arbeit und hatte mit seiner Frau die goldne Hochzeit gefeiert.
Sein Haus am Marktplatz war das älteste in der Stadt, und der Bürgermeister,
der viel vom Abbrechen alter Häuser hielt, hätte es gern niederreißen lassen. Aber
der alte Peters erklärte, daß er lieber in den engsten Schornstein der Stadt kröche,
als daß er sein Haus verkaufte und abreißen ließe. Die andern Bürger gaben
ihm Recht, sie meinten, ein altes Haus wäre behaglicher als ein neues, und wenn
sich der Bürgermeister ärgerte, so schadete es nichts.

Ob der Bürgermeister wirklich ärgerlich war, verriet er nicht; wahrscheinlich
hatte er den Verdruß zu deu übrigen gelegt, den ein Stadtvater hin und wieder


Grenzboten II 1906 14
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[0115] Menschenfrühling ins Gefängnis kommt, oder wenn seine Mutter nicht mehr die Hüte für die Frau Bürgermeisterin machen darf, was dann? Fragend sah sie mit ihren schimmernden Kinderaugen in die unruhig funkelnden der alten Demoiselle, und diese nickte gutmütig. Hast schon Recht, Kind. Die Welt ist bös heutzutage, und mancher, der sie für gut gehalten hat, muß es spüren. Ich Verrath auch uicht, das mit dem Fred, er wirds vielleicht auch schon allen Leuten gesagt haben. Er ist nicht bange, und seine Mutter haben die Damen hier nötig — sonst würden sie sie niemals eines Grußes würdigen. Arrete konnte nicht fragen, was denn Frau Roland eigentlich getan hätte, sie mußte noch ein Glas Limonade trinke», und die Demoiselle zeigte ihr Bilder und erzählte Geschichten dazu. Sie handelten von alten Zeiten, und alle Menschen, die darin vorkamen, waren tot und begraben. Oder auch nicht begraben; sondern standen vielleicht irgendwo in einer dunkeln Ecke mit einem abgetragnen Rock am Leibe und einer Pfeife im Munde. Anneli konnte ihr Erlebnis doch noch nicht vergessen. Gedankenlos antwortete sie auf die Fragen der alten Dame, die von ihrem Vater und ihrer Mutter wissen wollte, und als Slina sie beim Weggehn noch zurückhielt, um ebenfalls etwas zu fragen, da mußte sie ihre Worte mehrmals wiederholen, ehe Anneli sie verstand. Onkel Aurelius? Ja, er ißt noch immer bei uus zu Mittag. Kriege er denn da was ordentliches, und wie kommt es eigentlich, daß er deine Tante du nennt? Sie sind verwandt. Als ob das wahr wär! Das glaub ich nicht, Kind. Abers so ist das in die Welt. Die Manners sind immer da verwandt, wo es einen guten Braten gibt. Ich sag es ja: sie taugen nix! Slina hob den Arm und drohte zu den Fenstern des Kandidaten hinüber. Wenn ich einen Mann hätt, setzte sie grollend hinzu, er sollt mal sehen! Aber Anneli nahm eilig Abschied und freute sich, als sie wieder in ihrem kleinen Raum neben dem des Onkels saß. Sie war doch nicht so frisch wie sonst, '/''d das Erlebnis beschäftigte noch immer ihre Gedanken. Wenn sie die Augen schloß, sah sie das tote Kind mit den offnen Augen vor sich und dann das andre mit dem geneigten Köpfchen, und sie sehnte sich danach, jemand zu fragen, was Doktor Sudeck eigentlich mit ihnen eingefangen hätte, und ob die armen Kleinen nun keine Engel wären mit weißen Flügeln, wie sie selbst einer zu werden hoffte. Aber wen sollte sie fragen? Tante Fritze war ja nicht mehr so schlimm, Onkel Aurelius war besser, als sie gedacht hatte, und Onkel Willi saß so still und fleißig über seinen Büchern und Schreibereien, daß man ihn schon deswegen achten mußte. Aber fragen konnte sie doch keinen dieser Menschen. Acht Tage waren hingegangen, und die Stadt sprach von andern Dingen. Auf dem See war ein Boot umgeschlagen, ein Jnsasse war ertrunken, und die alten Peters am Markt hatten in der Gewerbelvtterie ein Pianoforte gewonnen. Ein Gewinn dieser Lotterie war noch nie in die Stadt gefallen, und daß er zu den alten Peters kam, die »och niemals Klavier gespielt hatten, war eine Laune des Schicksals. Herr Peters war ehemals Schornsteinfegermeister gewesen. Jetzt ruhte er von der Arbeit und hatte mit seiner Frau die goldne Hochzeit gefeiert. Sein Haus am Marktplatz war das älteste in der Stadt, und der Bürgermeister, der viel vom Abbrechen alter Häuser hielt, hätte es gern niederreißen lassen. Aber der alte Peters erklärte, daß er lieber in den engsten Schornstein der Stadt kröche, als daß er sein Haus verkaufte und abreißen ließe. Die andern Bürger gaben ihm Recht, sie meinten, ein altes Haus wäre behaglicher als ein neues, und wenn sich der Bürgermeister ärgerte, so schadete es nichts. Ob der Bürgermeister wirklich ärgerlich war, verriet er nicht; wahrscheinlich hatte er den Verdruß zu deu übrigen gelegt, den ein Stadtvater hin und wieder Grenzboten II 1906 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/115>, abgerufen am 27.12.2024.