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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Herrenmenschen

Man überzeugte sich, daß auf dem Damme hinter dem Bootsschuppen ein
dichter Haufen von Menschen stand. Jetzt war anch Päsch mit seinen Geschichten
nicht mehr imstande, seine jungen Zuhörer zu fesseln. Sie machten sich auf und
steuerten schräg dem Wind entgegen der Rettungsstation zu. Ihnen folgten die
beiden Maler, Herr von Kügelchen und Päsch.

Von der See her rollte eine Woge nach der andern mit gesträubtem Haar
heran, erhob sich zornig und brach, Schaum und Wasser weit das Ufer hinauf
werfend, in sich zusammen. Die Luft war von einem unablässigen donnernden
Brausen erfüllt, und der Wind pfiff seine wildesten Melodien.

Zu sehen war auf See weiter nichts als Wogenreihen, die aus der dicken
Luft auftauchten und am Ufer brandeten. Als man sich nicht ohne Mühe durch
den Wind bis zum Bootsschnppen hindurchgearbeitet hatte, fand man, daß das
Rettungsboot auf seinem Wagen zur Ausfahrt bereit stand. Auch ein paar Fischer
saßen hier und da herum und rauchten ihre Pfeifen, Dnllies aber, der Führer des
Rettungsboots, fehlte. Er sei ins Dorf gegangen, um Pferde zu holen, wurde
berichtet. Man wartete, aber es kamen weder Pferde noch Dullies. Der männliche
Teil der Badegäste drängte sich heran, besah alles und erörterte alle denkbaren
und undenkbaren Möglichkeiten. Oben auf dem Damme standen Tapnicker Fischer-
srauen und sahen, in ihre Mäntel gewickelt und sich gegen den Sturm stemmend,
stumm und besorgt ins Weite. Daß draußen vor der steinigen Platte ein Schiff
sitze, war gewiß, aber es war ungewiß, was für ein Schiff es sei.

Da erklang vom Damme herab Geschrei. Das Wetter war unerwartet sichtig
geworden. Die Wolken waren auseinander gerissen, und die Sonne schaute mit
schnellem Blick über das Wasser, so scharf und neugierig, als liege ihr daran, vor
ihrem Untergange noch zu erfahren, welches Unheil man da unten hinter ihrem
Rücken angerichtet habe. Dunst und Dampf traten auseinander, und da lag auf der
steinigen Platte inmitten von weißem Schaum ein Schiff mit flatterndem Segel.
Oder war es eine Notflagge? In dem wechselnden Lichte von Sonnenschein und
Schatten sah es aus, als wenn das Schiff sich bewege und um Hilfe rufe. Die
Fischer hielten die Hände über die Augen und schauten unter ihren struppigen
Augenbrauen hinaus oder putzten die Gläser ihrer Fernrohre. Aber ehe sie noch
darüber einig geworden waren, ob das Schiff ein Fischerboot oder ein Memeler
Lastschiff sei, verschwand das Bild, und Wind und Meer sangen ohne Illustration
ihre alte Melodie weiter.

Währenddessen kam mit flatterndem Tuche eine Frau den Abhang herabgeeilt,
faßte einen der Fischer, der eben die Höhe hinaufstieg, beim Arme und redete
erregt auf ihn ein. Der Fischer wehrte die Frau ab und ließ sie steh", und sie
drohte hinter ihm her.

Das ist die Urrrte Beit, sagte Päsch. Die Urrrte Beit ist nämlich seit zwanzig
Jahren verrrrückt, und allemal, wenn Wind ist, fällt es ihrrr auf die Nerrrveu.

Was will sie deun? fragte Schwechting.

Sie will, daß das Rettungsboot ausfährt.

Aber erlauben Sie mal, sagte Herr von Kügelchen, mir scheint, daß diese Frau
äuferst vernünftig ist.

Mir auch, fügte Schwechting hinzu. Wo ist Dullies? Da draußen liegt ein
Schiff, und jetzt kann niemand mehr im Zweifel sein, wohin man zu fahren hat.
Päsch, holen Sie sogleich den Dullies! Er faßte Päsch am Arme und suchte ihn
in Bewegung zu bringen.

Errrlanben Sie, erwiderte Päsch gravitätisch und mit unsicherer Stimme.
Dieses ist nicht meine Angelegenheit. Über die Ausfahrt des Bootes befinden
derrr Herrrr Amtshauptmann.

So holen Sie den.

Päsch ging, aber es war nicht wahrscheinlich, daß er den Herrn Amtshaupt¬
mann rufen werde, denn er schlug eine Richtung ein, die zum Kurhaus führte.


Herrenmenschen

Man überzeugte sich, daß auf dem Damme hinter dem Bootsschuppen ein
dichter Haufen von Menschen stand. Jetzt war anch Päsch mit seinen Geschichten
nicht mehr imstande, seine jungen Zuhörer zu fesseln. Sie machten sich auf und
steuerten schräg dem Wind entgegen der Rettungsstation zu. Ihnen folgten die
beiden Maler, Herr von Kügelchen und Päsch.

Von der See her rollte eine Woge nach der andern mit gesträubtem Haar
heran, erhob sich zornig und brach, Schaum und Wasser weit das Ufer hinauf
werfend, in sich zusammen. Die Luft war von einem unablässigen donnernden
Brausen erfüllt, und der Wind pfiff seine wildesten Melodien.

Zu sehen war auf See weiter nichts als Wogenreihen, die aus der dicken
Luft auftauchten und am Ufer brandeten. Als man sich nicht ohne Mühe durch
den Wind bis zum Bootsschnppen hindurchgearbeitet hatte, fand man, daß das
Rettungsboot auf seinem Wagen zur Ausfahrt bereit stand. Auch ein paar Fischer
saßen hier und da herum und rauchten ihre Pfeifen, Dnllies aber, der Führer des
Rettungsboots, fehlte. Er sei ins Dorf gegangen, um Pferde zu holen, wurde
berichtet. Man wartete, aber es kamen weder Pferde noch Dullies. Der männliche
Teil der Badegäste drängte sich heran, besah alles und erörterte alle denkbaren
und undenkbaren Möglichkeiten. Oben auf dem Damme standen Tapnicker Fischer-
srauen und sahen, in ihre Mäntel gewickelt und sich gegen den Sturm stemmend,
stumm und besorgt ins Weite. Daß draußen vor der steinigen Platte ein Schiff
sitze, war gewiß, aber es war ungewiß, was für ein Schiff es sei.

Da erklang vom Damme herab Geschrei. Das Wetter war unerwartet sichtig
geworden. Die Wolken waren auseinander gerissen, und die Sonne schaute mit
schnellem Blick über das Wasser, so scharf und neugierig, als liege ihr daran, vor
ihrem Untergange noch zu erfahren, welches Unheil man da unten hinter ihrem
Rücken angerichtet habe. Dunst und Dampf traten auseinander, und da lag auf der
steinigen Platte inmitten von weißem Schaum ein Schiff mit flatterndem Segel.
Oder war es eine Notflagge? In dem wechselnden Lichte von Sonnenschein und
Schatten sah es aus, als wenn das Schiff sich bewege und um Hilfe rufe. Die
Fischer hielten die Hände über die Augen und schauten unter ihren struppigen
Augenbrauen hinaus oder putzten die Gläser ihrer Fernrohre. Aber ehe sie noch
darüber einig geworden waren, ob das Schiff ein Fischerboot oder ein Memeler
Lastschiff sei, verschwand das Bild, und Wind und Meer sangen ohne Illustration
ihre alte Melodie weiter.

Währenddessen kam mit flatterndem Tuche eine Frau den Abhang herabgeeilt,
faßte einen der Fischer, der eben die Höhe hinaufstieg, beim Arme und redete
erregt auf ihn ein. Der Fischer wehrte die Frau ab und ließ sie steh», und sie
drohte hinter ihm her.

Das ist die Urrrte Beit, sagte Päsch. Die Urrrte Beit ist nämlich seit zwanzig
Jahren verrrrückt, und allemal, wenn Wind ist, fällt es ihrrr auf die Nerrrveu.

Was will sie deun? fragte Schwechting.

Sie will, daß das Rettungsboot ausfährt.

Aber erlauben Sie mal, sagte Herr von Kügelchen, mir scheint, daß diese Frau
äuferst vernünftig ist.

Mir auch, fügte Schwechting hinzu. Wo ist Dullies? Da draußen liegt ein
Schiff, und jetzt kann niemand mehr im Zweifel sein, wohin man zu fahren hat.
Päsch, holen Sie sogleich den Dullies! Er faßte Päsch am Arme und suchte ihn
in Bewegung zu bringen.

Errrlanben Sie, erwiderte Päsch gravitätisch und mit unsicherer Stimme.
Dieses ist nicht meine Angelegenheit. Über die Ausfahrt des Bootes befinden
derrr Herrrr Amtshauptmann.

So holen Sie den.

Päsch ging, aber es war nicht wahrscheinlich, daß er den Herrn Amtshaupt¬
mann rufen werde, denn er schlug eine Richtung ein, die zum Kurhaus führte.


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[0687] Herrenmenschen Man überzeugte sich, daß auf dem Damme hinter dem Bootsschuppen ein dichter Haufen von Menschen stand. Jetzt war anch Päsch mit seinen Geschichten nicht mehr imstande, seine jungen Zuhörer zu fesseln. Sie machten sich auf und steuerten schräg dem Wind entgegen der Rettungsstation zu. Ihnen folgten die beiden Maler, Herr von Kügelchen und Päsch. Von der See her rollte eine Woge nach der andern mit gesträubtem Haar heran, erhob sich zornig und brach, Schaum und Wasser weit das Ufer hinauf werfend, in sich zusammen. Die Luft war von einem unablässigen donnernden Brausen erfüllt, und der Wind pfiff seine wildesten Melodien. Zu sehen war auf See weiter nichts als Wogenreihen, die aus der dicken Luft auftauchten und am Ufer brandeten. Als man sich nicht ohne Mühe durch den Wind bis zum Bootsschnppen hindurchgearbeitet hatte, fand man, daß das Rettungsboot auf seinem Wagen zur Ausfahrt bereit stand. Auch ein paar Fischer saßen hier und da herum und rauchten ihre Pfeifen, Dnllies aber, der Führer des Rettungsboots, fehlte. Er sei ins Dorf gegangen, um Pferde zu holen, wurde berichtet. Man wartete, aber es kamen weder Pferde noch Dullies. Der männliche Teil der Badegäste drängte sich heran, besah alles und erörterte alle denkbaren und undenkbaren Möglichkeiten. Oben auf dem Damme standen Tapnicker Fischer- srauen und sahen, in ihre Mäntel gewickelt und sich gegen den Sturm stemmend, stumm und besorgt ins Weite. Daß draußen vor der steinigen Platte ein Schiff sitze, war gewiß, aber es war ungewiß, was für ein Schiff es sei. Da erklang vom Damme herab Geschrei. Das Wetter war unerwartet sichtig geworden. Die Wolken waren auseinander gerissen, und die Sonne schaute mit schnellem Blick über das Wasser, so scharf und neugierig, als liege ihr daran, vor ihrem Untergange noch zu erfahren, welches Unheil man da unten hinter ihrem Rücken angerichtet habe. Dunst und Dampf traten auseinander, und da lag auf der steinigen Platte inmitten von weißem Schaum ein Schiff mit flatterndem Segel. Oder war es eine Notflagge? In dem wechselnden Lichte von Sonnenschein und Schatten sah es aus, als wenn das Schiff sich bewege und um Hilfe rufe. Die Fischer hielten die Hände über die Augen und schauten unter ihren struppigen Augenbrauen hinaus oder putzten die Gläser ihrer Fernrohre. Aber ehe sie noch darüber einig geworden waren, ob das Schiff ein Fischerboot oder ein Memeler Lastschiff sei, verschwand das Bild, und Wind und Meer sangen ohne Illustration ihre alte Melodie weiter. Währenddessen kam mit flatterndem Tuche eine Frau den Abhang herabgeeilt, faßte einen der Fischer, der eben die Höhe hinaufstieg, beim Arme und redete erregt auf ihn ein. Der Fischer wehrte die Frau ab und ließ sie steh», und sie drohte hinter ihm her. Das ist die Urrrte Beit, sagte Päsch. Die Urrrte Beit ist nämlich seit zwanzig Jahren verrrrückt, und allemal, wenn Wind ist, fällt es ihrrr auf die Nerrrveu. Was will sie deun? fragte Schwechting. Sie will, daß das Rettungsboot ausfährt. Aber erlauben Sie mal, sagte Herr von Kügelchen, mir scheint, daß diese Frau äuferst vernünftig ist. Mir auch, fügte Schwechting hinzu. Wo ist Dullies? Da draußen liegt ein Schiff, und jetzt kann niemand mehr im Zweifel sein, wohin man zu fahren hat. Päsch, holen Sie sogleich den Dullies! Er faßte Päsch am Arme und suchte ihn in Bewegung zu bringen. Errrlanben Sie, erwiderte Päsch gravitätisch und mit unsicherer Stimme. Dieses ist nicht meine Angelegenheit. Über die Ausfahrt des Bootes befinden derrr Herrrr Amtshauptmann. So holen Sie den. Päsch ging, aber es war nicht wahrscheinlich, daß er den Herrn Amtshaupt¬ mann rufen werde, denn er schlug eine Richtung ein, die zum Kurhaus führte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/687>, abgerufen am 22.12.2024.