Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Reichstag und Verfassung auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, ans die Schärfung des Urteils durch So einfach wie unter den französischen "konstitutionellen" Königen, deren Grenzöoten I 1905 S4
Reichstag und Verfassung auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, ans die Schärfung des Urteils durch So einfach wie unter den französischen „konstitutionellen" Königen, deren Grenzöoten I 1905 S4
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0649" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88127"/> <fw type="header" place="top"> Reichstag und Verfassung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2745" prev="#ID_2744"> auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, ans die Schärfung des Urteils durch<lb/> die Schule." Es sind seitdem über siebzehn Jahre ins Land gegangen, und<lb/> die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, eher hat es den Anschein, als ob es<lb/> noch schlimmer geworden sei. Der Fehler liegt aber gar nicht am Wahlrecht,<lb/> sondern an der Art, wie das Wählen in Szene gesetzt wird, also doch eigentlich<lb/> an den Wählern selbst. Ihre Mehrzahl ist sich gar nicht klar darüber, welche<lb/> Bedeutung jeder Wahlausfall haben kann, welches Recht und welche Pflicht<lb/> dabei dem einzelnen Bürger zukommt, die meisten scheinen der Meinung zu sein,<lb/> es handle sich darum, für oder gegen die Regierung zu stimmen, und wählen<lb/> deshalb, wenn sie gerade unzufrieden sind, oppositionell, womöglich sozialdemo¬<lb/> kratisch. Das hat aber in Deutschland gar keinen Zweck, weil man damit eine<lb/> Regierung nicht stürzen kann. Wir haben nicht die parlamentarische Staatsform<lb/> wie in Frankreich, von der Ludwig der Achtzehnte, das gepriesene Muster<lb/> eines streng verfassungsmäßigen Herrschers, zu sagen pflegte: „Nichts ist leichter<lb/> für mich, als verfassungsmüßig zu regieren. Ich frage meine Minister: Haben<lb/> Sie die Mehrheit in der Kammer? Sagen Sie ja, so gehe ich spazieren, sagen<lb/> Sie nein, so schicke ich Sie spazieren." Das ist allerdings eine sehr einfache<lb/> Regierungsweise, die freilich dahin geführt hat, daß die beiden Nachfolger des<lb/> Königs auch spazieren geschickt wurden. Hätte König Wilhelm von Preußen<lb/> so regieren wollen, so hätte Deutschland nie einen Bismarck gehabt, der wäre<lb/> sofort gestürzt worden und als bescheidner Minister a. D. gestorben. Vielleicht<lb/> säße aber jetzt noch der Bundestag in der Eschenheimer Gasse in Frankfurt,<lb/> oder Kaiser Franz Joseph Hütte seinen Gedanken von 1863, das Habsburgische<lb/> Kaisertum in Deutschland wieder aufzurichten, doch durchgesetzt, andrer politischer<lb/> Möglichkeiten gar nicht zu gedenken; unzweifelhaft Hütten wir aber nicht das<lb/> heutige Deutsche Reich, das über ein Menschenalter allen äußern und innern<lb/> Gefahren in sicherer Festigkeit widerstanden hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_2746" next="#ID_2747"> So einfach wie unter den französischen „konstitutionellen" Königen, deren<lb/> Regierungsweise ihr Land immer wieder der Revolution zuführte, regiert es<lb/> sich eben in Deutschand nicht, man kann es auch nicht wie in England machen,<lb/> wo einfach die vorhandne Mehrheit abgezählt und danach die Regierung ge¬<lb/> bildet wird. Das kann sich dieses Inselreich erlauben, dem es in seiner natür¬<lb/> lichen Festung beinahe gleichgiltig sein kann, ob es mit der halben Welt be¬<lb/> freundet oder mit der ganzen verfeindet ist, ob es zeitweilig seine Landmacht<lb/> verfallen lassen und seine Flotte vernachlässigen will, weil es das Versäumte<lb/> mit Geldopfern bisher immer wieder einzuholen vermocht hat. Das darf sich<lb/> Deutschland bei seiner Lage in der Mitte Europas alles nicht erlauben, es<lb/> muß, um Frieden zu haben und ihn vor allem dem Weltteil zu erhalten, seine<lb/> Wehrmacht zu Wasser und zu Lande ununterbrochen auf ihrer gebietenden Höhe<lb/> erhalten, es muß sich bestreben, womöglich mit allen seinen Nachbarn in einem<lb/> freundschaftlichen Verhältnis zu stehn, und darf sie nicht nach den mit den<lb/> Weltereignissen wechselnden Tagesmeinungen, die auch die parlamentarische<lb/> Mehrheit für sich zu haben Pflegen, durch unfreundliche Maßnahmen reizen.<lb/> So durfte sich Preußen 1863 nicht den aufrührerischen Polen zuliebe und<lb/> 1886 Deutschland nicht wegen des Battenbergers mit Rußland überwerfen,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzöoten I 1905 S4</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0649]
Reichstag und Verfassung
auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, ans die Schärfung des Urteils durch
die Schule." Es sind seitdem über siebzehn Jahre ins Land gegangen, und
die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, eher hat es den Anschein, als ob es
noch schlimmer geworden sei. Der Fehler liegt aber gar nicht am Wahlrecht,
sondern an der Art, wie das Wählen in Szene gesetzt wird, also doch eigentlich
an den Wählern selbst. Ihre Mehrzahl ist sich gar nicht klar darüber, welche
Bedeutung jeder Wahlausfall haben kann, welches Recht und welche Pflicht
dabei dem einzelnen Bürger zukommt, die meisten scheinen der Meinung zu sein,
es handle sich darum, für oder gegen die Regierung zu stimmen, und wählen
deshalb, wenn sie gerade unzufrieden sind, oppositionell, womöglich sozialdemo¬
kratisch. Das hat aber in Deutschland gar keinen Zweck, weil man damit eine
Regierung nicht stürzen kann. Wir haben nicht die parlamentarische Staatsform
wie in Frankreich, von der Ludwig der Achtzehnte, das gepriesene Muster
eines streng verfassungsmäßigen Herrschers, zu sagen pflegte: „Nichts ist leichter
für mich, als verfassungsmüßig zu regieren. Ich frage meine Minister: Haben
Sie die Mehrheit in der Kammer? Sagen Sie ja, so gehe ich spazieren, sagen
Sie nein, so schicke ich Sie spazieren." Das ist allerdings eine sehr einfache
Regierungsweise, die freilich dahin geführt hat, daß die beiden Nachfolger des
Königs auch spazieren geschickt wurden. Hätte König Wilhelm von Preußen
so regieren wollen, so hätte Deutschland nie einen Bismarck gehabt, der wäre
sofort gestürzt worden und als bescheidner Minister a. D. gestorben. Vielleicht
säße aber jetzt noch der Bundestag in der Eschenheimer Gasse in Frankfurt,
oder Kaiser Franz Joseph Hütte seinen Gedanken von 1863, das Habsburgische
Kaisertum in Deutschland wieder aufzurichten, doch durchgesetzt, andrer politischer
Möglichkeiten gar nicht zu gedenken; unzweifelhaft Hütten wir aber nicht das
heutige Deutsche Reich, das über ein Menschenalter allen äußern und innern
Gefahren in sicherer Festigkeit widerstanden hat.
So einfach wie unter den französischen „konstitutionellen" Königen, deren
Regierungsweise ihr Land immer wieder der Revolution zuführte, regiert es
sich eben in Deutschand nicht, man kann es auch nicht wie in England machen,
wo einfach die vorhandne Mehrheit abgezählt und danach die Regierung ge¬
bildet wird. Das kann sich dieses Inselreich erlauben, dem es in seiner natür¬
lichen Festung beinahe gleichgiltig sein kann, ob es mit der halben Welt be¬
freundet oder mit der ganzen verfeindet ist, ob es zeitweilig seine Landmacht
verfallen lassen und seine Flotte vernachlässigen will, weil es das Versäumte
mit Geldopfern bisher immer wieder einzuholen vermocht hat. Das darf sich
Deutschland bei seiner Lage in der Mitte Europas alles nicht erlauben, es
muß, um Frieden zu haben und ihn vor allem dem Weltteil zu erhalten, seine
Wehrmacht zu Wasser und zu Lande ununterbrochen auf ihrer gebietenden Höhe
erhalten, es muß sich bestreben, womöglich mit allen seinen Nachbarn in einem
freundschaftlichen Verhältnis zu stehn, und darf sie nicht nach den mit den
Weltereignissen wechselnden Tagesmeinungen, die auch die parlamentarische
Mehrheit für sich zu haben Pflegen, durch unfreundliche Maßnahmen reizen.
So durfte sich Preußen 1863 nicht den aufrührerischen Polen zuliebe und
1886 Deutschland nicht wegen des Battenbergers mit Rußland überwerfen,
Grenzöoten I 1905 S4
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |