Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Reichstag und Verfassung immer nur darauf an, daß ein Volk sein Wahlrecht gebrauchen lernt. Darüber Vorläufig werden wir uns mit dem Bestehenden zu behelfen suchen müssen, Reichstag und Verfassung immer nur darauf an, daß ein Volk sein Wahlrecht gebrauchen lernt. Darüber Vorläufig werden wir uns mit dem Bestehenden zu behelfen suchen müssen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0648" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88126"/> <fw type="header" place="top"> Reichstag und Verfassung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2743" prev="#ID_2742"> immer nur darauf an, daß ein Volk sein Wahlrecht gebrauchen lernt. Darüber<lb/> wird es oft, wie damals das preußische, erst durch politische Ereignisse belehrt,<lb/> es kann aber auch durch politische Erziehung dahin gebracht werden, es muß<lb/> vor allen Dingen Sinn und Wortlaut seiner Verfassung kennen, um danach<lb/> handeln und wählen zu können. Fürst Bismarck äußerte schon am 14. Februar 1885<lb/> über die Art, wie das Wahlgeschäft betrieben wird: „Aber es ist sehr leicht<lb/> möglich, daß die Art, wie das Wahlrecht heutzutage geübt und ausgebeutet<lb/> wird, ihm selbst mit der Zeit Schaden bringt. Ich würde es bedauern, denn<lb/> ich weiß nichts besseres an die Stelle desselben zu setzen augenblicklich; aber<lb/> ich werde gewiß auch nicht in der Notwendigkeit sein, mir den Kopf darüber<lb/> zu zerbrechen — er wird nur dann nicht mehr weh tun." Also Bismarck wußte<lb/> selbst nichts besseres an die Stelle des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu<lb/> setzen, und die nach ihm daran ändern wollten, haben mit ihren wenig taug¬<lb/> lichen Vorschlägen nur geringe Zustimmung gefunden. Das bedenkliche an<lb/> unserm Reichswahlrecht ist auch weniger sein französischer, der Mehrzahl der<lb/> Deutschen innerlich fremder Ursprung, als vielmehr seine Inbetriebsetzung nach<lb/> französischer Art, die dort schließlich zur Revolution geführt hat. Das ist nun<lb/> in Deutschland nicht zu befürchten. In unserm Volk ist nur die Vertretung<lb/> nach Berufen und Ständen hergebracht, die jetzige Art der Volksvertretung<lb/> liegt ihm eigentlich ebenso fern wie der republikanische Gedanke, beides ist ihm<lb/> erst durch die Renaissance und dnrch die Franzosen gekommen. Bis die poli¬<lb/> tische Einsicht, daß es richtiger ist, das allgemeine Wahlrecht nach deutscher<lb/> Art nach Berufen und Ständen statt in zum Teil recht willkürlich gebildete»<lb/> territorialen Kreisen auszuüben, so weit durchgedrungen ist, daß sie für eine<lb/> politische Unigestaltung des Wahlverfahrens als gereifte Unterlage dienen<lb/> könnte, dürfte freilich noch eine geraume Zeit verfließen, auch uns wird dann<lb/> der Kopf nicht mehr weh tun. Vielleicht wird es ohne irgendeine innere Er-<lb/> schütterung gar nicht dazu kommen, denn es haben recht viele Leute ein<lb/> Interesse daran, an den heutige» territorialen Wahlbezirken festzuhalten, in<lb/> denen sich leicht die Vertreter der wirklich vorhandnen, aber vielleicht nicht<lb/> gleichartigen Interessen bei den Wahlen gegenseitig annullieren und schließlich<lb/> eine durch geschickte Schlagworte eingefangne Mehrheit den Sieg davonträgt.<lb/> Wäre es sonst denkbar, daß alle fünf Mandate der deutschen Hansestädte in<lb/> sozialdemokratischen Händen sind, und außer Danzig alle größern deutschen<lb/> Seestädte keinen bürgerlichen Vertreter haben? Man könnte auch noch andre<lb/> ebenso schlagende Beispiele anführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2744" next="#ID_2745"> Vorläufig werden wir uns mit dem Bestehenden zu behelfen suchen müssen,<lb/> und es könnte auch gehn, wenn man nur ernstlich wollte. Auch Fürst Bis¬<lb/> marck war dieser Meinung, denn er erwiderte am 24. Januar 1887 im<lb/> preußischen Abgeordnetenhause dem Abgeordneten Windthorst, der sich rühmte,<lb/> er habe dieses Wahlgesetz ursprünglich nicht gebilligt: „Ich habe es ursprüng¬<lb/> lich gebilligt, ich habe es vorgeschlagen. Daß ich mir dabei von der Leicht¬<lb/> gläubigkeit vieler Wähler, von dem Ungeheuern Maße der Verlogenheit der<lb/> Wahlagitationen die richtige Vorstellung nicht gemacht habe, bringt mich noch<lb/> nicht auf den Irrtum, daß ich das deutsche Volk überschätzt hätte. Ich rechne</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0648]
Reichstag und Verfassung
immer nur darauf an, daß ein Volk sein Wahlrecht gebrauchen lernt. Darüber
wird es oft, wie damals das preußische, erst durch politische Ereignisse belehrt,
es kann aber auch durch politische Erziehung dahin gebracht werden, es muß
vor allen Dingen Sinn und Wortlaut seiner Verfassung kennen, um danach
handeln und wählen zu können. Fürst Bismarck äußerte schon am 14. Februar 1885
über die Art, wie das Wahlgeschäft betrieben wird: „Aber es ist sehr leicht
möglich, daß die Art, wie das Wahlrecht heutzutage geübt und ausgebeutet
wird, ihm selbst mit der Zeit Schaden bringt. Ich würde es bedauern, denn
ich weiß nichts besseres an die Stelle desselben zu setzen augenblicklich; aber
ich werde gewiß auch nicht in der Notwendigkeit sein, mir den Kopf darüber
zu zerbrechen — er wird nur dann nicht mehr weh tun." Also Bismarck wußte
selbst nichts besseres an die Stelle des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu
setzen, und die nach ihm daran ändern wollten, haben mit ihren wenig taug¬
lichen Vorschlägen nur geringe Zustimmung gefunden. Das bedenkliche an
unserm Reichswahlrecht ist auch weniger sein französischer, der Mehrzahl der
Deutschen innerlich fremder Ursprung, als vielmehr seine Inbetriebsetzung nach
französischer Art, die dort schließlich zur Revolution geführt hat. Das ist nun
in Deutschland nicht zu befürchten. In unserm Volk ist nur die Vertretung
nach Berufen und Ständen hergebracht, die jetzige Art der Volksvertretung
liegt ihm eigentlich ebenso fern wie der republikanische Gedanke, beides ist ihm
erst durch die Renaissance und dnrch die Franzosen gekommen. Bis die poli¬
tische Einsicht, daß es richtiger ist, das allgemeine Wahlrecht nach deutscher
Art nach Berufen und Ständen statt in zum Teil recht willkürlich gebildete»
territorialen Kreisen auszuüben, so weit durchgedrungen ist, daß sie für eine
politische Unigestaltung des Wahlverfahrens als gereifte Unterlage dienen
könnte, dürfte freilich noch eine geraume Zeit verfließen, auch uns wird dann
der Kopf nicht mehr weh tun. Vielleicht wird es ohne irgendeine innere Er-
schütterung gar nicht dazu kommen, denn es haben recht viele Leute ein
Interesse daran, an den heutige» territorialen Wahlbezirken festzuhalten, in
denen sich leicht die Vertreter der wirklich vorhandnen, aber vielleicht nicht
gleichartigen Interessen bei den Wahlen gegenseitig annullieren und schließlich
eine durch geschickte Schlagworte eingefangne Mehrheit den Sieg davonträgt.
Wäre es sonst denkbar, daß alle fünf Mandate der deutschen Hansestädte in
sozialdemokratischen Händen sind, und außer Danzig alle größern deutschen
Seestädte keinen bürgerlichen Vertreter haben? Man könnte auch noch andre
ebenso schlagende Beispiele anführen.
Vorläufig werden wir uns mit dem Bestehenden zu behelfen suchen müssen,
und es könnte auch gehn, wenn man nur ernstlich wollte. Auch Fürst Bis¬
marck war dieser Meinung, denn er erwiderte am 24. Januar 1887 im
preußischen Abgeordnetenhause dem Abgeordneten Windthorst, der sich rühmte,
er habe dieses Wahlgesetz ursprünglich nicht gebilligt: „Ich habe es ursprüng¬
lich gebilligt, ich habe es vorgeschlagen. Daß ich mir dabei von der Leicht¬
gläubigkeit vieler Wähler, von dem Ungeheuern Maße der Verlogenheit der
Wahlagitationen die richtige Vorstellung nicht gemacht habe, bringt mich noch
nicht auf den Irrtum, daß ich das deutsche Volk überschätzt hätte. Ich rechne
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