Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Beethovens Eroica die ganze Entwicklung richtet. Ein neues, selbständiges Thema, wie es die Ebenfalls von Anfang an fest beabsichtigt war der sogenannte Kumulus. Mit dem Kumulus, einer nicht schönen aber nun einmal gebräuchlich ge¬ Beethovens Eroica die ganze Entwicklung richtet. Ein neues, selbständiges Thema, wie es die Ebenfalls von Anfang an fest beabsichtigt war der sogenannte Kumulus. Mit dem Kumulus, einer nicht schönen aber nun einmal gebräuchlich ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0620" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88098"/> <fw type="header" place="top"> Beethovens Eroica</fw><lb/> <p xml:id="ID_2609" prev="#ID_2608"> die ganze Entwicklung richtet. Ein neues, selbständiges Thema, wie es die<lb/> E-Moll-Melodie darstellt, in die Durchführung einzuflechten, ist etwas ganz<lb/> außergewöhnliches. Als Vorbild könnte man wohl höchstens Haydns Abschieds¬<lb/> sinfonie anführen, wo in der Durchführung des ersten Satzes augenscheinlich<lb/> wie bei Beethoven der poetischen Idee wegen ein zum Gesamtcharakter ebenfalls<lb/> stark kontrastierendes neues Thema auftritt. Beethoven legt auf die E-Moll-<lb/> Melodie großes Gewicht, man hat mit Recht von ihr gesagt, sie bilde ideell<lb/> das zweite Thema des Satzes, den wichtigsten Gegensatz zum Hauptthema.<lb/> Mit ihrem ganz lyrischen Gepräge erreicht sie den stärksten Eindruck unter<lb/> allen Kontrastgliedern; man könnte sie dem Weib vergleichen, das den helden¬<lb/> mäßigen Mann in vollendeter Weise ergänzt. Um die Wirkung der Melodie<lb/> möglichst tief und eindringlich zu machen, gestaltete Beethoven in der voraus¬<lb/> gehenden kampfartigen Durchführung beim Fortschreiten der Arbeit die Rhythmen<lb/> immer erregter und wilder, die Dissonanzen immer schärfer und schneidender.<lb/> Er ging darin bis an die äußerste Grenze des Zulässigen. Die fürchterlich<lb/> aufprallende Dissonanz des nebeneinander liegenden o und t am Schluß ist<lb/> musikalischer Realismus, den nachzuahmen der Schwächling sich hüten soll, und<lb/> den auch Beethoven nicht überboten, kaum wiederholt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_2610"> Ebenfalls von Anfang an fest beabsichtigt war der sogenannte Kumulus.<lb/> Aus den Skizzen geht deutlich hervor, daß Beethoven, weil die Einführung<lb/> des Kumulus kurz nach der E-Moll-Episode nicht anging, bewogen wurde, zu<lb/> einer zweiten Durchführung auszuholen. Wir sehen hier wiederum, wie der<lb/> poetische Plan die musikalische Form bestimmt. Eine zweite Durchführung mit<lb/> einem abermaligen Höhepunkt ist etwas ganz außergewöhnliches. Sie bringt<lb/> es neben dem ungewöhnlich reichen Gedankenmaterial namentlich mit sich, daß<lb/> die Auffassung des ersten Satzes besondre Schwierigkeiten macht. Beethoven<lb/> scheint sich bewußt gewesen zu sein, daß solche Doppeldurchführung das Eben¬<lb/> maß zu zerstören, die Form zu zersprengen drohe, und ist in spätem Werken<lb/> nicht wieder darauf zurückgekommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2611" next="#ID_2612"> Mit dem Kumulus, einer nicht schönen aber nun einmal gebräuchlich ge¬<lb/> wordnen Bezeichnung, meint man die allen Gesetzen der Harmonie ins Gesicht<lb/> schlagende Stelle, wo das Horn das Hauptthema mit es A b intoniert,<lb/> während die Violinen noch auf b flüsternd tremolieren. Es ist nicht ver¬<lb/> wunderlich, daß man sie lange, sogar Richard Wagner noch, für einen Schreib¬<lb/> fehler angesehen hat. Ries berichtet dazu: „Bei der ersten Probe, die entsetz¬<lb/> lich war, wo der Hornist aber recht eintrat, stand ich neben Beethoven, und<lb/> im Glauben, es sei unrichtig, sagte ich: »der verdammte Hornist! kann der<lb/> nicht zählen? — es klingt ja infam falsch«! Ich glaube, ich war sehr nah<lb/> daran, eine Ohrfeige zu erhalten. Beethoven hat es mir lange nicht ver-<lb/> ziehn." Schon aus dieser Erzählung kann man schließen, daß Beethoven<lb/> großen Wert auf den Kumulus gelegt hat, und verschiedne sich auf ihn be¬<lb/> ziehende Skizzen geben die volle Bestätigung dafür. Unter ihnen findet sich sogar<lb/> ein Versuch, die Geigen ans ä tremolieren zu lassen, wodurch der Mißklang<lb/> noch schärfer geworden wäre. Die rein musikalisch unmögliche Stelle läßt sich<lb/> nur aus ihrer poetischen Idee erklären. Nur wenn sie ganz schön gespielt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0620]
Beethovens Eroica
die ganze Entwicklung richtet. Ein neues, selbständiges Thema, wie es die
E-Moll-Melodie darstellt, in die Durchführung einzuflechten, ist etwas ganz
außergewöhnliches. Als Vorbild könnte man wohl höchstens Haydns Abschieds¬
sinfonie anführen, wo in der Durchführung des ersten Satzes augenscheinlich
wie bei Beethoven der poetischen Idee wegen ein zum Gesamtcharakter ebenfalls
stark kontrastierendes neues Thema auftritt. Beethoven legt auf die E-Moll-
Melodie großes Gewicht, man hat mit Recht von ihr gesagt, sie bilde ideell
das zweite Thema des Satzes, den wichtigsten Gegensatz zum Hauptthema.
Mit ihrem ganz lyrischen Gepräge erreicht sie den stärksten Eindruck unter
allen Kontrastgliedern; man könnte sie dem Weib vergleichen, das den helden¬
mäßigen Mann in vollendeter Weise ergänzt. Um die Wirkung der Melodie
möglichst tief und eindringlich zu machen, gestaltete Beethoven in der voraus¬
gehenden kampfartigen Durchführung beim Fortschreiten der Arbeit die Rhythmen
immer erregter und wilder, die Dissonanzen immer schärfer und schneidender.
Er ging darin bis an die äußerste Grenze des Zulässigen. Die fürchterlich
aufprallende Dissonanz des nebeneinander liegenden o und t am Schluß ist
musikalischer Realismus, den nachzuahmen der Schwächling sich hüten soll, und
den auch Beethoven nicht überboten, kaum wiederholt hat.
Ebenfalls von Anfang an fest beabsichtigt war der sogenannte Kumulus.
Aus den Skizzen geht deutlich hervor, daß Beethoven, weil die Einführung
des Kumulus kurz nach der E-Moll-Episode nicht anging, bewogen wurde, zu
einer zweiten Durchführung auszuholen. Wir sehen hier wiederum, wie der
poetische Plan die musikalische Form bestimmt. Eine zweite Durchführung mit
einem abermaligen Höhepunkt ist etwas ganz außergewöhnliches. Sie bringt
es neben dem ungewöhnlich reichen Gedankenmaterial namentlich mit sich, daß
die Auffassung des ersten Satzes besondre Schwierigkeiten macht. Beethoven
scheint sich bewußt gewesen zu sein, daß solche Doppeldurchführung das Eben¬
maß zu zerstören, die Form zu zersprengen drohe, und ist in spätem Werken
nicht wieder darauf zurückgekommen.
Mit dem Kumulus, einer nicht schönen aber nun einmal gebräuchlich ge¬
wordnen Bezeichnung, meint man die allen Gesetzen der Harmonie ins Gesicht
schlagende Stelle, wo das Horn das Hauptthema mit es A b intoniert,
während die Violinen noch auf b flüsternd tremolieren. Es ist nicht ver¬
wunderlich, daß man sie lange, sogar Richard Wagner noch, für einen Schreib¬
fehler angesehen hat. Ries berichtet dazu: „Bei der ersten Probe, die entsetz¬
lich war, wo der Hornist aber recht eintrat, stand ich neben Beethoven, und
im Glauben, es sei unrichtig, sagte ich: »der verdammte Hornist! kann der
nicht zählen? — es klingt ja infam falsch«! Ich glaube, ich war sehr nah
daran, eine Ohrfeige zu erhalten. Beethoven hat es mir lange nicht ver-
ziehn." Schon aus dieser Erzählung kann man schließen, daß Beethoven
großen Wert auf den Kumulus gelegt hat, und verschiedne sich auf ihn be¬
ziehende Skizzen geben die volle Bestätigung dafür. Unter ihnen findet sich sogar
ein Versuch, die Geigen ans ä tremolieren zu lassen, wodurch der Mißklang
noch schärfer geworden wäre. Die rein musikalisch unmögliche Stelle läßt sich
nur aus ihrer poetischen Idee erklären. Nur wenn sie ganz schön gespielt
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