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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Jesuitenfrage und konfessionelle Polemik

Verfolgung zu klagen haben. In Österreich haben die interkonfessionellen
Gesetze der sechziger Jahre die letzten Beschränkungen weggeräumt, und nach¬
dem der Widerstand Tirols, das seine Glaubenseinheit wahren wollte, ge¬
brochen worden ist, werden neuen protestantischen Gemeindegründnngen und
Kirchenbauten auch keine tatsächlichen Hindernisse mehr bereitet. Wie es zur¬
zeit in Spanien steht, das übrigens eine Welt für sich und nur mit Vor¬
behalt zu Europa zu rechnen ist (Nußland gar nicht), vermag ich nicht zu
sagen. Dagegen gibt es im Deutschen Reiche drei Staaten: Sachsen, Braun¬
schweig und Mecklenburg, in denen die Ausübung der katholischen Religion
gesetzlichen Beschränkungen unterliegt. Wie diese Gesetze lauten, und wie sie
gehandhabt werden, wird kaum allen Lesern der Grenzboten bekannt sein,
denn von gewissen sehr merkwürdigen Vorfällen der letzten Jahre haben viele
konservative und viele liberale Zeitungen trotz ihrer eingebornen Geschwätzig¬
keit kein Sterbenswörtchen verraten, und als das Zentrum seinen Toleranz-
cmtrag einbrachte, stellten sich manche Redaktionen, als wüßten sie nichts, und
fragten, Verwunderung heuchelnd, was die Katholiken denn eigentlich wollten.
Wer, vielleicht als Jurist, sich über diese Vorkommnisse unterrichten möchte,
dem wird ja die Redaktion jedes beliebigen größern Zentrumsblattes die
Informationsquellen gern nachweisen. Braunschweig und Mecklenburg haben
sich durch die Toleranzverhandlungen im Reichstage zu einigen Milderungen
bewegen lassen.

Man klagt über katholische Proselytenmacherei. Ich bin neunzehn Jahre
römisch-katholischer Geistlicher gewesen, aber in dieser Zeit ist mir kein einziger
Fall vorgekommen, wo einer meiner Amtsbruder darauf ausgegangen wäre,
evangelische Christen ihrem Glauben abwendig zu machen. Dagegen habe
ich mich 1866 genötigt gesehen, gegen einen Pastor Beschwerde zu führen,
der im Lazarett unter den verwundeten katholischen Österreichern polemische
Trattätlein verteilte. Ju großen Städten gibt es immer romantisch gestimmte
Frauen, denen der katholische Gottesdienst gefällt, und andre Leute, es sind
wohl meistens in Mischehen lebende, denen aus andern Gründen ein Konfessions-
wcchsel wünschenswert erscheint. Nun weist zwar der katholische Geistliche solche
unbedingt zurück, die sich durch die sehr verbreitete Lüge haben verlocken lassen,
jeder Konvertit kriege fünfzig Taler, aber alle andern kann er natürlich nicht
abweisen (der als Bischof von Trier verstorbne Pelldram pflegte, als er
Propst in Berlin war, nur solche anzunehmen, die sich nach zweimaliger
Abweisung ein drittesmal einstellten), und so kommt es denn in den Gro߬
städten leicht zu einem regelmäßigen Konvertitenunterricht, aber natürlich nicht
bloß bei den katholischen Geistlichen. Im allgemeinen fallen diese Ver¬
schiebungen zuungunsten der Katholiken aus. Für das Königreich Sachsen
hat das der Verfasser der saxonica im 49. vorjährigen Heft der Grenz¬
boten Seite 541 zugegeben, und für Braunschweig beweist es die jüngst er¬
schienene amtliche Statistik. Nach einer statistischen Untersuchung des Jesuiten-
Paters Krose ergibt sich für das Deutsche Reich folgendes. Unter tausend

Seelen waren

I8?i 1900
evangelisch .... 623 62S
katholisch..... 362 360

Jesuitenfrage und konfessionelle Polemik

Verfolgung zu klagen haben. In Österreich haben die interkonfessionellen
Gesetze der sechziger Jahre die letzten Beschränkungen weggeräumt, und nach¬
dem der Widerstand Tirols, das seine Glaubenseinheit wahren wollte, ge¬
brochen worden ist, werden neuen protestantischen Gemeindegründnngen und
Kirchenbauten auch keine tatsächlichen Hindernisse mehr bereitet. Wie es zur¬
zeit in Spanien steht, das übrigens eine Welt für sich und nur mit Vor¬
behalt zu Europa zu rechnen ist (Nußland gar nicht), vermag ich nicht zu
sagen. Dagegen gibt es im Deutschen Reiche drei Staaten: Sachsen, Braun¬
schweig und Mecklenburg, in denen die Ausübung der katholischen Religion
gesetzlichen Beschränkungen unterliegt. Wie diese Gesetze lauten, und wie sie
gehandhabt werden, wird kaum allen Lesern der Grenzboten bekannt sein,
denn von gewissen sehr merkwürdigen Vorfällen der letzten Jahre haben viele
konservative und viele liberale Zeitungen trotz ihrer eingebornen Geschwätzig¬
keit kein Sterbenswörtchen verraten, und als das Zentrum seinen Toleranz-
cmtrag einbrachte, stellten sich manche Redaktionen, als wüßten sie nichts, und
fragten, Verwunderung heuchelnd, was die Katholiken denn eigentlich wollten.
Wer, vielleicht als Jurist, sich über diese Vorkommnisse unterrichten möchte,
dem wird ja die Redaktion jedes beliebigen größern Zentrumsblattes die
Informationsquellen gern nachweisen. Braunschweig und Mecklenburg haben
sich durch die Toleranzverhandlungen im Reichstage zu einigen Milderungen
bewegen lassen.

Man klagt über katholische Proselytenmacherei. Ich bin neunzehn Jahre
römisch-katholischer Geistlicher gewesen, aber in dieser Zeit ist mir kein einziger
Fall vorgekommen, wo einer meiner Amtsbruder darauf ausgegangen wäre,
evangelische Christen ihrem Glauben abwendig zu machen. Dagegen habe
ich mich 1866 genötigt gesehen, gegen einen Pastor Beschwerde zu führen,
der im Lazarett unter den verwundeten katholischen Österreichern polemische
Trattätlein verteilte. Ju großen Städten gibt es immer romantisch gestimmte
Frauen, denen der katholische Gottesdienst gefällt, und andre Leute, es sind
wohl meistens in Mischehen lebende, denen aus andern Gründen ein Konfessions-
wcchsel wünschenswert erscheint. Nun weist zwar der katholische Geistliche solche
unbedingt zurück, die sich durch die sehr verbreitete Lüge haben verlocken lassen,
jeder Konvertit kriege fünfzig Taler, aber alle andern kann er natürlich nicht
abweisen (der als Bischof von Trier verstorbne Pelldram pflegte, als er
Propst in Berlin war, nur solche anzunehmen, die sich nach zweimaliger
Abweisung ein drittesmal einstellten), und so kommt es denn in den Gro߬
städten leicht zu einem regelmäßigen Konvertitenunterricht, aber natürlich nicht
bloß bei den katholischen Geistlichen. Im allgemeinen fallen diese Ver¬
schiebungen zuungunsten der Katholiken aus. Für das Königreich Sachsen
hat das der Verfasser der saxonica im 49. vorjährigen Heft der Grenz¬
boten Seite 541 zugegeben, und für Braunschweig beweist es die jüngst er¬
schienene amtliche Statistik. Nach einer statistischen Untersuchung des Jesuiten-
Paters Krose ergibt sich für das Deutsche Reich folgendes. Unter tausend

Seelen waren

I8?i 1900
evangelisch .... 623 62S
katholisch..... 362 360

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[0595] Jesuitenfrage und konfessionelle Polemik Verfolgung zu klagen haben. In Österreich haben die interkonfessionellen Gesetze der sechziger Jahre die letzten Beschränkungen weggeräumt, und nach¬ dem der Widerstand Tirols, das seine Glaubenseinheit wahren wollte, ge¬ brochen worden ist, werden neuen protestantischen Gemeindegründnngen und Kirchenbauten auch keine tatsächlichen Hindernisse mehr bereitet. Wie es zur¬ zeit in Spanien steht, das übrigens eine Welt für sich und nur mit Vor¬ behalt zu Europa zu rechnen ist (Nußland gar nicht), vermag ich nicht zu sagen. Dagegen gibt es im Deutschen Reiche drei Staaten: Sachsen, Braun¬ schweig und Mecklenburg, in denen die Ausübung der katholischen Religion gesetzlichen Beschränkungen unterliegt. Wie diese Gesetze lauten, und wie sie gehandhabt werden, wird kaum allen Lesern der Grenzboten bekannt sein, denn von gewissen sehr merkwürdigen Vorfällen der letzten Jahre haben viele konservative und viele liberale Zeitungen trotz ihrer eingebornen Geschwätzig¬ keit kein Sterbenswörtchen verraten, und als das Zentrum seinen Toleranz- cmtrag einbrachte, stellten sich manche Redaktionen, als wüßten sie nichts, und fragten, Verwunderung heuchelnd, was die Katholiken denn eigentlich wollten. Wer, vielleicht als Jurist, sich über diese Vorkommnisse unterrichten möchte, dem wird ja die Redaktion jedes beliebigen größern Zentrumsblattes die Informationsquellen gern nachweisen. Braunschweig und Mecklenburg haben sich durch die Toleranzverhandlungen im Reichstage zu einigen Milderungen bewegen lassen. Man klagt über katholische Proselytenmacherei. Ich bin neunzehn Jahre römisch-katholischer Geistlicher gewesen, aber in dieser Zeit ist mir kein einziger Fall vorgekommen, wo einer meiner Amtsbruder darauf ausgegangen wäre, evangelische Christen ihrem Glauben abwendig zu machen. Dagegen habe ich mich 1866 genötigt gesehen, gegen einen Pastor Beschwerde zu führen, der im Lazarett unter den verwundeten katholischen Österreichern polemische Trattätlein verteilte. Ju großen Städten gibt es immer romantisch gestimmte Frauen, denen der katholische Gottesdienst gefällt, und andre Leute, es sind wohl meistens in Mischehen lebende, denen aus andern Gründen ein Konfessions- wcchsel wünschenswert erscheint. Nun weist zwar der katholische Geistliche solche unbedingt zurück, die sich durch die sehr verbreitete Lüge haben verlocken lassen, jeder Konvertit kriege fünfzig Taler, aber alle andern kann er natürlich nicht abweisen (der als Bischof von Trier verstorbne Pelldram pflegte, als er Propst in Berlin war, nur solche anzunehmen, die sich nach zweimaliger Abweisung ein drittesmal einstellten), und so kommt es denn in den Gro߬ städten leicht zu einem regelmäßigen Konvertitenunterricht, aber natürlich nicht bloß bei den katholischen Geistlichen. Im allgemeinen fallen diese Ver¬ schiebungen zuungunsten der Katholiken aus. Für das Königreich Sachsen hat das der Verfasser der saxonica im 49. vorjährigen Heft der Grenz¬ boten Seite 541 zugegeben, und für Braunschweig beweist es die jüngst er¬ schienene amtliche Statistik. Nach einer statistischen Untersuchung des Jesuiten- Paters Krose ergibt sich für das Deutsche Reich folgendes. Unter tausend Seelen waren I8?i 1900 evangelisch .... 623 62S katholisch..... 362 360

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/595>, abgerufen am 23.07.2024.