Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lommatzscher Pflege und das Geschlecht derer von Schleinitz

den Soldaten ihre Gewehre, zerbrachen dem Leutnant Bach den Säbel und zogen,
den gefangnen Offizier in der Mitte führend, mit Sensen, Heugabeln und Dresch¬
flegeln bewaffnet nach Schloß Schleinitz. Dort wird zuerst der Zehmensche Gerichts¬
verwalter Kohl so gemißhandelt, daß er am 23. in Meißen starb; dann schleppen
sie den adlichen Herrn selbst auf die steinerne Brücke heraus, bedrohen ihn mit dem
Tode und zwingen ihm das schriftliche Zugeständnis aller vorgelegten Forderungen
ob. Der folgende Tag, der 23. August, war der Schreckenstag für die Stadt
Meißen. Als am 20. August einige Bauern aus der Katzenhäuser Gegend zum
Verhör auf das Kreisamt gefordert worden waren, kamen statt der Geforderten
mehr als achtzig. Fünf davon wurden festgenommen und in der Fronfeste ge¬
fangen gesetzt. Ani ihre Kameraden zu befreien, erscheinen am 23. August zwei¬
tausend Bauern aus den um den Katzenberg herum liegenden Dörfern vor der
Stadt, sie finden aber das Lommatzscher Tor geschlossen. Eine Deputation wird
eingelassen und erklärt, wenn die fünf Gefangnen nicht aus der Fronfeste frei¬
gegeben würden, so würden sie die Herrenhäuser von Deutsch- und Wendischbora
zerstören. Da Meißen keine genügende militärische Besatzung hatte, und man auch
um das Schicksal der Porzellanfabrik besorgt war, ließ der Vertreter des ab¬
wesenden Kreishauptmanns von Weint tatsächlich die Gefangnen frei. Trotzdem
drangen einzelne Rotten der Bauern in die Stadt und fahndeten nach dem als
Gerichtsverwalter der genannten Dörfer verhaßten Bürgermeister Kcindler. Glücklicher¬
weise fanden sie ihn nicht und zogen schließlich wieder ab. Zu spät trafen am Abend
die ersten Truppen eines aus fünf Bataillonen Infanterie, acht Schwadronen
Kavallerie und zehn Kanonen gebildeten Korps in Meißen ein, das von einigen
besonnenen Kommissären unterstützt in den nächsten Tagen Streifzüge in die Um¬
gegend unternahm. Trotzdem geht der Aufruhr zunächst weiter. Am 25. August
erscheinen zweihundertfunfzig bewaffnete Untertanen vor dem alten Schleinihischen
Schlosse Hof, das damals dem Grafen von Rüdiger gehörte. Sie nötigen den
Grafen und seinen Gerichtshalter schaart in ihre Mitte und schließen um beide
einen engen Kreis. Den Eingang zum Schloßhof halten vierzig bis fünfzig "fremde
Kerle" besetzt, andre Schäre" bewaffneter Bauern lagern im Gebüsch hinter dem Ritter¬
gute. Auf die Frage des herrschaftlichen Gesindes, was die Bauern eigentlich hier
wollten, antworten diese "mit fröhlicher Wild und ungescheut: Hier schlachten wir
heute ein paar Schöpfe!" Unterdes wird schmort gezwungen, einen Revers zu
schreiben, worin Graf Rüdiger auf alle seiue Rechte verzichtet mit dem Schlußsätze,
"daß er sich alles dessen nicht aus Zwang, sondern aus gutem, freiem Willen und
sonderlicher Liebe zu seinen Untertanen begebe, auch von alledem nichts wieder an¬
nehmen wolle, wennschon der Landesherr es ihm anbote."

Man sieht aus diesen Berichten, wie wenig daran fehlte, daß sich damals die
Greuel der in Frankreich wiedererwachten Bagauda und Jacqnerie auch uach Sachsen
übertrugen. Glücklicherweise gelang es dem starken militärischen Aufgebot und den
vom Kurfürsten geschickten drei Kommissären, bis Ende August überall die Ordnung
wiederherzustellen, aber die Bauernfrage ist, wenngleich später durch die Not der
Napoleonischen Zeit zurückgedrängt, doch nicht wieder zur Ruhe gekommen, bis endlich
die sächsische Verfassung von 1831 auch dem Bauernstande die Ablösung der feudalen
Lasten und das Jahr 1848 die Aufhebung der Patrimonialgerichte bescherte. Während
der folgenden Jahrzehnte hat sich die Bauernschaft der Lommatzscher Pflege in
freiem Gebrauche ihrer Kraft zu großem Wohlstand emporgearbeitet. Der altein¬
gesessene Adel hat an diesem Aufschwung nur in ganz geringem Maße teilge¬
nommen; die alten Geschlechter sind fast ganz aus der Pflege verschwunden, auf
ihren Schlössern und Rittergütern sitzen jetzt ehemalige Stadtbürger und Bauern.
Aber neue Rechte legen auch neue Pflichten auf; andre fügt die rastlose Entwicklung
unsrer sozialen und industriellen Verhältnisse, die der einheimischen Landwirtschaft
nicht eben günstig ist, hinzu. Die behaglichen Zeitläufte, wo dem Bauern auf dem
Lommatzscher oder Meißner Markte alle Erzeugnisse des Bodens von begierigen


Grenzboten I 1905 74
Die Lommatzscher Pflege und das Geschlecht derer von Schleinitz

den Soldaten ihre Gewehre, zerbrachen dem Leutnant Bach den Säbel und zogen,
den gefangnen Offizier in der Mitte führend, mit Sensen, Heugabeln und Dresch¬
flegeln bewaffnet nach Schloß Schleinitz. Dort wird zuerst der Zehmensche Gerichts¬
verwalter Kohl so gemißhandelt, daß er am 23. in Meißen starb; dann schleppen
sie den adlichen Herrn selbst auf die steinerne Brücke heraus, bedrohen ihn mit dem
Tode und zwingen ihm das schriftliche Zugeständnis aller vorgelegten Forderungen
ob. Der folgende Tag, der 23. August, war der Schreckenstag für die Stadt
Meißen. Als am 20. August einige Bauern aus der Katzenhäuser Gegend zum
Verhör auf das Kreisamt gefordert worden waren, kamen statt der Geforderten
mehr als achtzig. Fünf davon wurden festgenommen und in der Fronfeste ge¬
fangen gesetzt. Ani ihre Kameraden zu befreien, erscheinen am 23. August zwei¬
tausend Bauern aus den um den Katzenberg herum liegenden Dörfern vor der
Stadt, sie finden aber das Lommatzscher Tor geschlossen. Eine Deputation wird
eingelassen und erklärt, wenn die fünf Gefangnen nicht aus der Fronfeste frei¬
gegeben würden, so würden sie die Herrenhäuser von Deutsch- und Wendischbora
zerstören. Da Meißen keine genügende militärische Besatzung hatte, und man auch
um das Schicksal der Porzellanfabrik besorgt war, ließ der Vertreter des ab¬
wesenden Kreishauptmanns von Weint tatsächlich die Gefangnen frei. Trotzdem
drangen einzelne Rotten der Bauern in die Stadt und fahndeten nach dem als
Gerichtsverwalter der genannten Dörfer verhaßten Bürgermeister Kcindler. Glücklicher¬
weise fanden sie ihn nicht und zogen schließlich wieder ab. Zu spät trafen am Abend
die ersten Truppen eines aus fünf Bataillonen Infanterie, acht Schwadronen
Kavallerie und zehn Kanonen gebildeten Korps in Meißen ein, das von einigen
besonnenen Kommissären unterstützt in den nächsten Tagen Streifzüge in die Um¬
gegend unternahm. Trotzdem geht der Aufruhr zunächst weiter. Am 25. August
erscheinen zweihundertfunfzig bewaffnete Untertanen vor dem alten Schleinihischen
Schlosse Hof, das damals dem Grafen von Rüdiger gehörte. Sie nötigen den
Grafen und seinen Gerichtshalter schaart in ihre Mitte und schließen um beide
einen engen Kreis. Den Eingang zum Schloßhof halten vierzig bis fünfzig „fremde
Kerle" besetzt, andre Schäre» bewaffneter Bauern lagern im Gebüsch hinter dem Ritter¬
gute. Auf die Frage des herrschaftlichen Gesindes, was die Bauern eigentlich hier
wollten, antworten diese „mit fröhlicher Wild und ungescheut: Hier schlachten wir
heute ein paar Schöpfe!" Unterdes wird schmort gezwungen, einen Revers zu
schreiben, worin Graf Rüdiger auf alle seiue Rechte verzichtet mit dem Schlußsätze,
„daß er sich alles dessen nicht aus Zwang, sondern aus gutem, freiem Willen und
sonderlicher Liebe zu seinen Untertanen begebe, auch von alledem nichts wieder an¬
nehmen wolle, wennschon der Landesherr es ihm anbote."

Man sieht aus diesen Berichten, wie wenig daran fehlte, daß sich damals die
Greuel der in Frankreich wiedererwachten Bagauda und Jacqnerie auch uach Sachsen
übertrugen. Glücklicherweise gelang es dem starken militärischen Aufgebot und den
vom Kurfürsten geschickten drei Kommissären, bis Ende August überall die Ordnung
wiederherzustellen, aber die Bauernfrage ist, wenngleich später durch die Not der
Napoleonischen Zeit zurückgedrängt, doch nicht wieder zur Ruhe gekommen, bis endlich
die sächsische Verfassung von 1831 auch dem Bauernstande die Ablösung der feudalen
Lasten und das Jahr 1848 die Aufhebung der Patrimonialgerichte bescherte. Während
der folgenden Jahrzehnte hat sich die Bauernschaft der Lommatzscher Pflege in
freiem Gebrauche ihrer Kraft zu großem Wohlstand emporgearbeitet. Der altein¬
gesessene Adel hat an diesem Aufschwung nur in ganz geringem Maße teilge¬
nommen; die alten Geschlechter sind fast ganz aus der Pflege verschwunden, auf
ihren Schlössern und Rittergütern sitzen jetzt ehemalige Stadtbürger und Bauern.
Aber neue Rechte legen auch neue Pflichten auf; andre fügt die rastlose Entwicklung
unsrer sozialen und industriellen Verhältnisse, die der einheimischen Landwirtschaft
nicht eben günstig ist, hinzu. Die behaglichen Zeitläufte, wo dem Bauern auf dem
Lommatzscher oder Meißner Markte alle Erzeugnisse des Bodens von begierigen


Grenzboten I 1905 74
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0569" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88047"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lommatzscher Pflege und das Geschlecht derer von Schleinitz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2442" prev="#ID_2441"> den Soldaten ihre Gewehre, zerbrachen dem Leutnant Bach den Säbel und zogen,<lb/>
den gefangnen Offizier in der Mitte führend, mit Sensen, Heugabeln und Dresch¬<lb/>
flegeln bewaffnet nach Schloß Schleinitz. Dort wird zuerst der Zehmensche Gerichts¬<lb/>
verwalter Kohl so gemißhandelt, daß er am 23. in Meißen starb; dann schleppen<lb/>
sie den adlichen Herrn selbst auf die steinerne Brücke heraus, bedrohen ihn mit dem<lb/>
Tode und zwingen ihm das schriftliche Zugeständnis aller vorgelegten Forderungen<lb/>
ob. Der folgende Tag, der 23. August, war der Schreckenstag für die Stadt<lb/>
Meißen. Als am 20. August einige Bauern aus der Katzenhäuser Gegend zum<lb/>
Verhör auf das Kreisamt gefordert worden waren, kamen statt der Geforderten<lb/>
mehr als achtzig. Fünf davon wurden festgenommen und in der Fronfeste ge¬<lb/>
fangen gesetzt. Ani ihre Kameraden zu befreien, erscheinen am 23. August zwei¬<lb/>
tausend Bauern aus den um den Katzenberg herum liegenden Dörfern vor der<lb/>
Stadt, sie finden aber das Lommatzscher Tor geschlossen. Eine Deputation wird<lb/>
eingelassen und erklärt, wenn die fünf Gefangnen nicht aus der Fronfeste frei¬<lb/>
gegeben würden, so würden sie die Herrenhäuser von Deutsch- und Wendischbora<lb/>
zerstören. Da Meißen keine genügende militärische Besatzung hatte, und man auch<lb/>
um das Schicksal der Porzellanfabrik besorgt war, ließ der Vertreter des ab¬<lb/>
wesenden Kreishauptmanns von Weint tatsächlich die Gefangnen frei. Trotzdem<lb/>
drangen einzelne Rotten der Bauern in die Stadt und fahndeten nach dem als<lb/>
Gerichtsverwalter der genannten Dörfer verhaßten Bürgermeister Kcindler. Glücklicher¬<lb/>
weise fanden sie ihn nicht und zogen schließlich wieder ab. Zu spät trafen am Abend<lb/>
die ersten Truppen eines aus fünf Bataillonen Infanterie, acht Schwadronen<lb/>
Kavallerie und zehn Kanonen gebildeten Korps in Meißen ein, das von einigen<lb/>
besonnenen Kommissären unterstützt in den nächsten Tagen Streifzüge in die Um¬<lb/>
gegend unternahm. Trotzdem geht der Aufruhr zunächst weiter. Am 25. August<lb/>
erscheinen zweihundertfunfzig bewaffnete Untertanen vor dem alten Schleinihischen<lb/>
Schlosse Hof, das damals dem Grafen von Rüdiger gehörte. Sie nötigen den<lb/>
Grafen und seinen Gerichtshalter schaart in ihre Mitte und schließen um beide<lb/>
einen engen Kreis. Den Eingang zum Schloßhof halten vierzig bis fünfzig &#x201E;fremde<lb/>
Kerle" besetzt, andre Schäre» bewaffneter Bauern lagern im Gebüsch hinter dem Ritter¬<lb/>
gute. Auf die Frage des herrschaftlichen Gesindes, was die Bauern eigentlich hier<lb/>
wollten, antworten diese &#x201E;mit fröhlicher Wild und ungescheut: Hier schlachten wir<lb/>
heute ein paar Schöpfe!" Unterdes wird schmort gezwungen, einen Revers zu<lb/>
schreiben, worin Graf Rüdiger auf alle seiue Rechte verzichtet mit dem Schlußsätze,<lb/>
&#x201E;daß er sich alles dessen nicht aus Zwang, sondern aus gutem, freiem Willen und<lb/>
sonderlicher Liebe zu seinen Untertanen begebe, auch von alledem nichts wieder an¬<lb/>
nehmen wolle, wennschon der Landesherr es ihm anbote."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2443" next="#ID_2444"> Man sieht aus diesen Berichten, wie wenig daran fehlte, daß sich damals die<lb/>
Greuel der in Frankreich wiedererwachten Bagauda und Jacqnerie auch uach Sachsen<lb/>
übertrugen. Glücklicherweise gelang es dem starken militärischen Aufgebot und den<lb/>
vom Kurfürsten geschickten drei Kommissären, bis Ende August überall die Ordnung<lb/>
wiederherzustellen, aber die Bauernfrage ist, wenngleich später durch die Not der<lb/>
Napoleonischen Zeit zurückgedrängt, doch nicht wieder zur Ruhe gekommen, bis endlich<lb/>
die sächsische Verfassung von 1831 auch dem Bauernstande die Ablösung der feudalen<lb/>
Lasten und das Jahr 1848 die Aufhebung der Patrimonialgerichte bescherte. Während<lb/>
der folgenden Jahrzehnte hat sich die Bauernschaft der Lommatzscher Pflege in<lb/>
freiem Gebrauche ihrer Kraft zu großem Wohlstand emporgearbeitet. Der altein¬<lb/>
gesessene Adel hat an diesem Aufschwung nur in ganz geringem Maße teilge¬<lb/>
nommen; die alten Geschlechter sind fast ganz aus der Pflege verschwunden, auf<lb/>
ihren Schlössern und Rittergütern sitzen jetzt ehemalige Stadtbürger und Bauern.<lb/>
Aber neue Rechte legen auch neue Pflichten auf; andre fügt die rastlose Entwicklung<lb/>
unsrer sozialen und industriellen Verhältnisse, die der einheimischen Landwirtschaft<lb/>
nicht eben günstig ist, hinzu. Die behaglichen Zeitläufte, wo dem Bauern auf dem<lb/>
Lommatzscher oder Meißner Markte alle Erzeugnisse des Bodens von begierigen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1905 74</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0569] Die Lommatzscher Pflege und das Geschlecht derer von Schleinitz den Soldaten ihre Gewehre, zerbrachen dem Leutnant Bach den Säbel und zogen, den gefangnen Offizier in der Mitte führend, mit Sensen, Heugabeln und Dresch¬ flegeln bewaffnet nach Schloß Schleinitz. Dort wird zuerst der Zehmensche Gerichts¬ verwalter Kohl so gemißhandelt, daß er am 23. in Meißen starb; dann schleppen sie den adlichen Herrn selbst auf die steinerne Brücke heraus, bedrohen ihn mit dem Tode und zwingen ihm das schriftliche Zugeständnis aller vorgelegten Forderungen ob. Der folgende Tag, der 23. August, war der Schreckenstag für die Stadt Meißen. Als am 20. August einige Bauern aus der Katzenhäuser Gegend zum Verhör auf das Kreisamt gefordert worden waren, kamen statt der Geforderten mehr als achtzig. Fünf davon wurden festgenommen und in der Fronfeste ge¬ fangen gesetzt. Ani ihre Kameraden zu befreien, erscheinen am 23. August zwei¬ tausend Bauern aus den um den Katzenberg herum liegenden Dörfern vor der Stadt, sie finden aber das Lommatzscher Tor geschlossen. Eine Deputation wird eingelassen und erklärt, wenn die fünf Gefangnen nicht aus der Fronfeste frei¬ gegeben würden, so würden sie die Herrenhäuser von Deutsch- und Wendischbora zerstören. Da Meißen keine genügende militärische Besatzung hatte, und man auch um das Schicksal der Porzellanfabrik besorgt war, ließ der Vertreter des ab¬ wesenden Kreishauptmanns von Weint tatsächlich die Gefangnen frei. Trotzdem drangen einzelne Rotten der Bauern in die Stadt und fahndeten nach dem als Gerichtsverwalter der genannten Dörfer verhaßten Bürgermeister Kcindler. Glücklicher¬ weise fanden sie ihn nicht und zogen schließlich wieder ab. Zu spät trafen am Abend die ersten Truppen eines aus fünf Bataillonen Infanterie, acht Schwadronen Kavallerie und zehn Kanonen gebildeten Korps in Meißen ein, das von einigen besonnenen Kommissären unterstützt in den nächsten Tagen Streifzüge in die Um¬ gegend unternahm. Trotzdem geht der Aufruhr zunächst weiter. Am 25. August erscheinen zweihundertfunfzig bewaffnete Untertanen vor dem alten Schleinihischen Schlosse Hof, das damals dem Grafen von Rüdiger gehörte. Sie nötigen den Grafen und seinen Gerichtshalter schaart in ihre Mitte und schließen um beide einen engen Kreis. Den Eingang zum Schloßhof halten vierzig bis fünfzig „fremde Kerle" besetzt, andre Schäre» bewaffneter Bauern lagern im Gebüsch hinter dem Ritter¬ gute. Auf die Frage des herrschaftlichen Gesindes, was die Bauern eigentlich hier wollten, antworten diese „mit fröhlicher Wild und ungescheut: Hier schlachten wir heute ein paar Schöpfe!" Unterdes wird schmort gezwungen, einen Revers zu schreiben, worin Graf Rüdiger auf alle seiue Rechte verzichtet mit dem Schlußsätze, „daß er sich alles dessen nicht aus Zwang, sondern aus gutem, freiem Willen und sonderlicher Liebe zu seinen Untertanen begebe, auch von alledem nichts wieder an¬ nehmen wolle, wennschon der Landesherr es ihm anbote." Man sieht aus diesen Berichten, wie wenig daran fehlte, daß sich damals die Greuel der in Frankreich wiedererwachten Bagauda und Jacqnerie auch uach Sachsen übertrugen. Glücklicherweise gelang es dem starken militärischen Aufgebot und den vom Kurfürsten geschickten drei Kommissären, bis Ende August überall die Ordnung wiederherzustellen, aber die Bauernfrage ist, wenngleich später durch die Not der Napoleonischen Zeit zurückgedrängt, doch nicht wieder zur Ruhe gekommen, bis endlich die sächsische Verfassung von 1831 auch dem Bauernstande die Ablösung der feudalen Lasten und das Jahr 1848 die Aufhebung der Patrimonialgerichte bescherte. Während der folgenden Jahrzehnte hat sich die Bauernschaft der Lommatzscher Pflege in freiem Gebrauche ihrer Kraft zu großem Wohlstand emporgearbeitet. Der altein¬ gesessene Adel hat an diesem Aufschwung nur in ganz geringem Maße teilge¬ nommen; die alten Geschlechter sind fast ganz aus der Pflege verschwunden, auf ihren Schlössern und Rittergütern sitzen jetzt ehemalige Stadtbürger und Bauern. Aber neue Rechte legen auch neue Pflichten auf; andre fügt die rastlose Entwicklung unsrer sozialen und industriellen Verhältnisse, die der einheimischen Landwirtschaft nicht eben günstig ist, hinzu. Die behaglichen Zeitläufte, wo dem Bauern auf dem Lommatzscher oder Meißner Markte alle Erzeugnisse des Bodens von begierigen Grenzboten I 1905 74

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/569
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/569>, abgerufen am 22.12.2024.