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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Bilder ans dem deutsch-französischen Kriege

von der einen müden Schulter auf die andre wandert. Das dumpfe Rollen der Ge¬
schütze und Protzen und der Marsch der Kanoniere, die ganz Hinte" in der Kolonne
kommen, machen jetzt eine ganz besondre Musik, Säbelscheiden, Karabiner, Satteltaschen,
Schmierbüchsen, und was sonst um Pferde und Geschütze baumelt, klingt darein.
Aber man hört auch aus dem tastenden Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde.
Was war das für ein Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefsitzender
Pfropfen aus voller Flasche gezogen würde. Es ist ein letzter Versuch des
Kompagniespaßmachers, dem Schlaf zu wehren. Wirksamer ist der unmutige Ruf,
dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarsch mehr als Vordermann von Leible; der
lange Kerl sieht heute in jedem Chausscebaum das Gespenst eines Franzosen, und
indem er sich zagend umsieht, tritt er mir die Hacken ab!

Auch der Mann mit gesunden Sinnen hat seine Visionen, wenn er so ins
Dunkel hineinschreitet und vergeblich die Augen erweitert, um Heller zu sehen.
Gerade das, sagt man, bewirkt, daß man Dinge sieht, die nicht sind. Doch davon
weiß ich nichts. Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem ersten endlosen
Marsch in die sternlose Nacht hinein das Dunkel immer tiefer sank, und es nun
aussah, als höbe sich das Land zu unsern beiden Seiten dem Himmel entgegen,
erst die Bäume, dann der Acker, und wir zögen dazwischen hin wie in einem tiefen
dunkeln Tal. Zuletzt aber war alles schwarz wie Sammet, nur selten huschte noch
ein dünnes Licht über die Bajonette hin. Ich fragte mich, war das der Wider¬
schein weit offner Augen, die sich Licht aus dem Dunkel erschauen wollen?

Der durchschnittliche Friedensmensch weiß gar nicht, was Schlaf für eine
Macht ist, er duselt in seinem weichen Bett so langsam hinüber und freut sich,
wie "Morpheus Arme" ihn ganz unmerklich umfangen. Wie sollte er es wissen,
da die rechte Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegossen hat? Welche
Macht der Schlaf über den Menschen hat, weiß nur der, dem Nächte ohne Schlaf
vergangen sind, sei es auf Posten, sei es auf dem Marsch; er dämmert zuletzt am
hellen Tage so hin, marschiert wie ein Automat, ohne klares Bewußtsein, und
schläft eine Sekunde nach dem Befehl "Ruhen!" im nächsten besten Straßengraben
wie ein Kohlensack. Der Tag ist ihm nur eine etwas hellere Dämmerung. Hunger
und Durst sogar gehn im Schlafbedürfnis vollkommen unter. Der Mensch mag
überhaupt nicht mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann
aus diesem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erweckst du nicht so leicht den
Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel dieses gliederlösenden, traumlosen
Schlummers hinabgesunken ist, und wenn ihm die Zeit dazu gegeben ist, wacht er
nach zwölf Stunden zwar auf, versinkt aber wieder tief und schläft, ob es Tag
oder Nacht sei, seine vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden ub. Daun aber
welche Frische, welches Behagen! Und nun neues Marschieren, neue Nachtwache,
zur Not Kämpfe, bis sich endlich wieder ein Quantum Blei in den Gliedern an¬
gesammelt hat, das von neuem niederzieht. Die Hauptsache dabei ist jedoch der
Kopf. Bleibt dieser klar, so ficht und marschiert der gesunde Soldat trotz der
bleiernen Müdigkeit, denn das Blei verflüssigt sich immer wieder und wird
lebendiges Quecksilber, sobald es ins Feuer geht. Man muß in solchen todmüden
Kolonnen marschiert sein, das Ganze eine große Gemeinschaft schweigender, die
nur mit Blicken, höchstens abgerissenen Worten und kleinen gegenseitigen Hilfe¬
leistungen oder Rücksichten miteinander sprechen, und man muß dann mit solchen
Kolonnen auch ins Feuer gegangen sein, daß man weiß, was für Kräfte im
Meuschen ruhen köunen. Das, denke ich mir, war zum Beispiel das Große in der
Leistung der Preußen bei Belle-Alliance.

i^? In den Ruhezeiten verliert der Schlaf von seiner Macht; er wird nicht gerade
abgesetzt, durchaus nicht, wird vielmehr ein guter Kamerad, der freundlich unser
Lager teilt; aber man schläft, wenn man will, besonders viel bei Tage, weil der
Tag langweilt, und sitzt dafür tief in die Nacht hinein am Feuer, stößt Scheite
hinein, daß die Funkengarben stieben, und erzählt sich Geschichten, aus denen eben-


Bilder ans dem deutsch-französischen Kriege

von der einen müden Schulter auf die andre wandert. Das dumpfe Rollen der Ge¬
schütze und Protzen und der Marsch der Kanoniere, die ganz Hinte» in der Kolonne
kommen, machen jetzt eine ganz besondre Musik, Säbelscheiden, Karabiner, Satteltaschen,
Schmierbüchsen, und was sonst um Pferde und Geschütze baumelt, klingt darein.
Aber man hört auch aus dem tastenden Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde.
Was war das für ein Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefsitzender
Pfropfen aus voller Flasche gezogen würde. Es ist ein letzter Versuch des
Kompagniespaßmachers, dem Schlaf zu wehren. Wirksamer ist der unmutige Ruf,
dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarsch mehr als Vordermann von Leible; der
lange Kerl sieht heute in jedem Chausscebaum das Gespenst eines Franzosen, und
indem er sich zagend umsieht, tritt er mir die Hacken ab!

Auch der Mann mit gesunden Sinnen hat seine Visionen, wenn er so ins
Dunkel hineinschreitet und vergeblich die Augen erweitert, um Heller zu sehen.
Gerade das, sagt man, bewirkt, daß man Dinge sieht, die nicht sind. Doch davon
weiß ich nichts. Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem ersten endlosen
Marsch in die sternlose Nacht hinein das Dunkel immer tiefer sank, und es nun
aussah, als höbe sich das Land zu unsern beiden Seiten dem Himmel entgegen,
erst die Bäume, dann der Acker, und wir zögen dazwischen hin wie in einem tiefen
dunkeln Tal. Zuletzt aber war alles schwarz wie Sammet, nur selten huschte noch
ein dünnes Licht über die Bajonette hin. Ich fragte mich, war das der Wider¬
schein weit offner Augen, die sich Licht aus dem Dunkel erschauen wollen?

Der durchschnittliche Friedensmensch weiß gar nicht, was Schlaf für eine
Macht ist, er duselt in seinem weichen Bett so langsam hinüber und freut sich,
wie „Morpheus Arme" ihn ganz unmerklich umfangen. Wie sollte er es wissen,
da die rechte Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegossen hat? Welche
Macht der Schlaf über den Menschen hat, weiß nur der, dem Nächte ohne Schlaf
vergangen sind, sei es auf Posten, sei es auf dem Marsch; er dämmert zuletzt am
hellen Tage so hin, marschiert wie ein Automat, ohne klares Bewußtsein, und
schläft eine Sekunde nach dem Befehl „Ruhen!" im nächsten besten Straßengraben
wie ein Kohlensack. Der Tag ist ihm nur eine etwas hellere Dämmerung. Hunger
und Durst sogar gehn im Schlafbedürfnis vollkommen unter. Der Mensch mag
überhaupt nicht mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann
aus diesem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erweckst du nicht so leicht den
Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel dieses gliederlösenden, traumlosen
Schlummers hinabgesunken ist, und wenn ihm die Zeit dazu gegeben ist, wacht er
nach zwölf Stunden zwar auf, versinkt aber wieder tief und schläft, ob es Tag
oder Nacht sei, seine vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden ub. Daun aber
welche Frische, welches Behagen! Und nun neues Marschieren, neue Nachtwache,
zur Not Kämpfe, bis sich endlich wieder ein Quantum Blei in den Gliedern an¬
gesammelt hat, das von neuem niederzieht. Die Hauptsache dabei ist jedoch der
Kopf. Bleibt dieser klar, so ficht und marschiert der gesunde Soldat trotz der
bleiernen Müdigkeit, denn das Blei verflüssigt sich immer wieder und wird
lebendiges Quecksilber, sobald es ins Feuer geht. Man muß in solchen todmüden
Kolonnen marschiert sein, das Ganze eine große Gemeinschaft schweigender, die
nur mit Blicken, höchstens abgerissenen Worten und kleinen gegenseitigen Hilfe¬
leistungen oder Rücksichten miteinander sprechen, und man muß dann mit solchen
Kolonnen auch ins Feuer gegangen sein, daß man weiß, was für Kräfte im
Meuschen ruhen köunen. Das, denke ich mir, war zum Beispiel das Große in der
Leistung der Preußen bei Belle-Alliance.

i^? In den Ruhezeiten verliert der Schlaf von seiner Macht; er wird nicht gerade
abgesetzt, durchaus nicht, wird vielmehr ein guter Kamerad, der freundlich unser
Lager teilt; aber man schläft, wenn man will, besonders viel bei Tage, weil der
Tag langweilt, und sitzt dafür tief in die Nacht hinein am Feuer, stößt Scheite
hinein, daß die Funkengarben stieben, und erzählt sich Geschichten, aus denen eben-


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[0052] Bilder ans dem deutsch-französischen Kriege von der einen müden Schulter auf die andre wandert. Das dumpfe Rollen der Ge¬ schütze und Protzen und der Marsch der Kanoniere, die ganz Hinte» in der Kolonne kommen, machen jetzt eine ganz besondre Musik, Säbelscheiden, Karabiner, Satteltaschen, Schmierbüchsen, und was sonst um Pferde und Geschütze baumelt, klingt darein. Aber man hört auch aus dem tastenden Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde. Was war das für ein Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefsitzender Pfropfen aus voller Flasche gezogen würde. Es ist ein letzter Versuch des Kompagniespaßmachers, dem Schlaf zu wehren. Wirksamer ist der unmutige Ruf, dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarsch mehr als Vordermann von Leible; der lange Kerl sieht heute in jedem Chausscebaum das Gespenst eines Franzosen, und indem er sich zagend umsieht, tritt er mir die Hacken ab! Auch der Mann mit gesunden Sinnen hat seine Visionen, wenn er so ins Dunkel hineinschreitet und vergeblich die Augen erweitert, um Heller zu sehen. Gerade das, sagt man, bewirkt, daß man Dinge sieht, die nicht sind. Doch davon weiß ich nichts. Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem ersten endlosen Marsch in die sternlose Nacht hinein das Dunkel immer tiefer sank, und es nun aussah, als höbe sich das Land zu unsern beiden Seiten dem Himmel entgegen, erst die Bäume, dann der Acker, und wir zögen dazwischen hin wie in einem tiefen dunkeln Tal. Zuletzt aber war alles schwarz wie Sammet, nur selten huschte noch ein dünnes Licht über die Bajonette hin. Ich fragte mich, war das der Wider¬ schein weit offner Augen, die sich Licht aus dem Dunkel erschauen wollen? Der durchschnittliche Friedensmensch weiß gar nicht, was Schlaf für eine Macht ist, er duselt in seinem weichen Bett so langsam hinüber und freut sich, wie „Morpheus Arme" ihn ganz unmerklich umfangen. Wie sollte er es wissen, da die rechte Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegossen hat? Welche Macht der Schlaf über den Menschen hat, weiß nur der, dem Nächte ohne Schlaf vergangen sind, sei es auf Posten, sei es auf dem Marsch; er dämmert zuletzt am hellen Tage so hin, marschiert wie ein Automat, ohne klares Bewußtsein, und schläft eine Sekunde nach dem Befehl „Ruhen!" im nächsten besten Straßengraben wie ein Kohlensack. Der Tag ist ihm nur eine etwas hellere Dämmerung. Hunger und Durst sogar gehn im Schlafbedürfnis vollkommen unter. Der Mensch mag überhaupt nicht mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann aus diesem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erweckst du nicht so leicht den Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel dieses gliederlösenden, traumlosen Schlummers hinabgesunken ist, und wenn ihm die Zeit dazu gegeben ist, wacht er nach zwölf Stunden zwar auf, versinkt aber wieder tief und schläft, ob es Tag oder Nacht sei, seine vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden ub. Daun aber welche Frische, welches Behagen! Und nun neues Marschieren, neue Nachtwache, zur Not Kämpfe, bis sich endlich wieder ein Quantum Blei in den Gliedern an¬ gesammelt hat, das von neuem niederzieht. Die Hauptsache dabei ist jedoch der Kopf. Bleibt dieser klar, so ficht und marschiert der gesunde Soldat trotz der bleiernen Müdigkeit, denn das Blei verflüssigt sich immer wieder und wird lebendiges Quecksilber, sobald es ins Feuer geht. Man muß in solchen todmüden Kolonnen marschiert sein, das Ganze eine große Gemeinschaft schweigender, die nur mit Blicken, höchstens abgerissenen Worten und kleinen gegenseitigen Hilfe¬ leistungen oder Rücksichten miteinander sprechen, und man muß dann mit solchen Kolonnen auch ins Feuer gegangen sein, daß man weiß, was für Kräfte im Meuschen ruhen köunen. Das, denke ich mir, war zum Beispiel das Große in der Leistung der Preußen bei Belle-Alliance. i^? In den Ruhezeiten verliert der Schlaf von seiner Macht; er wird nicht gerade abgesetzt, durchaus nicht, wird vielmehr ein guter Kamerad, der freundlich unser Lager teilt; aber man schläft, wenn man will, besonders viel bei Tage, weil der Tag langweilt, und sitzt dafür tief in die Nacht hinein am Feuer, stößt Scheite hinein, daß die Funkengarben stieben, und erzählt sich Geschichten, aus denen eben-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/52>, abgerufen am 22.12.2024.