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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Also darum hatte Ovale den Staatsanwalt gemordet? Er hatte sich in der
Persönlichkeit geirrt! Jan l'Grand hatte er für ihren Liebhaber gehalten. Auf
dem Blumenkorso mußte er Reue' gesehen und ihn mit Jan, den er nur in der
Verkleidung gekannt hatte, verwechselt haben. Hatte sie nicht auch die Ähnlichkeit
bei der ersten Begegnung gefoppt? Also trug sie die Schuld darau, daß Ovale
zum Mörder geworden war! Er hatte die kleine Schwester rächen wollen, deren
traurige Geschichte ihm wohl vom Portier des Volkshauses erzählt worden war.
Sie war schuld an Oomkes verbrecherischer Tat, wie durfte sie da dem armen
Vater noch in die Augen sehen?

Papa Toone stöhnte. Er sah mit wirrem Blick um sich, als erwache er aus
einem Traume.

Also kann ich mein altes Theater verkaufen und alle Marionetten, sagte er
vor sich hin, und in eine Stube ziehn und einsam den Tod erwarten. Ganz allein!

Fintje liefen die Tränen über das Gesicht. Aber sie getraute sich nicht, ihn
anzuflehn: Laß mich dir eine Tochter sein, laß mich versuchen, dir durch liebevolles
Sorgen ein wenig den Sohn zu ersetzen!

Wie hätte sie das gedurft, sie, die die Schuld an Oomkes Verbrechen trug?

Geräuschlos stand sie auf und schlich aus der Stube und die Treppe hinunter
auf die Straße.

Im Windengange standen viele Neugierige umher. Wie eine Verbrecherin
kam sich Fintje vor. Sie wunderte sich, daß die Leute nicht mit Fingern auf sie
zeigten und ihr häßliche Schimpfnamen gaben. Mühsam schleppte sie sich vor¬
wärts. Wenn ihr nicht die Zuflucht bei Mare Marie gewinkt hätte, die Lebensbürde
wäre ihren jungen Schultern jetzt wohl zu schwer geworden.


21

Zu den Gerichtsverhandlungen gegen den Attentäter des Staatsanwalts Jean
de Groot wurden viele Marolliens als Zeugen vorgeladen. Unter ihnen auch
Fintje. Jean de Groot, dem Oomkes Kugel nur eine ungefährliche Verletzung am
Oberarm zugefügt hatte, hatte sie zu sich bestellt in sein Privatzimmer, um unter
vier Augen mit ihr zu sprechen. Fintje getraute sich nicht, zu dem großen Staats¬
anwalt, der doch niemand anders war als Jan l'Grand, ihr einstiger Freund aus
dem Pouchenellekeller, die Augen aufzuheben, aber das Testamentbüchlein, das er
ihr geschenkt hatte, das hielt sie zwischen die kalten Finger geklemmt.

Da sprach er freundliche und beruhigende Worte zu ihr, unter denen alle
Scheu und Beklommenheit langsam von ihr wichen. Sogar Oomkes Angriff wußte
er in entschuldigenden Lichte hinzustellen. Er kannte ja des Puppenonkelchens
Leben und den Grund, der ihn zu dem Racheakt getrieben hatte.

Jeder Mensch hat das Recht, gegen seinen Feind zu kämpfen, nur muß er
die Waffe richtig wählen, und darin hat Ovale es versehen, sagte Jean de Groot.
Versteh mich recht, Fintje! Auch ich steh in den Reihen der Kämpfer, aber nicht
gegen euch Marolliens, sondern mit euch zusammen möchte ich Vorgehn gegen Un¬
recht und Ungerechtigkeit. Ich habe die Anklagen, die deine Großmutter gegen
die Gesetze und ihre Vertreter erhob, nicht vergessen. Ich weiß aber, daß wir
nicht mit Schießwaffen und bösen Worten für das Recht zu Felde ziehn dürfen,
sondern nur mit den Waffen, die in dem kleinen Buch, das du da in den Händen
hältst, verzeichnet stehn. Das sind die Gebote, die Christus, der größte aller Gesetz¬
geber, der Welt gegeben hat. Sieh, mit diesen Geboten sollten die Unzufriednen
des Quartier des Marolles ankämpfen Wider das Böse in ihnen und außer ihnen,
dann würden sie bald nicht mehr zum Justizpalast aufsehen wie zu einem drohenden
Schreckgespenst. Begreifst du das, Fintje? Und willst du versuchen, mir zu helfen
in diesem schweren Kampf wider das Böse?---

Da blickte Fintje schnell zu ihm auf. Glaubst du denn, ich könnte, ich dürfte
du, der du jetzt meine ganze Lebensgeschichte kennst -- glaubst du wirklich, ich
dürfte? fragten die schwarzen schimmernden Augen.


Im alten Brüssel

Also darum hatte Ovale den Staatsanwalt gemordet? Er hatte sich in der
Persönlichkeit geirrt! Jan l'Grand hatte er für ihren Liebhaber gehalten. Auf
dem Blumenkorso mußte er Reue' gesehen und ihn mit Jan, den er nur in der
Verkleidung gekannt hatte, verwechselt haben. Hatte sie nicht auch die Ähnlichkeit
bei der ersten Begegnung gefoppt? Also trug sie die Schuld darau, daß Ovale
zum Mörder geworden war! Er hatte die kleine Schwester rächen wollen, deren
traurige Geschichte ihm wohl vom Portier des Volkshauses erzählt worden war.
Sie war schuld an Oomkes verbrecherischer Tat, wie durfte sie da dem armen
Vater noch in die Augen sehen?

Papa Toone stöhnte. Er sah mit wirrem Blick um sich, als erwache er aus
einem Traume.

Also kann ich mein altes Theater verkaufen und alle Marionetten, sagte er
vor sich hin, und in eine Stube ziehn und einsam den Tod erwarten. Ganz allein!

Fintje liefen die Tränen über das Gesicht. Aber sie getraute sich nicht, ihn
anzuflehn: Laß mich dir eine Tochter sein, laß mich versuchen, dir durch liebevolles
Sorgen ein wenig den Sohn zu ersetzen!

Wie hätte sie das gedurft, sie, die die Schuld an Oomkes Verbrechen trug?

Geräuschlos stand sie auf und schlich aus der Stube und die Treppe hinunter
auf die Straße.

Im Windengange standen viele Neugierige umher. Wie eine Verbrecherin
kam sich Fintje vor. Sie wunderte sich, daß die Leute nicht mit Fingern auf sie
zeigten und ihr häßliche Schimpfnamen gaben. Mühsam schleppte sie sich vor¬
wärts. Wenn ihr nicht die Zuflucht bei Mare Marie gewinkt hätte, die Lebensbürde
wäre ihren jungen Schultern jetzt wohl zu schwer geworden.


21

Zu den Gerichtsverhandlungen gegen den Attentäter des Staatsanwalts Jean
de Groot wurden viele Marolliens als Zeugen vorgeladen. Unter ihnen auch
Fintje. Jean de Groot, dem Oomkes Kugel nur eine ungefährliche Verletzung am
Oberarm zugefügt hatte, hatte sie zu sich bestellt in sein Privatzimmer, um unter
vier Augen mit ihr zu sprechen. Fintje getraute sich nicht, zu dem großen Staats¬
anwalt, der doch niemand anders war als Jan l'Grand, ihr einstiger Freund aus
dem Pouchenellekeller, die Augen aufzuheben, aber das Testamentbüchlein, das er
ihr geschenkt hatte, das hielt sie zwischen die kalten Finger geklemmt.

Da sprach er freundliche und beruhigende Worte zu ihr, unter denen alle
Scheu und Beklommenheit langsam von ihr wichen. Sogar Oomkes Angriff wußte
er in entschuldigenden Lichte hinzustellen. Er kannte ja des Puppenonkelchens
Leben und den Grund, der ihn zu dem Racheakt getrieben hatte.

Jeder Mensch hat das Recht, gegen seinen Feind zu kämpfen, nur muß er
die Waffe richtig wählen, und darin hat Ovale es versehen, sagte Jean de Groot.
Versteh mich recht, Fintje! Auch ich steh in den Reihen der Kämpfer, aber nicht
gegen euch Marolliens, sondern mit euch zusammen möchte ich Vorgehn gegen Un¬
recht und Ungerechtigkeit. Ich habe die Anklagen, die deine Großmutter gegen
die Gesetze und ihre Vertreter erhob, nicht vergessen. Ich weiß aber, daß wir
nicht mit Schießwaffen und bösen Worten für das Recht zu Felde ziehn dürfen,
sondern nur mit den Waffen, die in dem kleinen Buch, das du da in den Händen
hältst, verzeichnet stehn. Das sind die Gebote, die Christus, der größte aller Gesetz¬
geber, der Welt gegeben hat. Sieh, mit diesen Geboten sollten die Unzufriednen
des Quartier des Marolles ankämpfen Wider das Böse in ihnen und außer ihnen,
dann würden sie bald nicht mehr zum Justizpalast aufsehen wie zu einem drohenden
Schreckgespenst. Begreifst du das, Fintje? Und willst du versuchen, mir zu helfen
in diesem schweren Kampf wider das Böse?—-

Da blickte Fintje schnell zu ihm auf. Glaubst du denn, ich könnte, ich dürfte
du, der du jetzt meine ganze Lebensgeschichte kennst — glaubst du wirklich, ich
dürfte? fragten die schwarzen schimmernden Augen.


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[0464] Im alten Brüssel Also darum hatte Ovale den Staatsanwalt gemordet? Er hatte sich in der Persönlichkeit geirrt! Jan l'Grand hatte er für ihren Liebhaber gehalten. Auf dem Blumenkorso mußte er Reue' gesehen und ihn mit Jan, den er nur in der Verkleidung gekannt hatte, verwechselt haben. Hatte sie nicht auch die Ähnlichkeit bei der ersten Begegnung gefoppt? Also trug sie die Schuld darau, daß Ovale zum Mörder geworden war! Er hatte die kleine Schwester rächen wollen, deren traurige Geschichte ihm wohl vom Portier des Volkshauses erzählt worden war. Sie war schuld an Oomkes verbrecherischer Tat, wie durfte sie da dem armen Vater noch in die Augen sehen? Papa Toone stöhnte. Er sah mit wirrem Blick um sich, als erwache er aus einem Traume. Also kann ich mein altes Theater verkaufen und alle Marionetten, sagte er vor sich hin, und in eine Stube ziehn und einsam den Tod erwarten. Ganz allein! Fintje liefen die Tränen über das Gesicht. Aber sie getraute sich nicht, ihn anzuflehn: Laß mich dir eine Tochter sein, laß mich versuchen, dir durch liebevolles Sorgen ein wenig den Sohn zu ersetzen! Wie hätte sie das gedurft, sie, die die Schuld an Oomkes Verbrechen trug? Geräuschlos stand sie auf und schlich aus der Stube und die Treppe hinunter auf die Straße. Im Windengange standen viele Neugierige umher. Wie eine Verbrecherin kam sich Fintje vor. Sie wunderte sich, daß die Leute nicht mit Fingern auf sie zeigten und ihr häßliche Schimpfnamen gaben. Mühsam schleppte sie sich vor¬ wärts. Wenn ihr nicht die Zuflucht bei Mare Marie gewinkt hätte, die Lebensbürde wäre ihren jungen Schultern jetzt wohl zu schwer geworden. 21 Zu den Gerichtsverhandlungen gegen den Attentäter des Staatsanwalts Jean de Groot wurden viele Marolliens als Zeugen vorgeladen. Unter ihnen auch Fintje. Jean de Groot, dem Oomkes Kugel nur eine ungefährliche Verletzung am Oberarm zugefügt hatte, hatte sie zu sich bestellt in sein Privatzimmer, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Fintje getraute sich nicht, zu dem großen Staats¬ anwalt, der doch niemand anders war als Jan l'Grand, ihr einstiger Freund aus dem Pouchenellekeller, die Augen aufzuheben, aber das Testamentbüchlein, das er ihr geschenkt hatte, das hielt sie zwischen die kalten Finger geklemmt. Da sprach er freundliche und beruhigende Worte zu ihr, unter denen alle Scheu und Beklommenheit langsam von ihr wichen. Sogar Oomkes Angriff wußte er in entschuldigenden Lichte hinzustellen. Er kannte ja des Puppenonkelchens Leben und den Grund, der ihn zu dem Racheakt getrieben hatte. Jeder Mensch hat das Recht, gegen seinen Feind zu kämpfen, nur muß er die Waffe richtig wählen, und darin hat Ovale es versehen, sagte Jean de Groot. Versteh mich recht, Fintje! Auch ich steh in den Reihen der Kämpfer, aber nicht gegen euch Marolliens, sondern mit euch zusammen möchte ich Vorgehn gegen Un¬ recht und Ungerechtigkeit. Ich habe die Anklagen, die deine Großmutter gegen die Gesetze und ihre Vertreter erhob, nicht vergessen. Ich weiß aber, daß wir nicht mit Schießwaffen und bösen Worten für das Recht zu Felde ziehn dürfen, sondern nur mit den Waffen, die in dem kleinen Buch, das du da in den Händen hältst, verzeichnet stehn. Das sind die Gebote, die Christus, der größte aller Gesetz¬ geber, der Welt gegeben hat. Sieh, mit diesen Geboten sollten die Unzufriednen des Quartier des Marolles ankämpfen Wider das Böse in ihnen und außer ihnen, dann würden sie bald nicht mehr zum Justizpalast aufsehen wie zu einem drohenden Schreckgespenst. Begreifst du das, Fintje? Und willst du versuchen, mir zu helfen in diesem schweren Kampf wider das Böse?—- Da blickte Fintje schnell zu ihm auf. Glaubst du denn, ich könnte, ich dürfte du, der du jetzt meine ganze Lebensgeschichte kennst — glaubst du wirklich, ich dürfte? fragten die schwarzen schimmernden Augen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/464>, abgerufen am 22.12.2024.