Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Erinnerungen einer Lehrerin Ich weiß, daß ich wochenlang unter manchen Eindrücken gelitten habe, daß Oft in den elendesten Häuslichkeiten wohnen die "Heimarbeiter." Wenn Auch in den günstigsten Häuslichkeiten empfindet man unangenehm den Man muß auch bei den Hausbesuchen damit rechnen, daß man die ihrer Die Aufnahme, die ich bei meinen Besuchen gefunden habe, war ganz ver¬ Erinnerungen einer Lehrerin Ich weiß, daß ich wochenlang unter manchen Eindrücken gelitten habe, daß Oft in den elendesten Häuslichkeiten wohnen die „Heimarbeiter." Wenn Auch in den günstigsten Häuslichkeiten empfindet man unangenehm den Man muß auch bei den Hausbesuchen damit rechnen, daß man die ihrer Die Aufnahme, die ich bei meinen Besuchen gefunden habe, war ganz ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87926"/> <fw type="header" place="top"> Erinnerungen einer Lehrerin</fw><lb/> <p xml:id="ID_1926"> Ich weiß, daß ich wochenlang unter manchen Eindrücken gelitten habe, daß<lb/> mich Abends der Gedanke am Einschlafen gehindert hat, welchen unerhörten Luxus<lb/> ich dadurch triebe, daß ich in einem Zimmer allein und im eignen Bett schliefe.<lb/> Ich stellte mir vor, daß ich nur einmal eine Nacht in einem solchen Räume<lb/> mit so vielen Menschen zusammen verbringen müßte — und schauderte zusammen.<lb/> Schon für gesunde Menschen ist es entsetzlich, aber für Kranke muß es geradezu<lb/> die Hölle bedeuten. Daher kommt es denn, daß die Leute fast jedesmal zu<lb/> früh das Bett in Krankheitsfällen verlassen, und daß auch Wöchnerinnen am<lb/> dritten Tage schon wieder aufstehn, ist mir durchaus als notwendig erklärlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_1927"> Oft in den elendesten Häuslichkeiten wohnen die „Heimarbeiter." Wenn<lb/> man bedenkt, daß hier oft die kostbarsten Konfektionsstücke entstehn, mit denen<lb/> sich die Millionärin schmückt, oder daß hier Zigarren und Zigaretten verfertigt<lb/> werden, die die reichsten und verwöhntesten Menschen gebrauchen, dann muß<lb/> man über die Ironie des Schicksals lachen, wenn man sieht, mit welchem Be¬<lb/> hagen mancher moderne Geck, der die Reinlichkeit in Wüsche usw. als Sport<lb/> treibt, der sich schütteln würde, wenn er nur einen Blick in eine solche Häus¬<lb/> lichkeit geworfen hätte, und vielleicht das parfümierte Taschentuch vor das<lb/> Gesicht halten würde, sich die dort entstandne Zigarre in den Mund steckt!<lb/> Da muß mau unwillkürlich an das Sprichwort denken: „Was ich nicht weiß,<lb/> macht mich nicht heiß!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1928"> Auch in den günstigsten Häuslichkeiten empfindet man unangenehm den<lb/> Mangel an jeglichem Schönheitsgefühl. Man erkennt, wie nötig die Bestre¬<lb/> bungen der Kunsterziehungstage sind. Ich will ganz von den Möbeln ab¬<lb/> sehen, denn deren Häßlichkeit ist nicht Schuld der Besitzer, sondern der Fabrik<lb/> lauten; daß man mit demselben Gelde schöne statt häßliche Formen schaffen<lb/> kann, das beweisen die in Krupps Auftrag eingerichteten Arbeiterhäuser. Ich<lb/> denke an den sogenannten „Schmuck" der Wohnungen, zum Beispiel an die<lb/> fürchterlichen „Vertikos," die mit billigen Nippsachen vom Jahrmarkt übersät sind,<lb/> oder an die gräßlichen Buntdrucke an den Wänden. Wem die Augen hierdurch<lb/> beleidigt sind, der schätzt die „Meisterbilder" des „Kunstwart" und sorgt für<lb/> die Verbreitung unter seinen Kindern, dem wird es klar, daß die Schule die<lb/> Aufgabe hat, den künftigen Generationen die Augen für das Schöne zu öffnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1929"> Man muß auch bei den Hausbesuchen damit rechnen, daß man die ihrer<lb/> Arbeit nachgehenden Eltern nicht zuhause trifft, und muß für solche Fälle den<lb/> Sonntag wählen. Meist lernt man überhaupt nnr die Mutter kennen, wenn die<lb/> Ellen nicht Heimarbeiter sind, oder der Vater durch eine augenblickliche Arbeit¬<lb/> slosigkeit zuhause gehalten wird. Über Arbeitlosigkeit und über Mittel, sie zu<lb/> heben, ist neuerdings so viel geschrieben worden, daß ich hier nur darauf hinweisen<lb/> kann, daß auch die Schule unter der Arbeitlosigkeit des Familienvaters leidet.<lb/> Die Kinder bekommen durch die häusliche Not etwas Gedrucktes, ihre Farbe<lb/> wird noch fahler, und die Beschaffung des Arbeitsmatcrials für die Schule hört<lb/> dann ganz auf. Die Leute haben eben buchstäblich nicht zehn Pfennige für ein<lb/> Heft usw. übrig.</p><lb/> <p xml:id="ID_1930" next="#ID_1931"> Die Aufnahme, die ich bei meinen Besuchen gefunden habe, war ganz ver¬<lb/> schieden. Je günstiger die äußern Verhältnisse, desto freundlicher, je ungünstiger</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0448]
Erinnerungen einer Lehrerin
Ich weiß, daß ich wochenlang unter manchen Eindrücken gelitten habe, daß
mich Abends der Gedanke am Einschlafen gehindert hat, welchen unerhörten Luxus
ich dadurch triebe, daß ich in einem Zimmer allein und im eignen Bett schliefe.
Ich stellte mir vor, daß ich nur einmal eine Nacht in einem solchen Räume
mit so vielen Menschen zusammen verbringen müßte — und schauderte zusammen.
Schon für gesunde Menschen ist es entsetzlich, aber für Kranke muß es geradezu
die Hölle bedeuten. Daher kommt es denn, daß die Leute fast jedesmal zu
früh das Bett in Krankheitsfällen verlassen, und daß auch Wöchnerinnen am
dritten Tage schon wieder aufstehn, ist mir durchaus als notwendig erklärlich.
Oft in den elendesten Häuslichkeiten wohnen die „Heimarbeiter." Wenn
man bedenkt, daß hier oft die kostbarsten Konfektionsstücke entstehn, mit denen
sich die Millionärin schmückt, oder daß hier Zigarren und Zigaretten verfertigt
werden, die die reichsten und verwöhntesten Menschen gebrauchen, dann muß
man über die Ironie des Schicksals lachen, wenn man sieht, mit welchem Be¬
hagen mancher moderne Geck, der die Reinlichkeit in Wüsche usw. als Sport
treibt, der sich schütteln würde, wenn er nur einen Blick in eine solche Häus¬
lichkeit geworfen hätte, und vielleicht das parfümierte Taschentuch vor das
Gesicht halten würde, sich die dort entstandne Zigarre in den Mund steckt!
Da muß mau unwillkürlich an das Sprichwort denken: „Was ich nicht weiß,
macht mich nicht heiß!"
Auch in den günstigsten Häuslichkeiten empfindet man unangenehm den
Mangel an jeglichem Schönheitsgefühl. Man erkennt, wie nötig die Bestre¬
bungen der Kunsterziehungstage sind. Ich will ganz von den Möbeln ab¬
sehen, denn deren Häßlichkeit ist nicht Schuld der Besitzer, sondern der Fabrik
lauten; daß man mit demselben Gelde schöne statt häßliche Formen schaffen
kann, das beweisen die in Krupps Auftrag eingerichteten Arbeiterhäuser. Ich
denke an den sogenannten „Schmuck" der Wohnungen, zum Beispiel an die
fürchterlichen „Vertikos," die mit billigen Nippsachen vom Jahrmarkt übersät sind,
oder an die gräßlichen Buntdrucke an den Wänden. Wem die Augen hierdurch
beleidigt sind, der schätzt die „Meisterbilder" des „Kunstwart" und sorgt für
die Verbreitung unter seinen Kindern, dem wird es klar, daß die Schule die
Aufgabe hat, den künftigen Generationen die Augen für das Schöne zu öffnen.
Man muß auch bei den Hausbesuchen damit rechnen, daß man die ihrer
Arbeit nachgehenden Eltern nicht zuhause trifft, und muß für solche Fälle den
Sonntag wählen. Meist lernt man überhaupt nnr die Mutter kennen, wenn die
Ellen nicht Heimarbeiter sind, oder der Vater durch eine augenblickliche Arbeit¬
slosigkeit zuhause gehalten wird. Über Arbeitlosigkeit und über Mittel, sie zu
heben, ist neuerdings so viel geschrieben worden, daß ich hier nur darauf hinweisen
kann, daß auch die Schule unter der Arbeitlosigkeit des Familienvaters leidet.
Die Kinder bekommen durch die häusliche Not etwas Gedrucktes, ihre Farbe
wird noch fahler, und die Beschaffung des Arbeitsmatcrials für die Schule hört
dann ganz auf. Die Leute haben eben buchstäblich nicht zehn Pfennige für ein
Heft usw. übrig.
Die Aufnahme, die ich bei meinen Besuchen gefunden habe, war ganz ver¬
schieden. Je günstiger die äußern Verhältnisse, desto freundlicher, je ungünstiger
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