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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Em Brief aus trüber Zeit

4 Jahre bei mir in der Wirthschaft gewesen war; es war ein eigenes Wieder¬
sehen! Er hatte schon in Polen ein Gut, dort hatte man ihn aufheben wollen,
er war geflohen, sein alter Vater nach Sibirien gebracht und das Gut eingezogen.
So war der Unglückliche nun in die Welt gestoßen. Es waren jetzt eine Menge
Polen hierum, die an dem Aufstande (in Rußland) Theil genommen haben und nnn
nicht wieder zurückkönnen; an der Grenze haben sie dann zuweilen ein Wiedersehen
mit Frau und Kind. Es ist eine leichtsinnige Nation!

Die Gefangenen ließ ich zu Zweien ein Zimmer anweisen und stellte einen
Doppelposten vor die geschlossenen Thüren, sonst ließ ich ihnen Nichts abgehen!
Wir hatten über 200 grade gerichtete Sensen, 30 Gewehre, 1 Fahne und 1 Trommel
erobert.

Jetzt kamen auch meine Leute von den andren Vorwerken, auch Lachmann,
mein Amtmann, kam von Bromberg an, die Schützengilde sammelte sich, die Bauern-
gemeinden kamen. Es fing schon an zu dunkeln, und ich ließ den Markt erleuchten,
jede Gemeinde wurde mit Hurra und Trommelwirbel empfangen. Ich ordnete die
Haufen, bestimmte die Führer und Wachen und ließ Reiter-Vedetten ausstellen;
dann ordnete ich den Patrouillen-Dienst und sorgte für Proviantirung. Es mußte
Holz herangeschafft werden, und wir wärmten uns am Biwakfeuer, dann auch Stroh
zum Lager. Alles schlief, ich konnte nicht ruhen, ich saß auf einem Stuhl am
Brunnen, neben mir lag der Tambour; ich dachte jeden Moment an einen Über¬
fall. Die Rapporte gingen regelmäßig ein; es waren mehrere Polnische Stasfetten
angehalten, die mich auf einen Angriff am Tage vorbereiteten. Mein Corps war
bis auf 80 Mann Kavallerie, 80 Büchsenschützen und 1000 Mann mit Sensen
und Gabeln angewachsen. Mit Sonnenaufgang ließ ich Reveille schlagen, alles
mußte antreten, und ich sprach einige Worte, worin ich die Leute aufforderte, Gott
für unsren Sieg zu danken und seinen Beistand für die gerechte Sache zu erflehen;
ich commandirte: "Mützen ab zum Gebet." Alles stand lautlos. Es war ein er¬
greifender Moment, der mir unvergeßlich bleiben wird. Ich ließ dann zugweise
vorbeimarschieren, theilte die Wachen von neuem ab, und die Juden mußten ein
Faß mit Kaffee und einen Wagen mit Semmeln für die Armee liefern. Niemand
durfte ohne Urlaub aus seiner Abtheilung treten, und alle Schenken mußten ge¬
schlossen bleiben, um Trunkenheit zu vermeiden.

Die beiden Schlingels, die die Wappen herunter gerissen hatten, ließ ich
arretiren, die Schützen mußten in Parade aufmarschieren, und ich verkündete den¬
selben, daß diese beiden Kerls sofort die Wappen wieder anmachen sollten, widrigen¬
falls sie erschossen würden. 20 Schützen marschirten mit ihnen ab, ohne daß sie
gewagt hätten, zu reden. Die Wappen wurden bekränzt, ich kommandirte: "Achtung,
Prcisentirt das Gewehr," der Tambour wirbelte, und ich brachte dem geliebten
Könige ein Hoch aus voller Brust. So zogen wir von der Post zum Steueramte
und dann zum Bürgermeister; damit waren die Behörden wieder eingesetzt, die
ganz außer Kraft gekommen waren. Die Kerls ließ ich binden und schickte sie mit
Escorte nach Jnowrazlciw ans Gericht.

Es hatte sich unterdessen in mein Corps eine Menge Verdächtiger einge¬
schlichen, und als ich die Schützen hatte aufziehen lassen und mich umdrehte, ward
aus der zweiten Reihe mit einem Pistol nach mir geschossen, es war überladen,
traf nicht, zersprang aber und fuhr dem Vordermann in den Fuß, daß er fortge¬
tragen werden mußte und mehrere Monate daran lag. Ich that wieder, als wisse
us nicht, wer es gewesen, und als hielte ich das Ganze für ein Versehen; es war
ober ein Mensch, dem ich 120 Reh. geborgt, um ihn von der Strafe des Betrugs,
die ihn sicher erwartete, zu retten; diesem habe ich aber nachher unter vier Augen
ein Paar tüchtige Ohrfeigen verabreicht; wenn er mich sieht, fährt er jetzt immer
unwillkührlich nach dem Kopfe, als wolle er Pariren, und grüßt dann sehr devot.
Mehrmals merkte ich auch, daß in verdächtigen Häusern Ziegeln im Dach aufge¬
hoben wurden und ein Flintenlauf sich auf mich richtete. Ich ließ zwei Häuser


Grenzboten I 1905 53
Em Brief aus trüber Zeit

4 Jahre bei mir in der Wirthschaft gewesen war; es war ein eigenes Wieder¬
sehen! Er hatte schon in Polen ein Gut, dort hatte man ihn aufheben wollen,
er war geflohen, sein alter Vater nach Sibirien gebracht und das Gut eingezogen.
So war der Unglückliche nun in die Welt gestoßen. Es waren jetzt eine Menge
Polen hierum, die an dem Aufstande (in Rußland) Theil genommen haben und nnn
nicht wieder zurückkönnen; an der Grenze haben sie dann zuweilen ein Wiedersehen
mit Frau und Kind. Es ist eine leichtsinnige Nation!

Die Gefangenen ließ ich zu Zweien ein Zimmer anweisen und stellte einen
Doppelposten vor die geschlossenen Thüren, sonst ließ ich ihnen Nichts abgehen!
Wir hatten über 200 grade gerichtete Sensen, 30 Gewehre, 1 Fahne und 1 Trommel
erobert.

Jetzt kamen auch meine Leute von den andren Vorwerken, auch Lachmann,
mein Amtmann, kam von Bromberg an, die Schützengilde sammelte sich, die Bauern-
gemeinden kamen. Es fing schon an zu dunkeln, und ich ließ den Markt erleuchten,
jede Gemeinde wurde mit Hurra und Trommelwirbel empfangen. Ich ordnete die
Haufen, bestimmte die Führer und Wachen und ließ Reiter-Vedetten ausstellen;
dann ordnete ich den Patrouillen-Dienst und sorgte für Proviantirung. Es mußte
Holz herangeschafft werden, und wir wärmten uns am Biwakfeuer, dann auch Stroh
zum Lager. Alles schlief, ich konnte nicht ruhen, ich saß auf einem Stuhl am
Brunnen, neben mir lag der Tambour; ich dachte jeden Moment an einen Über¬
fall. Die Rapporte gingen regelmäßig ein; es waren mehrere Polnische Stasfetten
angehalten, die mich auf einen Angriff am Tage vorbereiteten. Mein Corps war
bis auf 80 Mann Kavallerie, 80 Büchsenschützen und 1000 Mann mit Sensen
und Gabeln angewachsen. Mit Sonnenaufgang ließ ich Reveille schlagen, alles
mußte antreten, und ich sprach einige Worte, worin ich die Leute aufforderte, Gott
für unsren Sieg zu danken und seinen Beistand für die gerechte Sache zu erflehen;
ich commandirte: „Mützen ab zum Gebet." Alles stand lautlos. Es war ein er¬
greifender Moment, der mir unvergeßlich bleiben wird. Ich ließ dann zugweise
vorbeimarschieren, theilte die Wachen von neuem ab, und die Juden mußten ein
Faß mit Kaffee und einen Wagen mit Semmeln für die Armee liefern. Niemand
durfte ohne Urlaub aus seiner Abtheilung treten, und alle Schenken mußten ge¬
schlossen bleiben, um Trunkenheit zu vermeiden.

Die beiden Schlingels, die die Wappen herunter gerissen hatten, ließ ich
arretiren, die Schützen mußten in Parade aufmarschieren, und ich verkündete den¬
selben, daß diese beiden Kerls sofort die Wappen wieder anmachen sollten, widrigen¬
falls sie erschossen würden. 20 Schützen marschirten mit ihnen ab, ohne daß sie
gewagt hätten, zu reden. Die Wappen wurden bekränzt, ich kommandirte: „Achtung,
Prcisentirt das Gewehr," der Tambour wirbelte, und ich brachte dem geliebten
Könige ein Hoch aus voller Brust. So zogen wir von der Post zum Steueramte
und dann zum Bürgermeister; damit waren die Behörden wieder eingesetzt, die
ganz außer Kraft gekommen waren. Die Kerls ließ ich binden und schickte sie mit
Escorte nach Jnowrazlciw ans Gericht.

Es hatte sich unterdessen in mein Corps eine Menge Verdächtiger einge¬
schlichen, und als ich die Schützen hatte aufziehen lassen und mich umdrehte, ward
aus der zweiten Reihe mit einem Pistol nach mir geschossen, es war überladen,
traf nicht, zersprang aber und fuhr dem Vordermann in den Fuß, daß er fortge¬
tragen werden mußte und mehrere Monate daran lag. Ich that wieder, als wisse
us nicht, wer es gewesen, und als hielte ich das Ganze für ein Versehen; es war
ober ein Mensch, dem ich 120 Reh. geborgt, um ihn von der Strafe des Betrugs,
die ihn sicher erwartete, zu retten; diesem habe ich aber nachher unter vier Augen
ein Paar tüchtige Ohrfeigen verabreicht; wenn er mich sieht, fährt er jetzt immer
unwillkührlich nach dem Kopfe, als wolle er Pariren, und grüßt dann sehr devot.
Mehrmals merkte ich auch, daß in verdächtigen Häusern Ziegeln im Dach aufge¬
hoben wurden und ein Flintenlauf sich auf mich richtete. Ich ließ zwei Häuser


Grenzboten I 1905 53
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[0405] Em Brief aus trüber Zeit 4 Jahre bei mir in der Wirthschaft gewesen war; es war ein eigenes Wieder¬ sehen! Er hatte schon in Polen ein Gut, dort hatte man ihn aufheben wollen, er war geflohen, sein alter Vater nach Sibirien gebracht und das Gut eingezogen. So war der Unglückliche nun in die Welt gestoßen. Es waren jetzt eine Menge Polen hierum, die an dem Aufstande (in Rußland) Theil genommen haben und nnn nicht wieder zurückkönnen; an der Grenze haben sie dann zuweilen ein Wiedersehen mit Frau und Kind. Es ist eine leichtsinnige Nation! Die Gefangenen ließ ich zu Zweien ein Zimmer anweisen und stellte einen Doppelposten vor die geschlossenen Thüren, sonst ließ ich ihnen Nichts abgehen! Wir hatten über 200 grade gerichtete Sensen, 30 Gewehre, 1 Fahne und 1 Trommel erobert. Jetzt kamen auch meine Leute von den andren Vorwerken, auch Lachmann, mein Amtmann, kam von Bromberg an, die Schützengilde sammelte sich, die Bauern- gemeinden kamen. Es fing schon an zu dunkeln, und ich ließ den Markt erleuchten, jede Gemeinde wurde mit Hurra und Trommelwirbel empfangen. Ich ordnete die Haufen, bestimmte die Führer und Wachen und ließ Reiter-Vedetten ausstellen; dann ordnete ich den Patrouillen-Dienst und sorgte für Proviantirung. Es mußte Holz herangeschafft werden, und wir wärmten uns am Biwakfeuer, dann auch Stroh zum Lager. Alles schlief, ich konnte nicht ruhen, ich saß auf einem Stuhl am Brunnen, neben mir lag der Tambour; ich dachte jeden Moment an einen Über¬ fall. Die Rapporte gingen regelmäßig ein; es waren mehrere Polnische Stasfetten angehalten, die mich auf einen Angriff am Tage vorbereiteten. Mein Corps war bis auf 80 Mann Kavallerie, 80 Büchsenschützen und 1000 Mann mit Sensen und Gabeln angewachsen. Mit Sonnenaufgang ließ ich Reveille schlagen, alles mußte antreten, und ich sprach einige Worte, worin ich die Leute aufforderte, Gott für unsren Sieg zu danken und seinen Beistand für die gerechte Sache zu erflehen; ich commandirte: „Mützen ab zum Gebet." Alles stand lautlos. Es war ein er¬ greifender Moment, der mir unvergeßlich bleiben wird. Ich ließ dann zugweise vorbeimarschieren, theilte die Wachen von neuem ab, und die Juden mußten ein Faß mit Kaffee und einen Wagen mit Semmeln für die Armee liefern. Niemand durfte ohne Urlaub aus seiner Abtheilung treten, und alle Schenken mußten ge¬ schlossen bleiben, um Trunkenheit zu vermeiden. Die beiden Schlingels, die die Wappen herunter gerissen hatten, ließ ich arretiren, die Schützen mußten in Parade aufmarschieren, und ich verkündete den¬ selben, daß diese beiden Kerls sofort die Wappen wieder anmachen sollten, widrigen¬ falls sie erschossen würden. 20 Schützen marschirten mit ihnen ab, ohne daß sie gewagt hätten, zu reden. Die Wappen wurden bekränzt, ich kommandirte: „Achtung, Prcisentirt das Gewehr," der Tambour wirbelte, und ich brachte dem geliebten Könige ein Hoch aus voller Brust. So zogen wir von der Post zum Steueramte und dann zum Bürgermeister; damit waren die Behörden wieder eingesetzt, die ganz außer Kraft gekommen waren. Die Kerls ließ ich binden und schickte sie mit Escorte nach Jnowrazlciw ans Gericht. Es hatte sich unterdessen in mein Corps eine Menge Verdächtiger einge¬ schlichen, und als ich die Schützen hatte aufziehen lassen und mich umdrehte, ward aus der zweiten Reihe mit einem Pistol nach mir geschossen, es war überladen, traf nicht, zersprang aber und fuhr dem Vordermann in den Fuß, daß er fortge¬ tragen werden mußte und mehrere Monate daran lag. Ich that wieder, als wisse us nicht, wer es gewesen, und als hielte ich das Ganze für ein Versehen; es war ober ein Mensch, dem ich 120 Reh. geborgt, um ihn von der Strafe des Betrugs, die ihn sicher erwartete, zu retten; diesem habe ich aber nachher unter vier Augen ein Paar tüchtige Ohrfeigen verabreicht; wenn er mich sieht, fährt er jetzt immer unwillkührlich nach dem Kopfe, als wolle er Pariren, und grüßt dann sehr devot. Mehrmals merkte ich auch, daß in verdächtigen Häusern Ziegeln im Dach aufge¬ hoben wurden und ein Flintenlauf sich auf mich richtete. Ich ließ zwei Häuser Grenzboten I 1905 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/405>, abgerufen am 22.12.2024.