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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

sie: Es hilft ja nichts, du betrügst dich nur selbst, du weißt ja, wie es kommen
wird, daß er dir wehes Leid antun wird und muß, der schöne, liebenswürdige,
unzuverlässige Rene. Was schreibst du da noch? Aber sie hatte der Stimme nicht
glauben wollen und dennoch geschrieben und immer weiter darauf gewartet, seinen
wohlbekannten Tritt in die Hausflur kommen zu hören.

Aber jetzt war alles niedergerissen, was sie sich künstlich an trügerischen Hoff¬
nungen aufgebaut hatte. Renü war verlobt, bald würde er Hochzeit machen, ihr
Dienstmädchen hatte es ihr verkünden müssen, RenL war nicht gekommen, es ihr
selbst zu sagen.

Er hatte wohl jetzt wichtigere Dinge zu tun, als sich um die kleine Josephine
zu kümmern. Die Braut und zukünftige Fran, die hat nun ein Recht auf ihn, auf
seine Zeit, auf seine Liebe und ihr ganzes Leben lang ein Recht ans seine Treue.
Sie aber darf ihm nicht einmal Vorwürfe machen: wenn er sie nicht mehr liebt,
binden ihn keine Pflichten an sie. Sie hat auf nichts ein Recht. Hat ihr das
die Großmutter uicht tausendmal eingeschärft? Es ist wohl bittre Wahrheit. Die
Fremde, die zukünftige Frau, die hat ein Recht auf alles, aber sie, Fintje, hat
keinerlei Rechte an ihn, weder an seine Achtung noch an seine Treue.

Die Großmutter, die war weise, die hatte Lebenserfahrung, die hatte gewußt,
wie es kommen mußte mit ihr, die den eiteln vergnügungssüchtigen Sinn der
d'et Traps hatte. Dieser d'el Traps, die nach Dingen verlangten, die glänzten
und schön anzusehen waren, die ein Verlangen hatten nach dem Vornehmen und
dem Heitern. Sie hatte geglaubt, im schönen Brüssel da werde ihr das Glück aus den
Märchen begegnen, und hatte es sogar schon gefunden geglaubt, damals, als sie
in ihrem weißen Blumenwageu im Korso gefahren war. Aber hatte da nicht der
Ovale an ihrem Wege gestanden, und sie, hatte sie in ihrem Märchenrausch nicht
beleidigt durch seine unschöne, armselige Gestalt weggeschaut und ihn nicht gegrüßt?
Jetzt quälte sie das alte Lied, Oomkes Lied:

Blumen verwelken, und schöne Kleider verblassen, und die Liebe verwöhnter
junger Herren erkaltet schnell. Im vornehmen Brüssel sieht die Liebe wohl feiner
und liebenswürdiger aus als die, die in den engen Gassen des Quartier des
Marolles zuhause ist. Aber ob diese Liebe nicht ehrlicher und treuer ist? Ob die
armen Marolliens, die Ovale nach seinem Buche die Elenden nannte, nicht noch
bessere und glücklichere Herzen hatten als die Reichen und Vornehmen? Wie ist
sie doch schou so alt und nüchtern geworden, daß sie wieder nach dem zurückver¬
langt, was ihr früher wie ein düstres Gefängnis erschienen ist, daß sie schon weiß:
es gibt gar kein Märchenland, kein Glück und keine reine unvergängliche Liebe.
O, beinähe so klug wie ihre alte Großmutter ist sie schon! Das verdankt sie
Rene', der hat sie das alles gelehrt. Wenn sie ihn nicht so lieb gehabt hätte, sie
müßte ihm Wohl noch dankbar sein für diese guten Lebenslehren. Aber sie hat ihn
zu lieb gehabt! Er dagegen hat wohl nur Spaß gehabt an ihrer naiven Treu¬
herzigkeit und ihrem kindischen Entzücken an all dem Schönen, das er ihr schenkte
und zeigte. Denn so lange sie ihm noch neu und belustigend war, hatte er sie
unermüdlich ausgeführt, überall hin, wonach ihr der Sinn gestanden hatte. Und
sür das Palais d'Eta war sie ihm sogar zu schade gewesen. Ach, damals war sie
so jung und dumm gewesen und hatte in seine Worte einen herrlichen falschen
Sinn gelegt. Jetzt wußte sie ganz genau, daß auch da nur das eitle Selbstgefühl
ans ihm gesprochen hatte. Zu schade war sie ja für einen solchen Ort nur, weil
sie sein Eigentum war. Nicht weil er sie mit der tiefen Liebe liebte, die schützend
die Hände über die Geliebte breitet, deren Reinheit ihm heilig ist. So hat sie
nur einer geliebt, dem sie damals töricht gezürnt hat wegen seiner kühlen Zurück¬
haltung. Jcin l'Grand, dem war sie in Wahrheit zu schade gewesen. Ich habe


Im alten Brüssel

sie: Es hilft ja nichts, du betrügst dich nur selbst, du weißt ja, wie es kommen
wird, daß er dir wehes Leid antun wird und muß, der schöne, liebenswürdige,
unzuverlässige Rene. Was schreibst du da noch? Aber sie hatte der Stimme nicht
glauben wollen und dennoch geschrieben und immer weiter darauf gewartet, seinen
wohlbekannten Tritt in die Hausflur kommen zu hören.

Aber jetzt war alles niedergerissen, was sie sich künstlich an trügerischen Hoff¬
nungen aufgebaut hatte. Renü war verlobt, bald würde er Hochzeit machen, ihr
Dienstmädchen hatte es ihr verkünden müssen, RenL war nicht gekommen, es ihr
selbst zu sagen.

Er hatte wohl jetzt wichtigere Dinge zu tun, als sich um die kleine Josephine
zu kümmern. Die Braut und zukünftige Fran, die hat nun ein Recht auf ihn, auf
seine Zeit, auf seine Liebe und ihr ganzes Leben lang ein Recht ans seine Treue.
Sie aber darf ihm nicht einmal Vorwürfe machen: wenn er sie nicht mehr liebt,
binden ihn keine Pflichten an sie. Sie hat auf nichts ein Recht. Hat ihr das
die Großmutter uicht tausendmal eingeschärft? Es ist wohl bittre Wahrheit. Die
Fremde, die zukünftige Frau, die hat ein Recht auf alles, aber sie, Fintje, hat
keinerlei Rechte an ihn, weder an seine Achtung noch an seine Treue.

Die Großmutter, die war weise, die hatte Lebenserfahrung, die hatte gewußt,
wie es kommen mußte mit ihr, die den eiteln vergnügungssüchtigen Sinn der
d'et Traps hatte. Dieser d'el Traps, die nach Dingen verlangten, die glänzten
und schön anzusehen waren, die ein Verlangen hatten nach dem Vornehmen und
dem Heitern. Sie hatte geglaubt, im schönen Brüssel da werde ihr das Glück aus den
Märchen begegnen, und hatte es sogar schon gefunden geglaubt, damals, als sie
in ihrem weißen Blumenwageu im Korso gefahren war. Aber hatte da nicht der
Ovale an ihrem Wege gestanden, und sie, hatte sie in ihrem Märchenrausch nicht
beleidigt durch seine unschöne, armselige Gestalt weggeschaut und ihn nicht gegrüßt?
Jetzt quälte sie das alte Lied, Oomkes Lied:

Blumen verwelken, und schöne Kleider verblassen, und die Liebe verwöhnter
junger Herren erkaltet schnell. Im vornehmen Brüssel sieht die Liebe wohl feiner
und liebenswürdiger aus als die, die in den engen Gassen des Quartier des
Marolles zuhause ist. Aber ob diese Liebe nicht ehrlicher und treuer ist? Ob die
armen Marolliens, die Ovale nach seinem Buche die Elenden nannte, nicht noch
bessere und glücklichere Herzen hatten als die Reichen und Vornehmen? Wie ist
sie doch schou so alt und nüchtern geworden, daß sie wieder nach dem zurückver¬
langt, was ihr früher wie ein düstres Gefängnis erschienen ist, daß sie schon weiß:
es gibt gar kein Märchenland, kein Glück und keine reine unvergängliche Liebe.
O, beinähe so klug wie ihre alte Großmutter ist sie schon! Das verdankt sie
Rene', der hat sie das alles gelehrt. Wenn sie ihn nicht so lieb gehabt hätte, sie
müßte ihm Wohl noch dankbar sein für diese guten Lebenslehren. Aber sie hat ihn
zu lieb gehabt! Er dagegen hat wohl nur Spaß gehabt an ihrer naiven Treu¬
herzigkeit und ihrem kindischen Entzücken an all dem Schönen, das er ihr schenkte
und zeigte. Denn so lange sie ihm noch neu und belustigend war, hatte er sie
unermüdlich ausgeführt, überall hin, wonach ihr der Sinn gestanden hatte. Und
sür das Palais d'Eta war sie ihm sogar zu schade gewesen. Ach, damals war sie
so jung und dumm gewesen und hatte in seine Worte einen herrlichen falschen
Sinn gelegt. Jetzt wußte sie ganz genau, daß auch da nur das eitle Selbstgefühl
ans ihm gesprochen hatte. Zu schade war sie ja für einen solchen Ort nur, weil
sie sein Eigentum war. Nicht weil er sie mit der tiefen Liebe liebte, die schützend
die Hände über die Geliebte breitet, deren Reinheit ihm heilig ist. So hat sie
nur einer geliebt, dem sie damals töricht gezürnt hat wegen seiner kühlen Zurück¬
haltung. Jcin l'Grand, dem war sie in Wahrheit zu schade gewesen. Ich habe


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[0359] Im alten Brüssel sie: Es hilft ja nichts, du betrügst dich nur selbst, du weißt ja, wie es kommen wird, daß er dir wehes Leid antun wird und muß, der schöne, liebenswürdige, unzuverlässige Rene. Was schreibst du da noch? Aber sie hatte der Stimme nicht glauben wollen und dennoch geschrieben und immer weiter darauf gewartet, seinen wohlbekannten Tritt in die Hausflur kommen zu hören. Aber jetzt war alles niedergerissen, was sie sich künstlich an trügerischen Hoff¬ nungen aufgebaut hatte. Renü war verlobt, bald würde er Hochzeit machen, ihr Dienstmädchen hatte es ihr verkünden müssen, RenL war nicht gekommen, es ihr selbst zu sagen. Er hatte wohl jetzt wichtigere Dinge zu tun, als sich um die kleine Josephine zu kümmern. Die Braut und zukünftige Fran, die hat nun ein Recht auf ihn, auf seine Zeit, auf seine Liebe und ihr ganzes Leben lang ein Recht ans seine Treue. Sie aber darf ihm nicht einmal Vorwürfe machen: wenn er sie nicht mehr liebt, binden ihn keine Pflichten an sie. Sie hat auf nichts ein Recht. Hat ihr das die Großmutter uicht tausendmal eingeschärft? Es ist wohl bittre Wahrheit. Die Fremde, die zukünftige Frau, die hat ein Recht auf alles, aber sie, Fintje, hat keinerlei Rechte an ihn, weder an seine Achtung noch an seine Treue. Die Großmutter, die war weise, die hatte Lebenserfahrung, die hatte gewußt, wie es kommen mußte mit ihr, die den eiteln vergnügungssüchtigen Sinn der d'et Traps hatte. Dieser d'el Traps, die nach Dingen verlangten, die glänzten und schön anzusehen waren, die ein Verlangen hatten nach dem Vornehmen und dem Heitern. Sie hatte geglaubt, im schönen Brüssel da werde ihr das Glück aus den Märchen begegnen, und hatte es sogar schon gefunden geglaubt, damals, als sie in ihrem weißen Blumenwageu im Korso gefahren war. Aber hatte da nicht der Ovale an ihrem Wege gestanden, und sie, hatte sie in ihrem Märchenrausch nicht beleidigt durch seine unschöne, armselige Gestalt weggeschaut und ihn nicht gegrüßt? Jetzt quälte sie das alte Lied, Oomkes Lied: Blumen verwelken, und schöne Kleider verblassen, und die Liebe verwöhnter junger Herren erkaltet schnell. Im vornehmen Brüssel sieht die Liebe wohl feiner und liebenswürdiger aus als die, die in den engen Gassen des Quartier des Marolles zuhause ist. Aber ob diese Liebe nicht ehrlicher und treuer ist? Ob die armen Marolliens, die Ovale nach seinem Buche die Elenden nannte, nicht noch bessere und glücklichere Herzen hatten als die Reichen und Vornehmen? Wie ist sie doch schou so alt und nüchtern geworden, daß sie wieder nach dem zurückver¬ langt, was ihr früher wie ein düstres Gefängnis erschienen ist, daß sie schon weiß: es gibt gar kein Märchenland, kein Glück und keine reine unvergängliche Liebe. O, beinähe so klug wie ihre alte Großmutter ist sie schon! Das verdankt sie Rene', der hat sie das alles gelehrt. Wenn sie ihn nicht so lieb gehabt hätte, sie müßte ihm Wohl noch dankbar sein für diese guten Lebenslehren. Aber sie hat ihn zu lieb gehabt! Er dagegen hat wohl nur Spaß gehabt an ihrer naiven Treu¬ herzigkeit und ihrem kindischen Entzücken an all dem Schönen, das er ihr schenkte und zeigte. Denn so lange sie ihm noch neu und belustigend war, hatte er sie unermüdlich ausgeführt, überall hin, wonach ihr der Sinn gestanden hatte. Und sür das Palais d'Eta war sie ihm sogar zu schade gewesen. Ach, damals war sie so jung und dumm gewesen und hatte in seine Worte einen herrlichen falschen Sinn gelegt. Jetzt wußte sie ganz genau, daß auch da nur das eitle Selbstgefühl ans ihm gesprochen hatte. Zu schade war sie ja für einen solchen Ort nur, weil sie sein Eigentum war. Nicht weil er sie mit der tiefen Liebe liebte, die schützend die Hände über die Geliebte breitet, deren Reinheit ihm heilig ist. So hat sie nur einer geliebt, dem sie damals töricht gezürnt hat wegen seiner kühlen Zurück¬ haltung. Jcin l'Grand, dem war sie in Wahrheit zu schade gewesen. Ich habe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/359>, abgerufen am 22.12.2024.