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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Bilder ans dem deutsch-französischen Kriege

während er sprach, mit einem Ausdruck von Innigkeit, der nichts Gewohnheits¬
mäßiges hatte, auf dem Bildwerke ruhn.

Mit Recht sagt man, der Krieg sei die Sache der Männer; wir können
sogar sagen, der waffenfähigen Männer. Welche große Mehrheit von Frauen,
von Kindern, von Greisen, von Kranken ist in jedem Volke dem Kriege abgeneigt.
Viele tun, als bestehe diese Mehrheit nicht. Aber wir Geistlichen sind so recht ihre
Vertreter, wir kennen sie. Und als katholischer Geistlicher, der stündlich das Bild
der schmerzensreichem Mutter und des Kindes mit der Krone des Weltherrschers
vor Augen hat, empfinde ich doppelt tief das Unrecht, das der Krieg dieser
Mehrheit tut, deren Waffen die Trauer und das Gebet sind. Lassen wir ruhig
die reden, die behaupten, der Krieg entfalte erst recht die Eigenschaften, die die
Männlichkeit ausmachen. Es sind nicht die besten, die Gott in uns gelegt hat.
Das Weib und das Kind stehn dem gemeinsamen Grunde der Menschheit näher,
und ebeu deshalb müssen sie auch meinem Herzen näher sein.

Gerade ihr Deutschen müßtet die christlichen Franzosen verstehn, sagte
er plötzlich abspringend. Ihre Führer haben Beweise von Demütigung vor Gott
gegeben. Ich habe mir sagen lassen, Ihr General Werber lese am Wachtfeuer
seine Bibel. Wie könnte anch ein solcher Mann seine Verantwortung ohne Glauben
an Gott tragen? Vielleicht ist einmal sein Auge auf die Stelle gefallen, wo die
Juden auf den Stein Eben-Ezer stoßen, bei dem Samuel spricht: Bis hier hat
der Herr geholfen. Vielleicht sagt er sich heute: Versuchen wir den Herrn nicht
weiter. Für Frankreich ist das ein Karfreitag, wie er in der Geschichte der
Völker selten so dunkel gewesen ist, aber auch er hat seinen Abend, und dann
folgt Ostern und Pfingsten. Deutschland war offenbar berufen, diesen Tag herauf¬
zuführen. Aber die Vernichtung Frankreichs kann der Wille des Höchsten nicht
sein. Vor ihm sind die Franzosen auch als Besiegte ein Volk Gottes. Ich will
nicht sagen, daß die Deutschen das nicht seien, aber was die Franzosen für den
christlichen Glauben getan haben, muß irgendwo ihnen zugerechnet stehn. Und ihr
Posten im Hauptbuch der Vorsehung kann nur wachsen, wenn sie geläutert aus
dieser Prüfung Hervorgehn. Er faltete die Hände und sprach mit unmerklich ge¬
hobnem Ton: An meiner Schwäche vollende sich deine Stärke, und je schwächer
ich bin, desto stärker bist du, o Herr. Glaube ich aber fest, so ist deine Stärke
auch die meine.

Als ich in den Stall zurückkehrte, schlief mein Kamerad höchst behaglich unter
seinem Mantel, und die Pferde schauten mich freundlich an, als wollten sie sich
für den warmen Stall bedanken. Ich setzte mich zu ihnen. Die "stille Lebens¬
lust" geht bekanntlich nirgends so intensiv von den Tieren auf den Menschen über
wie in einem warmen Pferdestall. Den Tieren war es wohl, meinem Kameraden
offenbar nicht minder, auch mir behagte es in der bräunlichen Dämmerung des
alten Holzbaues, dessen dicke Bohlenwände keine Kälte hereinließen. Draußen
wehte von den Bergen her ein kalter Wind, der sich feucht anfühlte; der Schnee
auf den Dächern und an den Häusern schien zu sagen: Ich liege gut so, es eilt
mir keineswegs, wegzuschmelzen.

Als sich der Abend früh herabsenkte, wanderte ich durch das Dörfchen und
suchte den kürzesten Weg ins Freie; der einzige betretne führte an neun Bild¬
stöckeln, ans denen die Leidensstationen des Herrn gemalt waren, zu einer kleinen
Kapelle, von der man talaufwärts in abendgrauen Wald und über breite Weiße
Flächen hinsah, unter denen wohl Wiesen dem Frühling entgegenharren mochten.
Der Abendhimmel stand kühl darüber, am Horizont topasgelb, oben weiß. Im
Westen war die Sonne am Versinken. Der Gedanke, daß so gar nichts von dem
Lärm des Krieges, der hinter diesen Bergen noch wütete, hereindrang, beschlich
mich halb heimwehartig. Wenn man monatelang in der Gesellschaft von Tausenden
marschiert ist, gefochten und gelagert hat, muß man sich an das Alleinsein erst
wieder gewöhnen.


Bilder ans dem deutsch-französischen Kriege

während er sprach, mit einem Ausdruck von Innigkeit, der nichts Gewohnheits¬
mäßiges hatte, auf dem Bildwerke ruhn.

Mit Recht sagt man, der Krieg sei die Sache der Männer; wir können
sogar sagen, der waffenfähigen Männer. Welche große Mehrheit von Frauen,
von Kindern, von Greisen, von Kranken ist in jedem Volke dem Kriege abgeneigt.
Viele tun, als bestehe diese Mehrheit nicht. Aber wir Geistlichen sind so recht ihre
Vertreter, wir kennen sie. Und als katholischer Geistlicher, der stündlich das Bild
der schmerzensreichem Mutter und des Kindes mit der Krone des Weltherrschers
vor Augen hat, empfinde ich doppelt tief das Unrecht, das der Krieg dieser
Mehrheit tut, deren Waffen die Trauer und das Gebet sind. Lassen wir ruhig
die reden, die behaupten, der Krieg entfalte erst recht die Eigenschaften, die die
Männlichkeit ausmachen. Es sind nicht die besten, die Gott in uns gelegt hat.
Das Weib und das Kind stehn dem gemeinsamen Grunde der Menschheit näher,
und ebeu deshalb müssen sie auch meinem Herzen näher sein.

Gerade ihr Deutschen müßtet die christlichen Franzosen verstehn, sagte
er plötzlich abspringend. Ihre Führer haben Beweise von Demütigung vor Gott
gegeben. Ich habe mir sagen lassen, Ihr General Werber lese am Wachtfeuer
seine Bibel. Wie könnte anch ein solcher Mann seine Verantwortung ohne Glauben
an Gott tragen? Vielleicht ist einmal sein Auge auf die Stelle gefallen, wo die
Juden auf den Stein Eben-Ezer stoßen, bei dem Samuel spricht: Bis hier hat
der Herr geholfen. Vielleicht sagt er sich heute: Versuchen wir den Herrn nicht
weiter. Für Frankreich ist das ein Karfreitag, wie er in der Geschichte der
Völker selten so dunkel gewesen ist, aber auch er hat seinen Abend, und dann
folgt Ostern und Pfingsten. Deutschland war offenbar berufen, diesen Tag herauf¬
zuführen. Aber die Vernichtung Frankreichs kann der Wille des Höchsten nicht
sein. Vor ihm sind die Franzosen auch als Besiegte ein Volk Gottes. Ich will
nicht sagen, daß die Deutschen das nicht seien, aber was die Franzosen für den
christlichen Glauben getan haben, muß irgendwo ihnen zugerechnet stehn. Und ihr
Posten im Hauptbuch der Vorsehung kann nur wachsen, wenn sie geläutert aus
dieser Prüfung Hervorgehn. Er faltete die Hände und sprach mit unmerklich ge¬
hobnem Ton: An meiner Schwäche vollende sich deine Stärke, und je schwächer
ich bin, desto stärker bist du, o Herr. Glaube ich aber fest, so ist deine Stärke
auch die meine.

Als ich in den Stall zurückkehrte, schlief mein Kamerad höchst behaglich unter
seinem Mantel, und die Pferde schauten mich freundlich an, als wollten sie sich
für den warmen Stall bedanken. Ich setzte mich zu ihnen. Die „stille Lebens¬
lust" geht bekanntlich nirgends so intensiv von den Tieren auf den Menschen über
wie in einem warmen Pferdestall. Den Tieren war es wohl, meinem Kameraden
offenbar nicht minder, auch mir behagte es in der bräunlichen Dämmerung des
alten Holzbaues, dessen dicke Bohlenwände keine Kälte hereinließen. Draußen
wehte von den Bergen her ein kalter Wind, der sich feucht anfühlte; der Schnee
auf den Dächern und an den Häusern schien zu sagen: Ich liege gut so, es eilt
mir keineswegs, wegzuschmelzen.

Als sich der Abend früh herabsenkte, wanderte ich durch das Dörfchen und
suchte den kürzesten Weg ins Freie; der einzige betretne führte an neun Bild¬
stöckeln, ans denen die Leidensstationen des Herrn gemalt waren, zu einer kleinen
Kapelle, von der man talaufwärts in abendgrauen Wald und über breite Weiße
Flächen hinsah, unter denen wohl Wiesen dem Frühling entgegenharren mochten.
Der Abendhimmel stand kühl darüber, am Horizont topasgelb, oben weiß. Im
Westen war die Sonne am Versinken. Der Gedanke, daß so gar nichts von dem
Lärm des Krieges, der hinter diesen Bergen noch wütete, hereindrang, beschlich
mich halb heimwehartig. Wenn man monatelang in der Gesellschaft von Tausenden
marschiert ist, gefochten und gelagert hat, muß man sich an das Alleinsein erst
wieder gewöhnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/342>, abgerufen am 22.12.2024.