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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Island am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts

OK Kons, (Mann und Frau) ist leider unvollendet geblieben; in der getreuen
Schilderung des isländischen Lebens kommt sie der ersten mindestens gleich,
übertrifft sie aber, wie mich dünkt, noch an lebendiger und eindringender
Charakteristik. Die Beilage des Gudhmundssonschen Buches bietet aus beiden
Erzählungen Proben. Unter den folgenden ragt der allzu früh gestorbne
Gestur Pälsson hervor, dessen Novellen -- sie sind sämtlich ins Deutsche über¬
setzt -- einen stark satirischen Zug tragen. Neuerdings hat Einar Hjörleifsson
in den unter dem Titel Vertan links oZ austÄv, (Westlich und östlich vom
Meere) erschienenen drei Erzählungen schöne Proben seiner Fähigkeit gegeben,
außer ihm ist noch der Propst Jonas Jönasson, der Verfasser der Lebenslügen,
bekannt geworden.

Mit dem Aufschwung der Poesie geht der Aufschwung der Wissenschaft
Hand in Hand. Freilich ist die Tätigkeit der isländischen Gelehrten lange auf
bie Erforschung der heimischen Literatur und Geschichte beschränkt geblieben; aber
darin ist auch Vorzügliches geleistet worden, und die Namen Finnur Magnusson,
Gullbrandur Vigfüsson und andre haben in ganz Europa einen guten Klang.
In letzter Zeit hat man sich auch mit Eifer den Naturwissenschaften zugewandt,
wozu die interessante Natur des Landes einen mächtigen Ansporn gab.

Dagegen ist die bildende Kunst zurückgeblieben, ja sie hat sogar Rück¬
schritte gemacht. Waren ehemals viele Gebäude auf der Insel mit allerlei
Zieraten, gemalten wie geschnitzten, geschmückt oder die Wände mit Teppichen
behängt, so steht das isländische Haus jetzt schmucklos da. Die einst so hoch
entwickelte, ebenfalls von dem allgemeinen Verfall betroffne Kunstindustrie hat
sich noch nicht erholt. Nur ein Rest der alten Holzschnitzerei ist noch vor¬
handen; auch die alte, ehemals eifrig bctriebne Brettchenweberei -- vielleicht
die älteste Art der Weberei und jetzt auch im alten Ägypten und in Asien
nachgewiesen -- besteht teilweise noch fort. Eine eigentliche Baukunst gibt es
auf Island nicht, und ein zweiter Thorwaldsen ist nicht erstanden. Doch sind
unter den jüngern Künstlern einige vielversprechende Talente. Die Musik,
lange an die alten kirchlichen Weisen gebunden, hat sich von ihren Fesseln
befreit. Die alten, unvollkommnen Saiteninstrumente sind verschwunden, Har¬
monium, Geige und Klavier haben ihren Einzug in Kirche und Haus gehalten,
kurz die moderne Musik wird jetzt wie sonst in Europa geübt. Technisch ge¬
bildete Schauspieler fehlen. Man hat aber Liebhabertheater, und in Reykjavik
hat sich eine stehende Schauspielergesellschaft gebildet, die auch vielfach aus¬
ländische Stücke mit Erfolg aufführt.

Die wichtigsten Erwerbsquellen auf der Insel sind Landwirtschaft und
Fischfang, die erste natürlich nur, soweit man Viehzucht und Wiesenkultur
darunter versteht. Das Wiesenland ist zwiefacher Art; der größte Teil bleibt
abgesehen von den sogenannten Flutwiesen, die künstlich bewässert werden, un¬
berührt, die kleinern um die Gehöfte herumliegenden und eingezäunten Gras¬
felder, die man tun -- wegen des Zaunes -- nennt, werden sorgsam geebnet
und gedüngt und geben deshalb das kräftigste Heu. Die Heuernte, das
wichtigste Geschüft des ganzen Jahres, beginnt Ende Juni oder Anfang Juli.
Dann zieht alles hinaus, die Männer mühen, die Weiber Harken und binden,


Island am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts

OK Kons, (Mann und Frau) ist leider unvollendet geblieben; in der getreuen
Schilderung des isländischen Lebens kommt sie der ersten mindestens gleich,
übertrifft sie aber, wie mich dünkt, noch an lebendiger und eindringender
Charakteristik. Die Beilage des Gudhmundssonschen Buches bietet aus beiden
Erzählungen Proben. Unter den folgenden ragt der allzu früh gestorbne
Gestur Pälsson hervor, dessen Novellen — sie sind sämtlich ins Deutsche über¬
setzt — einen stark satirischen Zug tragen. Neuerdings hat Einar Hjörleifsson
in den unter dem Titel Vertan links oZ austÄv, (Westlich und östlich vom
Meere) erschienenen drei Erzählungen schöne Proben seiner Fähigkeit gegeben,
außer ihm ist noch der Propst Jonas Jönasson, der Verfasser der Lebenslügen,
bekannt geworden.

Mit dem Aufschwung der Poesie geht der Aufschwung der Wissenschaft
Hand in Hand. Freilich ist die Tätigkeit der isländischen Gelehrten lange auf
bie Erforschung der heimischen Literatur und Geschichte beschränkt geblieben; aber
darin ist auch Vorzügliches geleistet worden, und die Namen Finnur Magnusson,
Gullbrandur Vigfüsson und andre haben in ganz Europa einen guten Klang.
In letzter Zeit hat man sich auch mit Eifer den Naturwissenschaften zugewandt,
wozu die interessante Natur des Landes einen mächtigen Ansporn gab.

Dagegen ist die bildende Kunst zurückgeblieben, ja sie hat sogar Rück¬
schritte gemacht. Waren ehemals viele Gebäude auf der Insel mit allerlei
Zieraten, gemalten wie geschnitzten, geschmückt oder die Wände mit Teppichen
behängt, so steht das isländische Haus jetzt schmucklos da. Die einst so hoch
entwickelte, ebenfalls von dem allgemeinen Verfall betroffne Kunstindustrie hat
sich noch nicht erholt. Nur ein Rest der alten Holzschnitzerei ist noch vor¬
handen; auch die alte, ehemals eifrig bctriebne Brettchenweberei — vielleicht
die älteste Art der Weberei und jetzt auch im alten Ägypten und in Asien
nachgewiesen — besteht teilweise noch fort. Eine eigentliche Baukunst gibt es
auf Island nicht, und ein zweiter Thorwaldsen ist nicht erstanden. Doch sind
unter den jüngern Künstlern einige vielversprechende Talente. Die Musik,
lange an die alten kirchlichen Weisen gebunden, hat sich von ihren Fesseln
befreit. Die alten, unvollkommnen Saiteninstrumente sind verschwunden, Har¬
monium, Geige und Klavier haben ihren Einzug in Kirche und Haus gehalten,
kurz die moderne Musik wird jetzt wie sonst in Europa geübt. Technisch ge¬
bildete Schauspieler fehlen. Man hat aber Liebhabertheater, und in Reykjavik
hat sich eine stehende Schauspielergesellschaft gebildet, die auch vielfach aus¬
ländische Stücke mit Erfolg aufführt.

Die wichtigsten Erwerbsquellen auf der Insel sind Landwirtschaft und
Fischfang, die erste natürlich nur, soweit man Viehzucht und Wiesenkultur
darunter versteht. Das Wiesenland ist zwiefacher Art; der größte Teil bleibt
abgesehen von den sogenannten Flutwiesen, die künstlich bewässert werden, un¬
berührt, die kleinern um die Gehöfte herumliegenden und eingezäunten Gras¬
felder, die man tun — wegen des Zaunes — nennt, werden sorgsam geebnet
und gedüngt und geben deshalb das kräftigste Heu. Die Heuernte, das
wichtigste Geschüft des ganzen Jahres, beginnt Ende Juni oder Anfang Juli.
Dann zieht alles hinaus, die Männer mühen, die Weiber Harken und binden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/336>, abgerufen am 22.12.2024.