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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Die neuen Handelsverträge

! in Werk von höchster Bedeutung hat der Reichskanzler im Namen
der verbündeten Regierungen dem Reichstage vorgelegt: sieben
Handelsverträge, Sie sind bestimmt, das ganze Gefüge unsers
internationalen Warenaustausches umzugestalten und dadurch auf
I die Verteilung des deutschen Nationaleinkommens nachhaltig ein¬
zuwirken. Diese Einwirkung wird von den einen gepriesen, von den andern
scharf verurteilt, von den dritten für völlig ungenügend erklärt. Es ist nicht
möglich, ein Urteil zu fällen, das alle für richtig erklären; allseitige Zu¬
stimmung hat auch die Regierung für ihr Werk nicht zu gewinnen vermocht,
obwohl die Annahme im Reichstag sicher ist. Wir überlassen Lob und Tadel
den Parteien und schildern hier nur objektiv den Tatbestand, nicht nach Zahlen
und nach Tarifpositionen, sondern nach den leitenden Gedanken und den ma߬
gebenden Umständen.

Zwei tiefgreifende Tatsachen haben die Abwendung Deutschlands vom
Freihandel verursacht: die Erschließung der neuen Kontinente für die Massen¬
erzeugung von Lebensmitteln und die Bevölkerungszunahme Deutschlands,
die unser Vaterland aus einem Lebensmittel ausführenden in ein Lebensmittel
einführendes und Fabrikate in großen Mengen ausführendes Land verwandelt
hat. Mit der ersten Tatsache war ein niemals zuvor gekannter Sturz der
Lebensmittel-, namentlich der Getreidepreise verbunden. Die Ungeheuern Ebenen
des nordamerikanischen Westens wurden besiedelt und bedeckten sich mit Mais¬
und Weizenfeldern. Eisenbahnen durchzogen die weiten Prärien und brachten
das Korn mit ganz geringen Transportkosten nach den Häfen, wo eine staunens¬
wert entwickelte Dampferflotte seiner harrte und es für ebenfalls stark ge-
sunkne Frachten zu den dichtbevölkerten Verbrauchsstätten Europas hinüber
führte. Überdies verwandelte der amerikanische Farmer durch seine Viehzucht
den billigen Mais in Speck, Schinken und Pökelfleisch und machte dadurch
der deutschen Viehzucht empfindliche Konkurrenz. Gegen das Ende des Jahr¬
hunderts trat mit wachsender Bedeutung die argentinische Produktion an die
Seite der nordamerikanischen, wo die kanadische einen fortwährend wachsenden
Umfang einnimmt. Auch Australien ist für Weizen, Hammelfleisch und Talg ein
Großproduzent geworden, endlich Argentinien, Südafrika und Australien für


Grenzboten I 190S 41


Die neuen Handelsverträge

! in Werk von höchster Bedeutung hat der Reichskanzler im Namen
der verbündeten Regierungen dem Reichstage vorgelegt: sieben
Handelsverträge, Sie sind bestimmt, das ganze Gefüge unsers
internationalen Warenaustausches umzugestalten und dadurch auf
I die Verteilung des deutschen Nationaleinkommens nachhaltig ein¬
zuwirken. Diese Einwirkung wird von den einen gepriesen, von den andern
scharf verurteilt, von den dritten für völlig ungenügend erklärt. Es ist nicht
möglich, ein Urteil zu fällen, das alle für richtig erklären; allseitige Zu¬
stimmung hat auch die Regierung für ihr Werk nicht zu gewinnen vermocht,
obwohl die Annahme im Reichstag sicher ist. Wir überlassen Lob und Tadel
den Parteien und schildern hier nur objektiv den Tatbestand, nicht nach Zahlen
und nach Tarifpositionen, sondern nach den leitenden Gedanken und den ma߬
gebenden Umständen.

Zwei tiefgreifende Tatsachen haben die Abwendung Deutschlands vom
Freihandel verursacht: die Erschließung der neuen Kontinente für die Massen¬
erzeugung von Lebensmitteln und die Bevölkerungszunahme Deutschlands,
die unser Vaterland aus einem Lebensmittel ausführenden in ein Lebensmittel
einführendes und Fabrikate in großen Mengen ausführendes Land verwandelt
hat. Mit der ersten Tatsache war ein niemals zuvor gekannter Sturz der
Lebensmittel-, namentlich der Getreidepreise verbunden. Die Ungeheuern Ebenen
des nordamerikanischen Westens wurden besiedelt und bedeckten sich mit Mais¬
und Weizenfeldern. Eisenbahnen durchzogen die weiten Prärien und brachten
das Korn mit ganz geringen Transportkosten nach den Häfen, wo eine staunens¬
wert entwickelte Dampferflotte seiner harrte und es für ebenfalls stark ge-
sunkne Frachten zu den dichtbevölkerten Verbrauchsstätten Europas hinüber
führte. Überdies verwandelte der amerikanische Farmer durch seine Viehzucht
den billigen Mais in Speck, Schinken und Pökelfleisch und machte dadurch
der deutschen Viehzucht empfindliche Konkurrenz. Gegen das Ende des Jahr¬
hunderts trat mit wachsender Bedeutung die argentinische Produktion an die
Seite der nordamerikanischen, wo die kanadische einen fortwährend wachsenden
Umfang einnimmt. Auch Australien ist für Weizen, Hammelfleisch und Talg ein
Großproduzent geworden, endlich Argentinien, Südafrika und Australien für


Grenzboten I 190S 41
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[0309] [Abbildung] Die neuen Handelsverträge ! in Werk von höchster Bedeutung hat der Reichskanzler im Namen der verbündeten Regierungen dem Reichstage vorgelegt: sieben Handelsverträge, Sie sind bestimmt, das ganze Gefüge unsers internationalen Warenaustausches umzugestalten und dadurch auf I die Verteilung des deutschen Nationaleinkommens nachhaltig ein¬ zuwirken. Diese Einwirkung wird von den einen gepriesen, von den andern scharf verurteilt, von den dritten für völlig ungenügend erklärt. Es ist nicht möglich, ein Urteil zu fällen, das alle für richtig erklären; allseitige Zu¬ stimmung hat auch die Regierung für ihr Werk nicht zu gewinnen vermocht, obwohl die Annahme im Reichstag sicher ist. Wir überlassen Lob und Tadel den Parteien und schildern hier nur objektiv den Tatbestand, nicht nach Zahlen und nach Tarifpositionen, sondern nach den leitenden Gedanken und den ma߬ gebenden Umständen. Zwei tiefgreifende Tatsachen haben die Abwendung Deutschlands vom Freihandel verursacht: die Erschließung der neuen Kontinente für die Massen¬ erzeugung von Lebensmitteln und die Bevölkerungszunahme Deutschlands, die unser Vaterland aus einem Lebensmittel ausführenden in ein Lebensmittel einführendes und Fabrikate in großen Mengen ausführendes Land verwandelt hat. Mit der ersten Tatsache war ein niemals zuvor gekannter Sturz der Lebensmittel-, namentlich der Getreidepreise verbunden. Die Ungeheuern Ebenen des nordamerikanischen Westens wurden besiedelt und bedeckten sich mit Mais¬ und Weizenfeldern. Eisenbahnen durchzogen die weiten Prärien und brachten das Korn mit ganz geringen Transportkosten nach den Häfen, wo eine staunens¬ wert entwickelte Dampferflotte seiner harrte und es für ebenfalls stark ge- sunkne Frachten zu den dichtbevölkerten Verbrauchsstätten Europas hinüber führte. Überdies verwandelte der amerikanische Farmer durch seine Viehzucht den billigen Mais in Speck, Schinken und Pökelfleisch und machte dadurch der deutschen Viehzucht empfindliche Konkurrenz. Gegen das Ende des Jahr¬ hunderts trat mit wachsender Bedeutung die argentinische Produktion an die Seite der nordamerikanischen, wo die kanadische einen fortwährend wachsenden Umfang einnimmt. Auch Australien ist für Weizen, Hammelfleisch und Talg ein Großproduzent geworden, endlich Argentinien, Südafrika und Australien für Grenzboten I 190S 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/309>, abgerufen am 23.07.2024.