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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

war eine Massenpetition an den Zaren angekündigt, den man im Winterpalais zu
finden hoffte. In den Forderungen der Arbeiter war -- und das ist das Cha¬
rakteristische -- neben dem Verlangen nach Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage
auch eine Konstitution enthalten, und die Art, wie man vorging, war echt russisch:
unbewaffnet, Priester, Heiligenbilder, Kreuze und Bilder des Zaren voran, drängten
die Massen von den nördlichen Jnselstadtteilen über die Brücken und aus dem
Süden nach dem Winterpalais, um ihre Not und ihre Bitten vertrauensvoll dem
"Väterchen Zar" vorzutragen, denn wer konnte ihnen helfen, wenn nicht der
"weiße, d. i. der gute Zar," der immer wieder seine väterliche, patriarchalische
Gewalt als etwas Urrussisches betonte, und der doch nun auch als ein Vater an
seinen Kindern handeln mußte? Revolutionär waren also diese Massen keineswegs.
Eine fürchterliche, grausame Enttäuschung folgte. Salven auf Salven schmettern in
die wehrlosen dichtgedrängten Haufen am Ausgange auf dem Newskijprospekt, der
Schloßbrücke, am Winterpalais, am nahen Admiralitätsgarten, am Narwatore im
Süden, nach Hunderten zählen die Toten und Verwundeten. Auch das war russisch,
echt russische Brutalität. Hat der Zar, der freilich in Zarskoje-Scio, dem Riesen¬
schlosse Katharinas der Zweiten, vier Stunden südlich von der Hauptstadt war,
davon gewußt? Schwerlich, denn er wird, wie es scheint, von seiner Umgebung
fortgesetzt im unklaren gehalten. Wäre ihm die Sachlage richtig dargestellt worden,
warum hätte er da nicht vor der Katastrophe erklären können, er verbitte sich
zwar jeden Massenaufmarsch, aber eine Deputation der Arbeiter wolle er empfangen?
Damit wäre die Katastrophe vermieden worden, oder wenn die Massen dann doch
noch andrängten, auch Gewaltanwendung in ihrer Abwehr berechtigt gewesen. Und
was hat nun die autokratische Partei, die das Blutbad wahrscheinlich mit kaltem
Blute gewollt hat, erreicht? Nicht Schrecke" hat sie erregt, wie sie doch beabsichtigt
hat, sondern Erbitterung, und das Zartnm selbst hat sie in den Augen der Massen
schwer kompromittiert. Der Streik geht weiter, und allerlei Zerstörungen beginnen.
Die Gewehrfabrik in Sestrorjezk, der beliebten Sommerfrische am Finnischen Meer¬
busen, im Nordwesten von Petersburg und die Eisenbahn nach Zarskoje-Scio werden
zerstört, die Elektrizitätswerke stehn still, und große Teile der Stadt hüllen sich in
das Dunkel einer endlosen Winternacht, die Arbeiter von Kalpino an der Jshvra
im Südosten marschieren auf das nahe Zarskoje-Scio und können nnr durch Militär
zurückgetrieben werden, einige große Fabriken werden in Brand gesteckt und andres
mehr. Und nun geht die Streitbewegung durch das ganze ungeheure Reich von
der Ostsee bis zum Schwarzen Meere; sie kommt in Moskau, Kiew, Odessa,
Saratow und auf der andern Seite in Lodz, Warschau, Kowno, Mitau, Riga,
Reval, Libau zum Ausbruch, und hier und da gibt es auch Tote und Verwundete;
die Schiffswerften liegen still, und in Sewastopol werden die Marinedepots von
meuterischen Matrosen angezündet. Der Verkehr stockt, die Zeitungen stellen ihr
Erscheinen ein, sodaß man in Petersburg selbst vou deu Ereignissen weniger weiß
als im Auslande, und die "Intelligenz" schließt sich der Bewegung an. Da die
Hochschulen in Petersburg geschlossen worden sind, so werden die allezeit unruhigen
Studenten mobil, das Begräbnis eines erschossenen Polytechnikers gestaltet sich zu
einer lauten Kundgebung gegen die Autokratie, die Petersburger Advokaten stellen
ihre Tätigkeit ein, zweihundertfunfzig Liberale veröffentlichen mit Namensunterschrift
eine Erklärung gegen den Absolutismus, und die Moskaner Zeitung, ihr an¬
gesehenstes Organ, erklärt ihn rundheraus für unhaltbar und droht mit der Selbst¬
hilfe des Volks; auch die Semstwa beginnen sich wieder zu rühren. Bei alledem
ist charakteristisch, daß das Landvolk ruhig bleibt, weil es eben, in meist kleinen
Dörfern über unermeßliche Räume verteilt, in der "breiten Stille," der LolüroK^g,
tisebius,, wie die Russen sagen, dahinlebend, unter sich und mit der Welt fast ohne
Verbindung ist; die Bewegung geht durchaus von den Städten aus.

Nun macht sie, namentlich in der merkwürdigen Solidarität der Arbeiter in
einem so großen Lande, ganz den Eindruck, als ob sie planmäßig vorbereitet wäre


Maßgebliches und Unmaßgebliches

war eine Massenpetition an den Zaren angekündigt, den man im Winterpalais zu
finden hoffte. In den Forderungen der Arbeiter war — und das ist das Cha¬
rakteristische — neben dem Verlangen nach Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage
auch eine Konstitution enthalten, und die Art, wie man vorging, war echt russisch:
unbewaffnet, Priester, Heiligenbilder, Kreuze und Bilder des Zaren voran, drängten
die Massen von den nördlichen Jnselstadtteilen über die Brücken und aus dem
Süden nach dem Winterpalais, um ihre Not und ihre Bitten vertrauensvoll dem
„Väterchen Zar" vorzutragen, denn wer konnte ihnen helfen, wenn nicht der
„weiße, d. i. der gute Zar," der immer wieder seine väterliche, patriarchalische
Gewalt als etwas Urrussisches betonte, und der doch nun auch als ein Vater an
seinen Kindern handeln mußte? Revolutionär waren also diese Massen keineswegs.
Eine fürchterliche, grausame Enttäuschung folgte. Salven auf Salven schmettern in
die wehrlosen dichtgedrängten Haufen am Ausgange auf dem Newskijprospekt, der
Schloßbrücke, am Winterpalais, am nahen Admiralitätsgarten, am Narwatore im
Süden, nach Hunderten zählen die Toten und Verwundeten. Auch das war russisch,
echt russische Brutalität. Hat der Zar, der freilich in Zarskoje-Scio, dem Riesen¬
schlosse Katharinas der Zweiten, vier Stunden südlich von der Hauptstadt war,
davon gewußt? Schwerlich, denn er wird, wie es scheint, von seiner Umgebung
fortgesetzt im unklaren gehalten. Wäre ihm die Sachlage richtig dargestellt worden,
warum hätte er da nicht vor der Katastrophe erklären können, er verbitte sich
zwar jeden Massenaufmarsch, aber eine Deputation der Arbeiter wolle er empfangen?
Damit wäre die Katastrophe vermieden worden, oder wenn die Massen dann doch
noch andrängten, auch Gewaltanwendung in ihrer Abwehr berechtigt gewesen. Und
was hat nun die autokratische Partei, die das Blutbad wahrscheinlich mit kaltem
Blute gewollt hat, erreicht? Nicht Schrecke» hat sie erregt, wie sie doch beabsichtigt
hat, sondern Erbitterung, und das Zartnm selbst hat sie in den Augen der Massen
schwer kompromittiert. Der Streik geht weiter, und allerlei Zerstörungen beginnen.
Die Gewehrfabrik in Sestrorjezk, der beliebten Sommerfrische am Finnischen Meer¬
busen, im Nordwesten von Petersburg und die Eisenbahn nach Zarskoje-Scio werden
zerstört, die Elektrizitätswerke stehn still, und große Teile der Stadt hüllen sich in
das Dunkel einer endlosen Winternacht, die Arbeiter von Kalpino an der Jshvra
im Südosten marschieren auf das nahe Zarskoje-Scio und können nnr durch Militär
zurückgetrieben werden, einige große Fabriken werden in Brand gesteckt und andres
mehr. Und nun geht die Streitbewegung durch das ganze ungeheure Reich von
der Ostsee bis zum Schwarzen Meere; sie kommt in Moskau, Kiew, Odessa,
Saratow und auf der andern Seite in Lodz, Warschau, Kowno, Mitau, Riga,
Reval, Libau zum Ausbruch, und hier und da gibt es auch Tote und Verwundete;
die Schiffswerften liegen still, und in Sewastopol werden die Marinedepots von
meuterischen Matrosen angezündet. Der Verkehr stockt, die Zeitungen stellen ihr
Erscheinen ein, sodaß man in Petersburg selbst vou deu Ereignissen weniger weiß
als im Auslande, und die „Intelligenz" schließt sich der Bewegung an. Da die
Hochschulen in Petersburg geschlossen worden sind, so werden die allezeit unruhigen
Studenten mobil, das Begräbnis eines erschossenen Polytechnikers gestaltet sich zu
einer lauten Kundgebung gegen die Autokratie, die Petersburger Advokaten stellen
ihre Tätigkeit ein, zweihundertfunfzig Liberale veröffentlichen mit Namensunterschrift
eine Erklärung gegen den Absolutismus, und die Moskaner Zeitung, ihr an¬
gesehenstes Organ, erklärt ihn rundheraus für unhaltbar und droht mit der Selbst¬
hilfe des Volks; auch die Semstwa beginnen sich wieder zu rühren. Bei alledem
ist charakteristisch, daß das Landvolk ruhig bleibt, weil es eben, in meist kleinen
Dörfern über unermeßliche Räume verteilt, in der „breiten Stille," der LolüroK^g,
tisebius,, wie die Russen sagen, dahinlebend, unter sich und mit der Welt fast ohne
Verbindung ist; die Bewegung geht durchaus von den Städten aus.

Nun macht sie, namentlich in der merkwürdigen Solidarität der Arbeiter in
einem so großen Lande, ganz den Eindruck, als ob sie planmäßig vorbereitet wäre


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[0306] Maßgebliches und Unmaßgebliches war eine Massenpetition an den Zaren angekündigt, den man im Winterpalais zu finden hoffte. In den Forderungen der Arbeiter war — und das ist das Cha¬ rakteristische — neben dem Verlangen nach Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage auch eine Konstitution enthalten, und die Art, wie man vorging, war echt russisch: unbewaffnet, Priester, Heiligenbilder, Kreuze und Bilder des Zaren voran, drängten die Massen von den nördlichen Jnselstadtteilen über die Brücken und aus dem Süden nach dem Winterpalais, um ihre Not und ihre Bitten vertrauensvoll dem „Väterchen Zar" vorzutragen, denn wer konnte ihnen helfen, wenn nicht der „weiße, d. i. der gute Zar," der immer wieder seine väterliche, patriarchalische Gewalt als etwas Urrussisches betonte, und der doch nun auch als ein Vater an seinen Kindern handeln mußte? Revolutionär waren also diese Massen keineswegs. Eine fürchterliche, grausame Enttäuschung folgte. Salven auf Salven schmettern in die wehrlosen dichtgedrängten Haufen am Ausgange auf dem Newskijprospekt, der Schloßbrücke, am Winterpalais, am nahen Admiralitätsgarten, am Narwatore im Süden, nach Hunderten zählen die Toten und Verwundeten. Auch das war russisch, echt russische Brutalität. Hat der Zar, der freilich in Zarskoje-Scio, dem Riesen¬ schlosse Katharinas der Zweiten, vier Stunden südlich von der Hauptstadt war, davon gewußt? Schwerlich, denn er wird, wie es scheint, von seiner Umgebung fortgesetzt im unklaren gehalten. Wäre ihm die Sachlage richtig dargestellt worden, warum hätte er da nicht vor der Katastrophe erklären können, er verbitte sich zwar jeden Massenaufmarsch, aber eine Deputation der Arbeiter wolle er empfangen? Damit wäre die Katastrophe vermieden worden, oder wenn die Massen dann doch noch andrängten, auch Gewaltanwendung in ihrer Abwehr berechtigt gewesen. Und was hat nun die autokratische Partei, die das Blutbad wahrscheinlich mit kaltem Blute gewollt hat, erreicht? Nicht Schrecke» hat sie erregt, wie sie doch beabsichtigt hat, sondern Erbitterung, und das Zartnm selbst hat sie in den Augen der Massen schwer kompromittiert. Der Streik geht weiter, und allerlei Zerstörungen beginnen. Die Gewehrfabrik in Sestrorjezk, der beliebten Sommerfrische am Finnischen Meer¬ busen, im Nordwesten von Petersburg und die Eisenbahn nach Zarskoje-Scio werden zerstört, die Elektrizitätswerke stehn still, und große Teile der Stadt hüllen sich in das Dunkel einer endlosen Winternacht, die Arbeiter von Kalpino an der Jshvra im Südosten marschieren auf das nahe Zarskoje-Scio und können nnr durch Militär zurückgetrieben werden, einige große Fabriken werden in Brand gesteckt und andres mehr. Und nun geht die Streitbewegung durch das ganze ungeheure Reich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere; sie kommt in Moskau, Kiew, Odessa, Saratow und auf der andern Seite in Lodz, Warschau, Kowno, Mitau, Riga, Reval, Libau zum Ausbruch, und hier und da gibt es auch Tote und Verwundete; die Schiffswerften liegen still, und in Sewastopol werden die Marinedepots von meuterischen Matrosen angezündet. Der Verkehr stockt, die Zeitungen stellen ihr Erscheinen ein, sodaß man in Petersburg selbst vou deu Ereignissen weniger weiß als im Auslande, und die „Intelligenz" schließt sich der Bewegung an. Da die Hochschulen in Petersburg geschlossen worden sind, so werden die allezeit unruhigen Studenten mobil, das Begräbnis eines erschossenen Polytechnikers gestaltet sich zu einer lauten Kundgebung gegen die Autokratie, die Petersburger Advokaten stellen ihre Tätigkeit ein, zweihundertfunfzig Liberale veröffentlichen mit Namensunterschrift eine Erklärung gegen den Absolutismus, und die Moskaner Zeitung, ihr an¬ gesehenstes Organ, erklärt ihn rundheraus für unhaltbar und droht mit der Selbst¬ hilfe des Volks; auch die Semstwa beginnen sich wieder zu rühren. Bei alledem ist charakteristisch, daß das Landvolk ruhig bleibt, weil es eben, in meist kleinen Dörfern über unermeßliche Räume verteilt, in der „breiten Stille," der LolüroK^g, tisebius,, wie die Russen sagen, dahinlebend, unter sich und mit der Welt fast ohne Verbindung ist; die Bewegung geht durchaus von den Städten aus. Nun macht sie, namentlich in der merkwürdigen Solidarität der Arbeiter in einem so großen Lande, ganz den Eindruck, als ob sie planmäßig vorbereitet wäre

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/306>, abgerufen am 23.07.2024.