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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Schriften und Gedanken zur Flottenfmge

leisten zu können." Wie verhängnisvoll Schwäche zur See werden kann, haben
die Kriege des letzten Jahrzehnts deutlich genug gezeigt. Die Milliarden
deutschen Eigentums, die auf allen Meeren der Erde schwimmen oder in über¬
seeischen Ländern nutzbringend angelegt sind, sie reizen die Beutelust fremder
Seemächte von Tag zu Tag mehr. Wenn wir Deutschen eben nicht weltfremde
Träumer wären, sondern sindige Geschäftsleute, wie unsre angelsächsischen
Vettern, so hätten wir längst die Flotte, die wir brauchen. Jetzt ist die Arbeit
von mindestens zwei Jahrzehnten, wenn man nur vom Zeitpunkte der Reichs-
gründung an rechnet, nachzuholen. Neuhaus bemerkt sehr richtig, daß wir die
Flotte, die das Flottengesetz von 1900 uns bis zum Jahre 1920 schaffen soll
(wenn die friedliche Entwicklung bis dahin nicht von fremden Seemächten ge¬
stört wird), daß wir eine solche Flotte schon 1900 nötig gehabt hätten; und er
befürchtet, daß alle bisherigen Aufwendungen vergebens gewesen sein könnten,
falls das deutsche Volk sich nicht in der letzten Stunde zu noch viel größern
Anstrengungen, zu wirklichen Opfern für den beschleunigten Ausbau der Flotte
aufrafft. Die politische Lage beurteilt Neuhaus durchaus richtig: "Unsre
Stellung auf dem Festlande war seit den Tagen von Kronstäbe und Toulon
niemals auch nur annähernd so gesichert wie heute. Und doch diese politische
Gewitterschwüle, dieser weitverbreitete Pessimismus, das Bewußtsein nahe
drohender Gefahr; das allmählich auch in weitern Schichten Eingang findende
Gefühl, daß die Friedlichkeit der eignen Politik nicht mehr genügt, den Frieden
anch tatsächlich zu gewährleisten. Ist das nicht Beweises genug, wie furchtbar
unsre Verwundbarkeit zur See sich gesteigert hat? Wir haben heute mehr zu ver¬
teidigen denn je, und unsre Rüstung ist leider nicht relativ stärker geworden!"

Nach einer kurzen Besprechung des augenblicklichen Zustands der deutschen
Kriegsflotte vergleicht der Verfasser unsre Flotte mit denen der vier größern
Seemächte; er benutzt dazu die zuverlässige Zusammenstellung aus dem neuesten
Nauticus-Jahrbuche sowie auch dessen ausführliche Schiffskisten. Nach einigen
marinetechnischen Erläuterungen kommt Neuhaus dabei zu dem Schlüsse, daß
wir noch immer zur See schwächer sind als jeder Gegner, mit dem wir
kriegerisch zusammengeraten könnten, trotzdem daß wir an Bedeutung und Um¬
fang der Secinteressen der zweite Großstaat sind. Weil eine ungenügende Flotte
am teuersten sein würde, findet Neuhaus eine neue Formel für die Stärke¬
bestimmung der deutschen Flotte in dem Grundsatze: unsre Flotte müsse jeder
einzelnen Seemacht außer England gewachsen sein und müsse auch stark genug
sein, im Bunde mit einer dritten Seemacht sogar England im Notfalle die
Spitze bieten zu können. Das ist kein unerreichbares Ziel, trotzdem daß wir
vorläufig noch recht fern davon sind. Es liegt nur an uns, daß wir mit
unsrer Flottenentwicklung nicht hinter den Vereinigten Staaten und Frankreich
zurückbleiben; beide Staaten haben viel weniger ans See zu verlieren als wir.
Auch in diesem Grundsätze kann man dem sachlichen, nüchternen Urteil des Ver¬
fassers voll beistimmen. Seine technischen Ausführungen, in denen er die Er¬
fahrungen aus den letzten Seekämpfen beleuchtet, sind ebenfalls verständig; er
sieht, wie alle ernsthaften Fachleute, den Kern der Flotte in den Linienschiffen
und erkennt die Bedeutungslosigkeit der russischen Erfolge im Krenzerkrieg.


Schriften und Gedanken zur Flottenfmge

leisten zu können." Wie verhängnisvoll Schwäche zur See werden kann, haben
die Kriege des letzten Jahrzehnts deutlich genug gezeigt. Die Milliarden
deutschen Eigentums, die auf allen Meeren der Erde schwimmen oder in über¬
seeischen Ländern nutzbringend angelegt sind, sie reizen die Beutelust fremder
Seemächte von Tag zu Tag mehr. Wenn wir Deutschen eben nicht weltfremde
Träumer wären, sondern sindige Geschäftsleute, wie unsre angelsächsischen
Vettern, so hätten wir längst die Flotte, die wir brauchen. Jetzt ist die Arbeit
von mindestens zwei Jahrzehnten, wenn man nur vom Zeitpunkte der Reichs-
gründung an rechnet, nachzuholen. Neuhaus bemerkt sehr richtig, daß wir die
Flotte, die das Flottengesetz von 1900 uns bis zum Jahre 1920 schaffen soll
(wenn die friedliche Entwicklung bis dahin nicht von fremden Seemächten ge¬
stört wird), daß wir eine solche Flotte schon 1900 nötig gehabt hätten; und er
befürchtet, daß alle bisherigen Aufwendungen vergebens gewesen sein könnten,
falls das deutsche Volk sich nicht in der letzten Stunde zu noch viel größern
Anstrengungen, zu wirklichen Opfern für den beschleunigten Ausbau der Flotte
aufrafft. Die politische Lage beurteilt Neuhaus durchaus richtig: „Unsre
Stellung auf dem Festlande war seit den Tagen von Kronstäbe und Toulon
niemals auch nur annähernd so gesichert wie heute. Und doch diese politische
Gewitterschwüle, dieser weitverbreitete Pessimismus, das Bewußtsein nahe
drohender Gefahr; das allmählich auch in weitern Schichten Eingang findende
Gefühl, daß die Friedlichkeit der eignen Politik nicht mehr genügt, den Frieden
anch tatsächlich zu gewährleisten. Ist das nicht Beweises genug, wie furchtbar
unsre Verwundbarkeit zur See sich gesteigert hat? Wir haben heute mehr zu ver¬
teidigen denn je, und unsre Rüstung ist leider nicht relativ stärker geworden!"

Nach einer kurzen Besprechung des augenblicklichen Zustands der deutschen
Kriegsflotte vergleicht der Verfasser unsre Flotte mit denen der vier größern
Seemächte; er benutzt dazu die zuverlässige Zusammenstellung aus dem neuesten
Nauticus-Jahrbuche sowie auch dessen ausführliche Schiffskisten. Nach einigen
marinetechnischen Erläuterungen kommt Neuhaus dabei zu dem Schlüsse, daß
wir noch immer zur See schwächer sind als jeder Gegner, mit dem wir
kriegerisch zusammengeraten könnten, trotzdem daß wir an Bedeutung und Um¬
fang der Secinteressen der zweite Großstaat sind. Weil eine ungenügende Flotte
am teuersten sein würde, findet Neuhaus eine neue Formel für die Stärke¬
bestimmung der deutschen Flotte in dem Grundsatze: unsre Flotte müsse jeder
einzelnen Seemacht außer England gewachsen sein und müsse auch stark genug
sein, im Bunde mit einer dritten Seemacht sogar England im Notfalle die
Spitze bieten zu können. Das ist kein unerreichbares Ziel, trotzdem daß wir
vorläufig noch recht fern davon sind. Es liegt nur an uns, daß wir mit
unsrer Flottenentwicklung nicht hinter den Vereinigten Staaten und Frankreich
zurückbleiben; beide Staaten haben viel weniger ans See zu verlieren als wir.
Auch in diesem Grundsätze kann man dem sachlichen, nüchternen Urteil des Ver¬
fassers voll beistimmen. Seine technischen Ausführungen, in denen er die Er¬
fahrungen aus den letzten Seekämpfen beleuchtet, sind ebenfalls verständig; er
sieht, wie alle ernsthaften Fachleute, den Kern der Flotte in den Linienschiffen
und erkennt die Bedeutungslosigkeit der russischen Erfolge im Krenzerkrieg.


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[0262] Schriften und Gedanken zur Flottenfmge leisten zu können." Wie verhängnisvoll Schwäche zur See werden kann, haben die Kriege des letzten Jahrzehnts deutlich genug gezeigt. Die Milliarden deutschen Eigentums, die auf allen Meeren der Erde schwimmen oder in über¬ seeischen Ländern nutzbringend angelegt sind, sie reizen die Beutelust fremder Seemächte von Tag zu Tag mehr. Wenn wir Deutschen eben nicht weltfremde Träumer wären, sondern sindige Geschäftsleute, wie unsre angelsächsischen Vettern, so hätten wir längst die Flotte, die wir brauchen. Jetzt ist die Arbeit von mindestens zwei Jahrzehnten, wenn man nur vom Zeitpunkte der Reichs- gründung an rechnet, nachzuholen. Neuhaus bemerkt sehr richtig, daß wir die Flotte, die das Flottengesetz von 1900 uns bis zum Jahre 1920 schaffen soll (wenn die friedliche Entwicklung bis dahin nicht von fremden Seemächten ge¬ stört wird), daß wir eine solche Flotte schon 1900 nötig gehabt hätten; und er befürchtet, daß alle bisherigen Aufwendungen vergebens gewesen sein könnten, falls das deutsche Volk sich nicht in der letzten Stunde zu noch viel größern Anstrengungen, zu wirklichen Opfern für den beschleunigten Ausbau der Flotte aufrafft. Die politische Lage beurteilt Neuhaus durchaus richtig: „Unsre Stellung auf dem Festlande war seit den Tagen von Kronstäbe und Toulon niemals auch nur annähernd so gesichert wie heute. Und doch diese politische Gewitterschwüle, dieser weitverbreitete Pessimismus, das Bewußtsein nahe drohender Gefahr; das allmählich auch in weitern Schichten Eingang findende Gefühl, daß die Friedlichkeit der eignen Politik nicht mehr genügt, den Frieden anch tatsächlich zu gewährleisten. Ist das nicht Beweises genug, wie furchtbar unsre Verwundbarkeit zur See sich gesteigert hat? Wir haben heute mehr zu ver¬ teidigen denn je, und unsre Rüstung ist leider nicht relativ stärker geworden!" Nach einer kurzen Besprechung des augenblicklichen Zustands der deutschen Kriegsflotte vergleicht der Verfasser unsre Flotte mit denen der vier größern Seemächte; er benutzt dazu die zuverlässige Zusammenstellung aus dem neuesten Nauticus-Jahrbuche sowie auch dessen ausführliche Schiffskisten. Nach einigen marinetechnischen Erläuterungen kommt Neuhaus dabei zu dem Schlüsse, daß wir noch immer zur See schwächer sind als jeder Gegner, mit dem wir kriegerisch zusammengeraten könnten, trotzdem daß wir an Bedeutung und Um¬ fang der Secinteressen der zweite Großstaat sind. Weil eine ungenügende Flotte am teuersten sein würde, findet Neuhaus eine neue Formel für die Stärke¬ bestimmung der deutschen Flotte in dem Grundsatze: unsre Flotte müsse jeder einzelnen Seemacht außer England gewachsen sein und müsse auch stark genug sein, im Bunde mit einer dritten Seemacht sogar England im Notfalle die Spitze bieten zu können. Das ist kein unerreichbares Ziel, trotzdem daß wir vorläufig noch recht fern davon sind. Es liegt nur an uns, daß wir mit unsrer Flottenentwicklung nicht hinter den Vereinigten Staaten und Frankreich zurückbleiben; beide Staaten haben viel weniger ans See zu verlieren als wir. Auch in diesem Grundsätze kann man dem sachlichen, nüchternen Urteil des Ver¬ fassers voll beistimmen. Seine technischen Ausführungen, in denen er die Er¬ fahrungen aus den letzten Seekämpfen beleuchtet, sind ebenfalls verständig; er sieht, wie alle ernsthaften Fachleute, den Kern der Flotte in den Linienschiffen und erkennt die Bedeutungslosigkeit der russischen Erfolge im Krenzerkrieg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/262>, abgerufen am 22.12.2024.