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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Schriften und Gedanken zur Flottenfrage

darum ist der Machtzuwachs im Vergleiche zu der Flvtteustärkc andrer See¬
mächte immer noch recht gering geblieben.

Gut Ding will Weile haben -- eine starke Flotte läßt sich nicht aus dem
Boden stampfen, sie bedarf zäher Arbeit während vieler gesegneter Friedens¬
jahre. Jede Überhastung würde sich ebenso schädlich erweisen wie die frühere
Vernachlässigung; nur eine stetige Entwicklung ist gesund und erhält den großen
Betrieb, wie es eine Flotte ist, lebenskräftig. Unsre Flotte soll die Bedrohung
Deutschlands und des deutschen überseeischen Handels durch mächtige Gegner
unwirksam machen; daß wir zur Erfüllung dieses Zwecks schon heute eigentlich
eine viel stärkere Flotte, als wir sie jetzt haben, notwendig brauchen, weiß seit
der tatkräftigen Aufklärungsarbeit schon fast jeder Quartaner im ganzen Deutschen
Reiche. Wir sind also Gott sei Dank in den zweiten Abschnitt der Erörterungen
über die Flottenfrage eingetreten. Die Notwendigkeit einer möglichst starken
deutschen Flotte ist anerkannt, jetzt kommt es hauptsächlich darauf an, darüber
nachzudenken, wie sich der Ausbau der Flotte noch beschleunigen läßt, ohne daß
dabei schädliche Nberhastung eintritt. Einige von den Veröffentlichungen, die in
der letzten Zeit diesem Zwecke zu dienen bestrebt sind, sollen hier betrachtet
werden.

Erich Neuhaus geht in seiner sehr lesenswerten Schrift: "Die Flottenfrage
unter den wirtschaftspolitischen und technischen Voraussetzungen der Gegenwart"
(Leipzig, Felix Dietrich, Preis 1 Mark) von dem vorzüglichen Grundgedanken
aus: "Der bewaffnete Friede ist der dauerhafteste, und die schwerste Friedens¬
rüstung ist billiger als ein verlorner Krieg." Dieser Kernsatz sollte in Riesen¬
buchstaben im Sitzungssaale des Reichstagsgebäudes als Menetekel an der
Wand stehn! Der Verfasser bemüht sich, die Flottenfrage vom Standpunkte
des volkswirtschaftlichen Bedürfnisses zu betrachten; er meint, die Flotte hätte
uns bisher gefehlt, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein Bedürfnis
nach Schutz zur See -- also Seehandel und überseeischer Landbesitz -- gefehlt
hätten, aber er gibt doch auch zu, daß die glänzenden Erfolge auf dem Lande,
die das Deutsche Reich neu begründeten, auch daran schuld waren, daß das
gesamte Volk und sein Reichstag den Einfluß der Seemacht unterschätzten.
Auch das Schlagwort vom "gesättigten" Deutschland schadete der Flotten-
cntwicklung. Der mächtige Zuwachs an Linienschiffen bei den fremden See¬
mächten wurde in Deutschland erst beachtet, als Kaiser Wilhelm der Zweite
fast unmittelbar nach dem Antritt der Regierung auf das krasse Mißverhältnis
der deutschen Flotte zu den fremden hinwies. Schon im vorhergehenden Jahr¬
zehnt hatte die Gewerbctätigkeit mächtig zugenommen, weil die Bevölkerung
schon 1890 seit dem Krieg um zehn Millionen Köpfe gewachsen war. Das
Aufblühu der Industrie machte Deutschland seitdem immer abhängiger von dem
Erwerb überseeischer Rohstoffe und von dem Absatz der eignen GeWerbearbeit
an überseeische Kundschaft. Auch die starke Zunahme der deutschen Handels¬
flotte schuf für Deutschland eine gefährliche Lage: übelwollende seemächtige
Nebenbuhler sahen und sehen auch heute noch mit scheelen Blicken auf den
lästigen, erfolgreichen Mitbewerber. Sehr richtig sagt Neuhaus: "Man war
zu groß und zu reich geworden, um sich den Luxus der Schwäche uoch länger


Schriften und Gedanken zur Flottenfrage

darum ist der Machtzuwachs im Vergleiche zu der Flvtteustärkc andrer See¬
mächte immer noch recht gering geblieben.

Gut Ding will Weile haben — eine starke Flotte läßt sich nicht aus dem
Boden stampfen, sie bedarf zäher Arbeit während vieler gesegneter Friedens¬
jahre. Jede Überhastung würde sich ebenso schädlich erweisen wie die frühere
Vernachlässigung; nur eine stetige Entwicklung ist gesund und erhält den großen
Betrieb, wie es eine Flotte ist, lebenskräftig. Unsre Flotte soll die Bedrohung
Deutschlands und des deutschen überseeischen Handels durch mächtige Gegner
unwirksam machen; daß wir zur Erfüllung dieses Zwecks schon heute eigentlich
eine viel stärkere Flotte, als wir sie jetzt haben, notwendig brauchen, weiß seit
der tatkräftigen Aufklärungsarbeit schon fast jeder Quartaner im ganzen Deutschen
Reiche. Wir sind also Gott sei Dank in den zweiten Abschnitt der Erörterungen
über die Flottenfrage eingetreten. Die Notwendigkeit einer möglichst starken
deutschen Flotte ist anerkannt, jetzt kommt es hauptsächlich darauf an, darüber
nachzudenken, wie sich der Ausbau der Flotte noch beschleunigen läßt, ohne daß
dabei schädliche Nberhastung eintritt. Einige von den Veröffentlichungen, die in
der letzten Zeit diesem Zwecke zu dienen bestrebt sind, sollen hier betrachtet
werden.

Erich Neuhaus geht in seiner sehr lesenswerten Schrift: „Die Flottenfrage
unter den wirtschaftspolitischen und technischen Voraussetzungen der Gegenwart"
(Leipzig, Felix Dietrich, Preis 1 Mark) von dem vorzüglichen Grundgedanken
aus: „Der bewaffnete Friede ist der dauerhafteste, und die schwerste Friedens¬
rüstung ist billiger als ein verlorner Krieg." Dieser Kernsatz sollte in Riesen¬
buchstaben im Sitzungssaale des Reichstagsgebäudes als Menetekel an der
Wand stehn! Der Verfasser bemüht sich, die Flottenfrage vom Standpunkte
des volkswirtschaftlichen Bedürfnisses zu betrachten; er meint, die Flotte hätte
uns bisher gefehlt, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein Bedürfnis
nach Schutz zur See — also Seehandel und überseeischer Landbesitz — gefehlt
hätten, aber er gibt doch auch zu, daß die glänzenden Erfolge auf dem Lande,
die das Deutsche Reich neu begründeten, auch daran schuld waren, daß das
gesamte Volk und sein Reichstag den Einfluß der Seemacht unterschätzten.
Auch das Schlagwort vom „gesättigten" Deutschland schadete der Flotten-
cntwicklung. Der mächtige Zuwachs an Linienschiffen bei den fremden See¬
mächten wurde in Deutschland erst beachtet, als Kaiser Wilhelm der Zweite
fast unmittelbar nach dem Antritt der Regierung auf das krasse Mißverhältnis
der deutschen Flotte zu den fremden hinwies. Schon im vorhergehenden Jahr¬
zehnt hatte die Gewerbctätigkeit mächtig zugenommen, weil die Bevölkerung
schon 1890 seit dem Krieg um zehn Millionen Köpfe gewachsen war. Das
Aufblühu der Industrie machte Deutschland seitdem immer abhängiger von dem
Erwerb überseeischer Rohstoffe und von dem Absatz der eignen GeWerbearbeit
an überseeische Kundschaft. Auch die starke Zunahme der deutschen Handels¬
flotte schuf für Deutschland eine gefährliche Lage: übelwollende seemächtige
Nebenbuhler sahen und sehen auch heute noch mit scheelen Blicken auf den
lästigen, erfolgreichen Mitbewerber. Sehr richtig sagt Neuhaus: „Man war
zu groß und zu reich geworden, um sich den Luxus der Schwäche uoch länger


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[0261] Schriften und Gedanken zur Flottenfrage darum ist der Machtzuwachs im Vergleiche zu der Flvtteustärkc andrer See¬ mächte immer noch recht gering geblieben. Gut Ding will Weile haben — eine starke Flotte läßt sich nicht aus dem Boden stampfen, sie bedarf zäher Arbeit während vieler gesegneter Friedens¬ jahre. Jede Überhastung würde sich ebenso schädlich erweisen wie die frühere Vernachlässigung; nur eine stetige Entwicklung ist gesund und erhält den großen Betrieb, wie es eine Flotte ist, lebenskräftig. Unsre Flotte soll die Bedrohung Deutschlands und des deutschen überseeischen Handels durch mächtige Gegner unwirksam machen; daß wir zur Erfüllung dieses Zwecks schon heute eigentlich eine viel stärkere Flotte, als wir sie jetzt haben, notwendig brauchen, weiß seit der tatkräftigen Aufklärungsarbeit schon fast jeder Quartaner im ganzen Deutschen Reiche. Wir sind also Gott sei Dank in den zweiten Abschnitt der Erörterungen über die Flottenfrage eingetreten. Die Notwendigkeit einer möglichst starken deutschen Flotte ist anerkannt, jetzt kommt es hauptsächlich darauf an, darüber nachzudenken, wie sich der Ausbau der Flotte noch beschleunigen läßt, ohne daß dabei schädliche Nberhastung eintritt. Einige von den Veröffentlichungen, die in der letzten Zeit diesem Zwecke zu dienen bestrebt sind, sollen hier betrachtet werden. Erich Neuhaus geht in seiner sehr lesenswerten Schrift: „Die Flottenfrage unter den wirtschaftspolitischen und technischen Voraussetzungen der Gegenwart" (Leipzig, Felix Dietrich, Preis 1 Mark) von dem vorzüglichen Grundgedanken aus: „Der bewaffnete Friede ist der dauerhafteste, und die schwerste Friedens¬ rüstung ist billiger als ein verlorner Krieg." Dieser Kernsatz sollte in Riesen¬ buchstaben im Sitzungssaale des Reichstagsgebäudes als Menetekel an der Wand stehn! Der Verfasser bemüht sich, die Flottenfrage vom Standpunkte des volkswirtschaftlichen Bedürfnisses zu betrachten; er meint, die Flotte hätte uns bisher gefehlt, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein Bedürfnis nach Schutz zur See — also Seehandel und überseeischer Landbesitz — gefehlt hätten, aber er gibt doch auch zu, daß die glänzenden Erfolge auf dem Lande, die das Deutsche Reich neu begründeten, auch daran schuld waren, daß das gesamte Volk und sein Reichstag den Einfluß der Seemacht unterschätzten. Auch das Schlagwort vom „gesättigten" Deutschland schadete der Flotten- cntwicklung. Der mächtige Zuwachs an Linienschiffen bei den fremden See¬ mächten wurde in Deutschland erst beachtet, als Kaiser Wilhelm der Zweite fast unmittelbar nach dem Antritt der Regierung auf das krasse Mißverhältnis der deutschen Flotte zu den fremden hinwies. Schon im vorhergehenden Jahr¬ zehnt hatte die Gewerbctätigkeit mächtig zugenommen, weil die Bevölkerung schon 1890 seit dem Krieg um zehn Millionen Köpfe gewachsen war. Das Aufblühu der Industrie machte Deutschland seitdem immer abhängiger von dem Erwerb überseeischer Rohstoffe und von dem Absatz der eignen GeWerbearbeit an überseeische Kundschaft. Auch die starke Zunahme der deutschen Handels¬ flotte schuf für Deutschland eine gefährliche Lage: übelwollende seemächtige Nebenbuhler sahen und sehen auch heute noch mit scheelen Blicken auf den lästigen, erfolgreichen Mitbewerber. Sehr richtig sagt Neuhaus: „Man war zu groß und zu reich geworden, um sich den Luxus der Schwäche uoch länger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/261>, abgerufen am 22.12.2024.