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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Deutschösterreichische Parteien

gegeben hat. Man hätte demnach mit einer Lage zu rechnen, ähnlich wie in
Frankreich, wo unter dem Banner der "Freiheit der Republik" die Größe"
der Börse mit allen demokratischen Gruppen bis zur Sozialdemokratie hinab
Hand in Hand Vorgehn gegen alle, die noch alte französische Traditionen be¬
wahren, auch wenn sie selbst längst ehrliche Republikaner geworden sind. Un¬
zweifelhaft sind es dieselben Wiener und Pester Blätter, die im französischen
wie im österreichischen Parteienstreit den Vorkampf führen. Besteht dieser
Kampf wirklich, dann wird es begreiflich, daß in Österreich der nationale
Streit nicht zur Ruhe kommen kann, weil mächtige Einflüsse dahin wirken,
daß er weiter am Leben erhalten bleibe. Würden sich heute Deutsche und
Tschechen verständigen, so Hütte in der Tat morgen weder der Feudaladel
noch der Finanzadel mehr einen ausschlaggebenden Einfluß, wohl aber das
Bürgertum der beiden stärksten Nationen. Daß die "papierdünne Wand,"
die nach dem Zeugnis des Tschechenführers Dr. Kaizl vor wenig Jahren die
beiden nach Verständigung strebenden Völker noch trennte, nicht gefallen ist
und nicht fallen konnte, sondern inzwischen zu einer undurchdringlichen Mauer
verstärkt wurde, läßt sich ebensowenig bestreiten, wie sich verkennen läßt, wem
besonders daran liegen müßte, daß der Streit ewig währe. Liegen die Dinge
wirklich so. dann fällt ein Helles Licht auf das Verhalten eines großen Teils
der österreichischen Blätter. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob jene genauen
Kenner Österreichs mit ihrer Auffassung der nationalen Kämpfe Recht haben
oder nicht, jedenfalls liegen aber in der Angelegenheit der ältesten Spaltung
der Deutschösterreicher in zwei noch immer getrennte Lager die Verhältnisse
sehr ähnlich.

Die deutschklerikale Partei in Österreich hat jahrzehntelang eine Politik
getrieben, die dem deutschen Interesse nicht entsprach. Man vermag ihre Haltung
zu erklären, aber man kann sie nicht entschuldigen. Der deutsche Liberalismus
hat die Klerikalen allerdings, so lange er an der Herrschaft war, rauh von
sich gestoßen. Es gehört unzweifelhaft zu den besten Errungenschaften der
Deutschen in Österreich, daß sich ihre Mehrheit zu Anfang der sechziger Jahre
an die Spitze der neuen Bewegung stellte. Das Deutschtum ist der natürliche
Kulturträger in Österreich und mußte die Bewegung in die Hand nehmen.
Ob es dabei nötig war, eine Spaltung im deutschen Volke hervorzurufen,
muß aber bezweifelt werden, jedenfalls war es möglich, auch die nationalen
Interessen zu wahren. Das ist versäumt worden, denn man sah im Anti¬
klerikalismus den alleinigen Prüfstein des Deutschtums und handelte danach.
Auch dafür gibt es eine Erklärung. Es kann nicht bestritten werden, daß die
Bevölkerung der österreichischen Länder, Tirol ausgenommen, im sechzehnten
Jahrhundert zum größten Teil protestantisch gewesen war und durch die
Gegenreformation zunächst nur äußerlich wieder zur katholischen Kirche zurück¬
geführt wurde. Wohl geht die Behauptung zu weit, daß diese Leute eigentlich
innerlich protestantisch geblieben seien, aber so viel ist doch richtig, daß nament¬
lich die Deutschen nie ganz von dem allgemeinen Zug, der im weitern deutschen
Volke lebendig blieb, abgetrennt werden konnten, und daß in Deutschvsterreich
bei aller äußern Kirchlichkeit nie die Erinnerung an den ganz unerhörten


Deutschösterreichische Parteien

gegeben hat. Man hätte demnach mit einer Lage zu rechnen, ähnlich wie in
Frankreich, wo unter dem Banner der „Freiheit der Republik" die Größe»
der Börse mit allen demokratischen Gruppen bis zur Sozialdemokratie hinab
Hand in Hand Vorgehn gegen alle, die noch alte französische Traditionen be¬
wahren, auch wenn sie selbst längst ehrliche Republikaner geworden sind. Un¬
zweifelhaft sind es dieselben Wiener und Pester Blätter, die im französischen
wie im österreichischen Parteienstreit den Vorkampf führen. Besteht dieser
Kampf wirklich, dann wird es begreiflich, daß in Österreich der nationale
Streit nicht zur Ruhe kommen kann, weil mächtige Einflüsse dahin wirken,
daß er weiter am Leben erhalten bleibe. Würden sich heute Deutsche und
Tschechen verständigen, so Hütte in der Tat morgen weder der Feudaladel
noch der Finanzadel mehr einen ausschlaggebenden Einfluß, wohl aber das
Bürgertum der beiden stärksten Nationen. Daß die „papierdünne Wand,"
die nach dem Zeugnis des Tschechenführers Dr. Kaizl vor wenig Jahren die
beiden nach Verständigung strebenden Völker noch trennte, nicht gefallen ist
und nicht fallen konnte, sondern inzwischen zu einer undurchdringlichen Mauer
verstärkt wurde, läßt sich ebensowenig bestreiten, wie sich verkennen läßt, wem
besonders daran liegen müßte, daß der Streit ewig währe. Liegen die Dinge
wirklich so. dann fällt ein Helles Licht auf das Verhalten eines großen Teils
der österreichischen Blätter. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob jene genauen
Kenner Österreichs mit ihrer Auffassung der nationalen Kämpfe Recht haben
oder nicht, jedenfalls liegen aber in der Angelegenheit der ältesten Spaltung
der Deutschösterreicher in zwei noch immer getrennte Lager die Verhältnisse
sehr ähnlich.

Die deutschklerikale Partei in Österreich hat jahrzehntelang eine Politik
getrieben, die dem deutschen Interesse nicht entsprach. Man vermag ihre Haltung
zu erklären, aber man kann sie nicht entschuldigen. Der deutsche Liberalismus
hat die Klerikalen allerdings, so lange er an der Herrschaft war, rauh von
sich gestoßen. Es gehört unzweifelhaft zu den besten Errungenschaften der
Deutschen in Österreich, daß sich ihre Mehrheit zu Anfang der sechziger Jahre
an die Spitze der neuen Bewegung stellte. Das Deutschtum ist der natürliche
Kulturträger in Österreich und mußte die Bewegung in die Hand nehmen.
Ob es dabei nötig war, eine Spaltung im deutschen Volke hervorzurufen,
muß aber bezweifelt werden, jedenfalls war es möglich, auch die nationalen
Interessen zu wahren. Das ist versäumt worden, denn man sah im Anti¬
klerikalismus den alleinigen Prüfstein des Deutschtums und handelte danach.
Auch dafür gibt es eine Erklärung. Es kann nicht bestritten werden, daß die
Bevölkerung der österreichischen Länder, Tirol ausgenommen, im sechzehnten
Jahrhundert zum größten Teil protestantisch gewesen war und durch die
Gegenreformation zunächst nur äußerlich wieder zur katholischen Kirche zurück¬
geführt wurde. Wohl geht die Behauptung zu weit, daß diese Leute eigentlich
innerlich protestantisch geblieben seien, aber so viel ist doch richtig, daß nament¬
lich die Deutschen nie ganz von dem allgemeinen Zug, der im weitern deutschen
Volke lebendig blieb, abgetrennt werden konnten, und daß in Deutschvsterreich
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[0252] Deutschösterreichische Parteien gegeben hat. Man hätte demnach mit einer Lage zu rechnen, ähnlich wie in Frankreich, wo unter dem Banner der „Freiheit der Republik" die Größe» der Börse mit allen demokratischen Gruppen bis zur Sozialdemokratie hinab Hand in Hand Vorgehn gegen alle, die noch alte französische Traditionen be¬ wahren, auch wenn sie selbst längst ehrliche Republikaner geworden sind. Un¬ zweifelhaft sind es dieselben Wiener und Pester Blätter, die im französischen wie im österreichischen Parteienstreit den Vorkampf führen. Besteht dieser Kampf wirklich, dann wird es begreiflich, daß in Österreich der nationale Streit nicht zur Ruhe kommen kann, weil mächtige Einflüsse dahin wirken, daß er weiter am Leben erhalten bleibe. Würden sich heute Deutsche und Tschechen verständigen, so Hütte in der Tat morgen weder der Feudaladel noch der Finanzadel mehr einen ausschlaggebenden Einfluß, wohl aber das Bürgertum der beiden stärksten Nationen. Daß die „papierdünne Wand," die nach dem Zeugnis des Tschechenführers Dr. Kaizl vor wenig Jahren die beiden nach Verständigung strebenden Völker noch trennte, nicht gefallen ist und nicht fallen konnte, sondern inzwischen zu einer undurchdringlichen Mauer verstärkt wurde, läßt sich ebensowenig bestreiten, wie sich verkennen läßt, wem besonders daran liegen müßte, daß der Streit ewig währe. Liegen die Dinge wirklich so. dann fällt ein Helles Licht auf das Verhalten eines großen Teils der österreichischen Blätter. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob jene genauen Kenner Österreichs mit ihrer Auffassung der nationalen Kämpfe Recht haben oder nicht, jedenfalls liegen aber in der Angelegenheit der ältesten Spaltung der Deutschösterreicher in zwei noch immer getrennte Lager die Verhältnisse sehr ähnlich. Die deutschklerikale Partei in Österreich hat jahrzehntelang eine Politik getrieben, die dem deutschen Interesse nicht entsprach. Man vermag ihre Haltung zu erklären, aber man kann sie nicht entschuldigen. Der deutsche Liberalismus hat die Klerikalen allerdings, so lange er an der Herrschaft war, rauh von sich gestoßen. Es gehört unzweifelhaft zu den besten Errungenschaften der Deutschen in Österreich, daß sich ihre Mehrheit zu Anfang der sechziger Jahre an die Spitze der neuen Bewegung stellte. Das Deutschtum ist der natürliche Kulturträger in Österreich und mußte die Bewegung in die Hand nehmen. Ob es dabei nötig war, eine Spaltung im deutschen Volke hervorzurufen, muß aber bezweifelt werden, jedenfalls war es möglich, auch die nationalen Interessen zu wahren. Das ist versäumt worden, denn man sah im Anti¬ klerikalismus den alleinigen Prüfstein des Deutschtums und handelte danach. Auch dafür gibt es eine Erklärung. Es kann nicht bestritten werden, daß die Bevölkerung der österreichischen Länder, Tirol ausgenommen, im sechzehnten Jahrhundert zum größten Teil protestantisch gewesen war und durch die Gegenreformation zunächst nur äußerlich wieder zur katholischen Kirche zurück¬ geführt wurde. Wohl geht die Behauptung zu weit, daß diese Leute eigentlich innerlich protestantisch geblieben seien, aber so viel ist doch richtig, daß nament¬ lich die Deutschen nie ganz von dem allgemeinen Zug, der im weitern deutschen Volke lebendig blieb, abgetrennt werden konnten, und daß in Deutschvsterreich bei aller äußern Kirchlichkeit nie die Erinnerung an den ganz unerhörten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/252>, abgerufen am 22.12.2024.