ßZMS AMÄs lohnte nicht der Mühe, Geschichte zu studieren, wenn sie uns nicht die Vergangenheit begreiflich machte und uns Anleitung dazu gäbe, was wir in der Gegenwart zu tun und zu lassen haben. Für den Politiker ist das geschichtliche Ergebnis der Vergangenheit die Voraussetzung zum richtigen Verständnis seiner Zeit und zur Beurteilung der Möglichkeiten der Zukunft. Seitdem durch Ver¬ fassung und Gesetzgebung nahezu jeder Staatsangehörige zum Wählen genötigt ist und außerdem auch womöglich jeden Tag die Zeitung liest, ist sein "Beruf" zum Politiker vollkommen dargetan, und ihm erwächst die Pflicht, sich dafür vorzubereiten. Er ente dabei gut, sich recht lebhaft um die Geschichte seines Volks, namentlich die neuere, wozu auch Verfassung und moderne Staats¬ einrichtung gehören, zu bekümmern. Wenn man sich ein selbständiges Urteil bilden will, so genügt es nicht, seine tägliche Parteizeitung zu lesen, zeitweilig eine politische Versammlung zu besuchen, in der doch bloß gesagt wird, was man gern hören will, und in einem engern Kreis von Gesinnungsgenossen zu kanne¬ gießern. Das Ergebnis davon ist ja gewöhnlich doch nur, daß sich der "politische" Bürger in der Regel über den Gang der Ereignisse wundert, die meist ganz anders ausfallen, als es in der Zeitung vorausgesagt wurde und auf der Bier¬ bank als vollkommen richtig bekräftigt worden war; und der Zweifel, ob wirklich die Regierung daran allemal schuld gewesen sei, taucht wohl auf, man kommt aber nie zur Klarheit darüber. Wenn der demokratisch-liberalen Richtung, in der das deutsche Bürgertum seit einem halben Jahrhundert schwimmt, für die Förderung ihrer Interessen an der Verbreitung der Kenntnis der Verfassung und der neuern Staatsgeschichte etwas gelegen wäre, so hätte sie längst in allen Staaten den Unterricht in der Verfassungs- und der Staatskunde durchgesetzt. Sie sieht aber ihre Zwecke bei der heutigen Unklarheit besser gefördert; um so mehr sollte sich gerade der deutsche Wühler, der doch einsehen muß, daß trotz all den Rechten, Freiheiten und Fortschritten, die die neue Zeit gebracht hat, seine Politische Zufriedenheit nicht gewachsen ist, selber darum kümmern, woran das liegt, und dabei kann ihm nur die Vertiefung in die Geschichte seines Landes, namentlich in die neuere, helfen. Er wird dann selbst finden, daß der Fehler ganz wo anders liegt, als da, wo ihn bisher gelehrt wurde, ihn zu suchen.
Grenzboten I 1905 33
Deutschösterreichische Parteien
ßZMS AMÄs lohnte nicht der Mühe, Geschichte zu studieren, wenn sie uns nicht die Vergangenheit begreiflich machte und uns Anleitung dazu gäbe, was wir in der Gegenwart zu tun und zu lassen haben. Für den Politiker ist das geschichtliche Ergebnis der Vergangenheit die Voraussetzung zum richtigen Verständnis seiner Zeit und zur Beurteilung der Möglichkeiten der Zukunft. Seitdem durch Ver¬ fassung und Gesetzgebung nahezu jeder Staatsangehörige zum Wählen genötigt ist und außerdem auch womöglich jeden Tag die Zeitung liest, ist sein „Beruf" zum Politiker vollkommen dargetan, und ihm erwächst die Pflicht, sich dafür vorzubereiten. Er ente dabei gut, sich recht lebhaft um die Geschichte seines Volks, namentlich die neuere, wozu auch Verfassung und moderne Staats¬ einrichtung gehören, zu bekümmern. Wenn man sich ein selbständiges Urteil bilden will, so genügt es nicht, seine tägliche Parteizeitung zu lesen, zeitweilig eine politische Versammlung zu besuchen, in der doch bloß gesagt wird, was man gern hören will, und in einem engern Kreis von Gesinnungsgenossen zu kanne¬ gießern. Das Ergebnis davon ist ja gewöhnlich doch nur, daß sich der „politische" Bürger in der Regel über den Gang der Ereignisse wundert, die meist ganz anders ausfallen, als es in der Zeitung vorausgesagt wurde und auf der Bier¬ bank als vollkommen richtig bekräftigt worden war; und der Zweifel, ob wirklich die Regierung daran allemal schuld gewesen sei, taucht wohl auf, man kommt aber nie zur Klarheit darüber. Wenn der demokratisch-liberalen Richtung, in der das deutsche Bürgertum seit einem halben Jahrhundert schwimmt, für die Förderung ihrer Interessen an der Verbreitung der Kenntnis der Verfassung und der neuern Staatsgeschichte etwas gelegen wäre, so hätte sie längst in allen Staaten den Unterricht in der Verfassungs- und der Staatskunde durchgesetzt. Sie sieht aber ihre Zwecke bei der heutigen Unklarheit besser gefördert; um so mehr sollte sich gerade der deutsche Wühler, der doch einsehen muß, daß trotz all den Rechten, Freiheiten und Fortschritten, die die neue Zeit gebracht hat, seine Politische Zufriedenheit nicht gewachsen ist, selber darum kümmern, woran das liegt, und dabei kann ihm nur die Vertiefung in die Geschichte seines Landes, namentlich in die neuere, helfen. Er wird dann selbst finden, daß der Fehler ganz wo anders liegt, als da, wo ihn bisher gelehrt wurde, ihn zu suchen.
Grenzboten I 1905 33
<TEI><text><body><div><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0249"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87727"/><figurefacs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341881_87477/figures/grenzboten_341881_87477_87727_000.jpg"/><lb/></div></div><divn="1"><head> Deutschösterreichische Parteien</head><lb/><pxml:id="ID_1097"> ßZMS<lb/>
AMÄs lohnte nicht der Mühe, Geschichte zu studieren, wenn sie uns<lb/>
nicht die Vergangenheit begreiflich machte und uns Anleitung<lb/>
dazu gäbe, was wir in der Gegenwart zu tun und zu lassen<lb/>
haben. Für den Politiker ist das geschichtliche Ergebnis der<lb/>
Vergangenheit die Voraussetzung zum richtigen Verständnis seiner<lb/>
Zeit und zur Beurteilung der Möglichkeiten der Zukunft. Seitdem durch Ver¬<lb/>
fassung und Gesetzgebung nahezu jeder Staatsangehörige zum Wählen genötigt<lb/>
ist und außerdem auch womöglich jeden Tag die Zeitung liest, ist sein „Beruf"<lb/>
zum Politiker vollkommen dargetan, und ihm erwächst die Pflicht, sich dafür<lb/>
vorzubereiten. Er ente dabei gut, sich recht lebhaft um die Geschichte seines<lb/>
Volks, namentlich die neuere, wozu auch Verfassung und moderne Staats¬<lb/>
einrichtung gehören, zu bekümmern. Wenn man sich ein selbständiges Urteil<lb/>
bilden will, so genügt es nicht, seine tägliche Parteizeitung zu lesen, zeitweilig<lb/>
eine politische Versammlung zu besuchen, in der doch bloß gesagt wird, was man<lb/>
gern hören will, und in einem engern Kreis von Gesinnungsgenossen zu kanne¬<lb/>
gießern. Das Ergebnis davon ist ja gewöhnlich doch nur, daß sich der „politische"<lb/>
Bürger in der Regel über den Gang der Ereignisse wundert, die meist ganz<lb/>
anders ausfallen, als es in der Zeitung vorausgesagt wurde und auf der Bier¬<lb/>
bank als vollkommen richtig bekräftigt worden war; und der Zweifel, ob wirklich<lb/>
die Regierung daran allemal schuld gewesen sei, taucht wohl auf, man kommt<lb/>
aber nie zur Klarheit darüber. Wenn der demokratisch-liberalen Richtung, in<lb/>
der das deutsche Bürgertum seit einem halben Jahrhundert schwimmt, für die<lb/>
Förderung ihrer Interessen an der Verbreitung der Kenntnis der Verfassung<lb/>
und der neuern Staatsgeschichte etwas gelegen wäre, so hätte sie längst in allen<lb/>
Staaten den Unterricht in der Verfassungs- und der Staatskunde durchgesetzt.<lb/>
Sie sieht aber ihre Zwecke bei der heutigen Unklarheit besser gefördert; um so<lb/>
mehr sollte sich gerade der deutsche Wühler, der doch einsehen muß, daß trotz all<lb/>
den Rechten, Freiheiten und Fortschritten, die die neue Zeit gebracht hat, seine<lb/>
Politische Zufriedenheit nicht gewachsen ist, selber darum kümmern, woran das<lb/>
liegt, und dabei kann ihm nur die Vertiefung in die Geschichte seines Landes,<lb/>
namentlich in die neuere, helfen. Er wird dann selbst finden, daß der Fehler<lb/>
ganz wo anders liegt, als da, wo ihn bisher gelehrt wurde, ihn zu suchen.</p><lb/><fwtype="sig"place="bottom"> Grenzboten I 1905 33</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0249]
[Abbildung]
Deutschösterreichische Parteien
ßZMS
AMÄs lohnte nicht der Mühe, Geschichte zu studieren, wenn sie uns
nicht die Vergangenheit begreiflich machte und uns Anleitung
dazu gäbe, was wir in der Gegenwart zu tun und zu lassen
haben. Für den Politiker ist das geschichtliche Ergebnis der
Vergangenheit die Voraussetzung zum richtigen Verständnis seiner
Zeit und zur Beurteilung der Möglichkeiten der Zukunft. Seitdem durch Ver¬
fassung und Gesetzgebung nahezu jeder Staatsangehörige zum Wählen genötigt
ist und außerdem auch womöglich jeden Tag die Zeitung liest, ist sein „Beruf"
zum Politiker vollkommen dargetan, und ihm erwächst die Pflicht, sich dafür
vorzubereiten. Er ente dabei gut, sich recht lebhaft um die Geschichte seines
Volks, namentlich die neuere, wozu auch Verfassung und moderne Staats¬
einrichtung gehören, zu bekümmern. Wenn man sich ein selbständiges Urteil
bilden will, so genügt es nicht, seine tägliche Parteizeitung zu lesen, zeitweilig
eine politische Versammlung zu besuchen, in der doch bloß gesagt wird, was man
gern hören will, und in einem engern Kreis von Gesinnungsgenossen zu kanne¬
gießern. Das Ergebnis davon ist ja gewöhnlich doch nur, daß sich der „politische"
Bürger in der Regel über den Gang der Ereignisse wundert, die meist ganz
anders ausfallen, als es in der Zeitung vorausgesagt wurde und auf der Bier¬
bank als vollkommen richtig bekräftigt worden war; und der Zweifel, ob wirklich
die Regierung daran allemal schuld gewesen sei, taucht wohl auf, man kommt
aber nie zur Klarheit darüber. Wenn der demokratisch-liberalen Richtung, in
der das deutsche Bürgertum seit einem halben Jahrhundert schwimmt, für die
Förderung ihrer Interessen an der Verbreitung der Kenntnis der Verfassung
und der neuern Staatsgeschichte etwas gelegen wäre, so hätte sie längst in allen
Staaten den Unterricht in der Verfassungs- und der Staatskunde durchgesetzt.
Sie sieht aber ihre Zwecke bei der heutigen Unklarheit besser gefördert; um so
mehr sollte sich gerade der deutsche Wühler, der doch einsehen muß, daß trotz all
den Rechten, Freiheiten und Fortschritten, die die neue Zeit gebracht hat, seine
Politische Zufriedenheit nicht gewachsen ist, selber darum kümmern, woran das
liegt, und dabei kann ihm nur die Vertiefung in die Geschichte seines Landes,
namentlich in die neuere, helfen. Er wird dann selbst finden, daß der Fehler
ganz wo anders liegt, als da, wo ihn bisher gelehrt wurde, ihn zu suchen.
Grenzboten I 1905 33
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/249>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.