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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen einer Lehrerin

der geringem geistigen Aufnahmefähigkeit unsrer Kinder und trotz den denkbar
ungünstigsten häuslichen Verhältnissen, die eine häusliche Hilfe, wie sie an andern
Schulen reichlich gewährt wird, ganz ausschließen, immer mehr in die Stoff-
plüne hineingebracht, sodaß wir nun unter einer erdrückenden, nicht zu bewäl¬
tigenden Last keuchen. Man merkt es diesen Plänen nur allzusehr an, daß sie
am grünen Tisch und nicht aus der Praxis heraus entstanden sind. Sie und
die Überfüllung der Klassen (ich habe im ersten Schuljahr noch siebzig Kinder
gehabt) tragen die Schuld, daß so wenig Positives geleistet wird. Die Volks¬
schule muß viel weniger lehren, dann wird sie viel Größeres und auch Bleibendes
leisten. Hier heißt es in Wahrheit "Weniger wäre mehr." Denn unsre Kinder
lernen vielerlei und nichts ordentlich, wenn man Rechnen ausnimmt. Man sehe
sich einmal die Schreibwerke seiner männlichen und weiblichen Dienstboten an,
sogar die der kleinern Handwerker! Man höre die Leute unter sich reden, wundert
man sich da nicht, daß dieses Deutsch in Wort und Schrift das Produkt einer
achtjährigen Schulzeit ist? Sieht man ferner das blinde, urteilslvse Treiben
der Massen, kurz gesagt der Sozialdemokraten, die oft nur Schreier und unzu-
friedne, hetzende Radaumacher sind, aber von den wirklichen und zum Teil recht
berechtigten Forderungen der Partei keine Ahnung haben, die oft gar nicht im¬
stande sind, auch nur mit ein paar klaren Worten anzugeben, was ihre Partei
eigentlich erstrebt, trotzdem aber für diese Partei stimmen, dann muß man sich
sagen, daß der Denk- und der Geschichtsunterricht nicht richtig erteilt sind.
Ich persönlich habe die Bekanntschaft eines sehr intelligenten frühern Arbeiters
gemacht, der jetzt Arbeitersekretär des sozialdemokratischen Arbeitervereins ist,
seine Tochter ist drei Jahre lang meine Schülerin gewesen. Durch diese
Bekanntschaft habe ich interessante Beobachtungen machen können und habe
außerdem manchen Nutzen gehabt. Oster habe ich zum Beispiel erboste Mütter
und Väter, die mir drohten: "Ich werde mich an das Arbeiterbureau wenden,
Sie sollen mal sehen!" -- verblüfft und zu kleinlauten Abziehn gebracht,
wenn ich ihnen erklärte, daß ich mit dem Sekretär als Vater einer Schülerin
recht gut ausgekommen wäre. Man kann Verständnis und Liebe für manche
Bestrebung der Sozialdemokraten haben, über den ungebildeten, urteilslosen
drohenden Schreier, wie sich der einzelne "Genosse" oft zeigt, kann man nur
die Achseln zucken.

Noch einige Worte über den Geschichtsunterricht. Allgemein kann man die
Klage hören, daß der Geschichtsunterricht an der Volksschule die reine Sisyphus¬
arbeit sei. Ich habe gefunden, daß unfern Kindern jedes historische Denken und
Fühlen abgeht. Warum? Weil sie keine Familientradition haben. Der Gro߬
vater ist den meisten schon unbekannt, von einem Urgroßvater haben sie nie
etwas gehört, überhaupt fehlen die einfachsten verwandtschaftlichen Begriffe.
Jeder, der im Lehramte steht, wird mir bestätigen können, wie schwer es ist,
zum Beispiel das verwandtschaftliche Verhältnis der drei Kaiser einzuprägen.
Das der drei Kaiserinnen zum Verständnis zu bringen, habe ich im vierten
Schuljahr als hoffnungslos aufgeben müssen. Ferner, daß Abraham der Onkel
von Lot, dieser also Abrahams Neffe ist, bietet den Kindern im zweiten Schuljahre
so unglaubliche Schwierigkeiten, daß nur der es glauben kann, der es eben selbst


Erinnerungen einer Lehrerin

der geringem geistigen Aufnahmefähigkeit unsrer Kinder und trotz den denkbar
ungünstigsten häuslichen Verhältnissen, die eine häusliche Hilfe, wie sie an andern
Schulen reichlich gewährt wird, ganz ausschließen, immer mehr in die Stoff-
plüne hineingebracht, sodaß wir nun unter einer erdrückenden, nicht zu bewäl¬
tigenden Last keuchen. Man merkt es diesen Plänen nur allzusehr an, daß sie
am grünen Tisch und nicht aus der Praxis heraus entstanden sind. Sie und
die Überfüllung der Klassen (ich habe im ersten Schuljahr noch siebzig Kinder
gehabt) tragen die Schuld, daß so wenig Positives geleistet wird. Die Volks¬
schule muß viel weniger lehren, dann wird sie viel Größeres und auch Bleibendes
leisten. Hier heißt es in Wahrheit „Weniger wäre mehr." Denn unsre Kinder
lernen vielerlei und nichts ordentlich, wenn man Rechnen ausnimmt. Man sehe
sich einmal die Schreibwerke seiner männlichen und weiblichen Dienstboten an,
sogar die der kleinern Handwerker! Man höre die Leute unter sich reden, wundert
man sich da nicht, daß dieses Deutsch in Wort und Schrift das Produkt einer
achtjährigen Schulzeit ist? Sieht man ferner das blinde, urteilslvse Treiben
der Massen, kurz gesagt der Sozialdemokraten, die oft nur Schreier und unzu-
friedne, hetzende Radaumacher sind, aber von den wirklichen und zum Teil recht
berechtigten Forderungen der Partei keine Ahnung haben, die oft gar nicht im¬
stande sind, auch nur mit ein paar klaren Worten anzugeben, was ihre Partei
eigentlich erstrebt, trotzdem aber für diese Partei stimmen, dann muß man sich
sagen, daß der Denk- und der Geschichtsunterricht nicht richtig erteilt sind.
Ich persönlich habe die Bekanntschaft eines sehr intelligenten frühern Arbeiters
gemacht, der jetzt Arbeitersekretär des sozialdemokratischen Arbeitervereins ist,
seine Tochter ist drei Jahre lang meine Schülerin gewesen. Durch diese
Bekanntschaft habe ich interessante Beobachtungen machen können und habe
außerdem manchen Nutzen gehabt. Oster habe ich zum Beispiel erboste Mütter
und Väter, die mir drohten: „Ich werde mich an das Arbeiterbureau wenden,
Sie sollen mal sehen!" — verblüfft und zu kleinlauten Abziehn gebracht,
wenn ich ihnen erklärte, daß ich mit dem Sekretär als Vater einer Schülerin
recht gut ausgekommen wäre. Man kann Verständnis und Liebe für manche
Bestrebung der Sozialdemokraten haben, über den ungebildeten, urteilslosen
drohenden Schreier, wie sich der einzelne „Genosse" oft zeigt, kann man nur
die Achseln zucken.

Noch einige Worte über den Geschichtsunterricht. Allgemein kann man die
Klage hören, daß der Geschichtsunterricht an der Volksschule die reine Sisyphus¬
arbeit sei. Ich habe gefunden, daß unfern Kindern jedes historische Denken und
Fühlen abgeht. Warum? Weil sie keine Familientradition haben. Der Gro߬
vater ist den meisten schon unbekannt, von einem Urgroßvater haben sie nie
etwas gehört, überhaupt fehlen die einfachsten verwandtschaftlichen Begriffe.
Jeder, der im Lehramte steht, wird mir bestätigen können, wie schwer es ist,
zum Beispiel das verwandtschaftliche Verhältnis der drei Kaiser einzuprägen.
Das der drei Kaiserinnen zum Verständnis zu bringen, habe ich im vierten
Schuljahr als hoffnungslos aufgeben müssen. Ferner, daß Abraham der Onkel
von Lot, dieser also Abrahams Neffe ist, bietet den Kindern im zweiten Schuljahre
so unglaubliche Schwierigkeiten, daß nur der es glauben kann, der es eben selbst


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[0225] Erinnerungen einer Lehrerin der geringem geistigen Aufnahmefähigkeit unsrer Kinder und trotz den denkbar ungünstigsten häuslichen Verhältnissen, die eine häusliche Hilfe, wie sie an andern Schulen reichlich gewährt wird, ganz ausschließen, immer mehr in die Stoff- plüne hineingebracht, sodaß wir nun unter einer erdrückenden, nicht zu bewäl¬ tigenden Last keuchen. Man merkt es diesen Plänen nur allzusehr an, daß sie am grünen Tisch und nicht aus der Praxis heraus entstanden sind. Sie und die Überfüllung der Klassen (ich habe im ersten Schuljahr noch siebzig Kinder gehabt) tragen die Schuld, daß so wenig Positives geleistet wird. Die Volks¬ schule muß viel weniger lehren, dann wird sie viel Größeres und auch Bleibendes leisten. Hier heißt es in Wahrheit „Weniger wäre mehr." Denn unsre Kinder lernen vielerlei und nichts ordentlich, wenn man Rechnen ausnimmt. Man sehe sich einmal die Schreibwerke seiner männlichen und weiblichen Dienstboten an, sogar die der kleinern Handwerker! Man höre die Leute unter sich reden, wundert man sich da nicht, daß dieses Deutsch in Wort und Schrift das Produkt einer achtjährigen Schulzeit ist? Sieht man ferner das blinde, urteilslvse Treiben der Massen, kurz gesagt der Sozialdemokraten, die oft nur Schreier und unzu- friedne, hetzende Radaumacher sind, aber von den wirklichen und zum Teil recht berechtigten Forderungen der Partei keine Ahnung haben, die oft gar nicht im¬ stande sind, auch nur mit ein paar klaren Worten anzugeben, was ihre Partei eigentlich erstrebt, trotzdem aber für diese Partei stimmen, dann muß man sich sagen, daß der Denk- und der Geschichtsunterricht nicht richtig erteilt sind. Ich persönlich habe die Bekanntschaft eines sehr intelligenten frühern Arbeiters gemacht, der jetzt Arbeitersekretär des sozialdemokratischen Arbeitervereins ist, seine Tochter ist drei Jahre lang meine Schülerin gewesen. Durch diese Bekanntschaft habe ich interessante Beobachtungen machen können und habe außerdem manchen Nutzen gehabt. Oster habe ich zum Beispiel erboste Mütter und Väter, die mir drohten: „Ich werde mich an das Arbeiterbureau wenden, Sie sollen mal sehen!" — verblüfft und zu kleinlauten Abziehn gebracht, wenn ich ihnen erklärte, daß ich mit dem Sekretär als Vater einer Schülerin recht gut ausgekommen wäre. Man kann Verständnis und Liebe für manche Bestrebung der Sozialdemokraten haben, über den ungebildeten, urteilslosen drohenden Schreier, wie sich der einzelne „Genosse" oft zeigt, kann man nur die Achseln zucken. Noch einige Worte über den Geschichtsunterricht. Allgemein kann man die Klage hören, daß der Geschichtsunterricht an der Volksschule die reine Sisyphus¬ arbeit sei. Ich habe gefunden, daß unfern Kindern jedes historische Denken und Fühlen abgeht. Warum? Weil sie keine Familientradition haben. Der Gro߬ vater ist den meisten schon unbekannt, von einem Urgroßvater haben sie nie etwas gehört, überhaupt fehlen die einfachsten verwandtschaftlichen Begriffe. Jeder, der im Lehramte steht, wird mir bestätigen können, wie schwer es ist, zum Beispiel das verwandtschaftliche Verhältnis der drei Kaiser einzuprägen. Das der drei Kaiserinnen zum Verständnis zu bringen, habe ich im vierten Schuljahr als hoffnungslos aufgeben müssen. Ferner, daß Abraham der Onkel von Lot, dieser also Abrahams Neffe ist, bietet den Kindern im zweiten Schuljahre so unglaubliche Schwierigkeiten, daß nur der es glauben kann, der es eben selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/225>, abgerufen am 22.12.2024.