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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

stummer Zuhörer zwischen den Gästen in der Schenkstube, fing er aber einmal an
zu reden, schwieg gleich alles um ihn her, weil er redete wie ein Buch, gewandt
und klug; das haftete ihm wohl noch von seinen großen Buhuenrollen an. Und
das hatten die Leute gern, einen feinen Schauspieler umsonst diskurieren zu hören;
also war Papa Tooue froh über diesen hereingeschneiten Gehilfen. Und auch Fintje
war erfreut über den neuen, interessanten Hausgenossen.

Sie hatte es jetzt immer sehr eilig, aus dem Geschäft heimzukommen, und
stürmte dann gleich in Oomkes Stube, wo um diese Zeit der schlanke, große
Fremde neben dem kleinen Ovale am Tische saß, auf dem immer noch die grün¬
beschirmte Petroleumlampe leuchtete, und die reparaturbedürftigen Marionetten bunt
herumlagen. Der Fremde war nicht so emsig und geschickt mit den Fingern wie
Ovale, obgleich er schmale und wohlgepflegte Hände hatte. "Faulenzerhände,"
sagte Ovale verächtlich. "Schauspielerbande," dachte Fintje, und "Schauspieler¬
augen," fuhr sie in Gedanken fort, wenn er die scharfblickender graublauen Augen
unbekümmert um das Fortschreiten seiner Arbeit aufmerksam in der Stube umher¬
gleiten ließ, über Ovale und die Großmutter und über sie selbst. Solche Augen
hat er gemacht, wenn er einen kühnen Ritter zu spielen hatte oder einen mächtigen
Fürsten oder gar einen liebenden Prinzen, philosophierte Fintje, so scharfe, kluge, liebe
Augen. Und sie, die das Erröten bisher nur vom Sagenhören gekannt hatte,
senkte tief das blasse Gesichtchen, in das jählings heiße Blutwellen stiegen, sobald
diese Augen eine Weile auf ihr haften blieben.

Unwillkürlich dämpfte sie ihre schrille, uugeschulte Stimme, wenn sie zu Jan
l'Grand sprach, der immer in einer ruhigen und gesitteten Weise redete und nie
gemeine Schimpfwörter gebrauchte. Sie fühlte einen Unterschied heraus im Wesen
dieses Fremden gegen das der übrigen Bewohner des Windengangs, wenngleich
er nicht besser gekleidet ging als diese. Und auch die Großmutter empfand den
Abstand. Sie ließ sich herbei, eingehender mit ihm zu reden und seinen Antworten
einige Aufmerksamkeit zu schenken, als läge es ihr nicht gar fern, sich in diesem
und jenem von ihm belehren zu lassen, sie, die Hexe, die den Haufen bittrer Er¬
fahrungen auf dem Herze" lasten hatte und alles tiefer durchgrübelt hatte als die
übrige gedankenlose Menschheit um sie her. Und doch war er noch jung, der
ihr in manchem Punkte mit überzeugenden Eifer das Gegenteil ihrer Ansichten
beizubringen suchte. schüttelte sie auch den Kopf dazu, sie hörte ihn doch an.
Seltsam aber war es, wie sich dieser fremde junge Mensch die traurigen Geschichten
der Alten zu Herzen nahm. Verwundert sah Fintje ihn an, wenn sich während
des ZuHörens seine Brauen wie im Schmerz zusammenzogen, die Stirn sich zorn¬
voll faltete, und die Hände sich zu Fäusten trumpften, als habe er, er selbst ver¬
säumt, das Schreckliche, von dem die Alte erzählte, von den unglücklichen Geschöpfen
abzuwenden. Über eins konnten sie sich nie einigen, die Großmutter und der
Fremde: der junge Mensch behauptete, das Gesetz sei da zum Schutze der Schwachen,
die Hexe aus dem Poucheuellekeller aber erklärte, das Gesetz helfe dem Starken
gegen den Schwachen, dem Manne gegen das Weib, dem Vater gegen die Kinder.

Ihr kennt die Gesetze nicht, sie wollen schützen, nicht vernichten, ereiferte sich
der junge Mann. -- Ich Hab Euch aus dem Leben meiner Kinder erzählt, hat das
Gesetz sie geschützt? Hat es mich geschützt, als ich, ein schwaches Kind, hinging, um
seine Hilfe anzurufen? Hat es die Kinder nicht von den Vätern vernichten lassen?
Oder hat es den Männern das Mißhandeln ihrer Frauen verboten? Oder hat es
ihnen das Trinken untersagt?

Dann schwieg der wortgewandte Fremde und starrte mit nachdenklichen, trau¬
rigen Augen vor sich hin. Und der Staat der Marionette, die er in Arbeit hatte,
machte keine Fortschritte.

Verächtlich entzog sie Ovale endlich den Händen des Träumers. Faulenzer,
Zischelte es dabei zwischen seinen schmalen, blutlosen Lippen.

Ovale konnte den Fremden nicht leiden. Er duldete ihn nur widerwillig in
seinem Zimmer, an seinem Tische. Konnte der Komödiant nicht bei den Schwätzern


Im alten Brüssel

stummer Zuhörer zwischen den Gästen in der Schenkstube, fing er aber einmal an
zu reden, schwieg gleich alles um ihn her, weil er redete wie ein Buch, gewandt
und klug; das haftete ihm wohl noch von seinen großen Buhuenrollen an. Und
das hatten die Leute gern, einen feinen Schauspieler umsonst diskurieren zu hören;
also war Papa Tooue froh über diesen hereingeschneiten Gehilfen. Und auch Fintje
war erfreut über den neuen, interessanten Hausgenossen.

Sie hatte es jetzt immer sehr eilig, aus dem Geschäft heimzukommen, und
stürmte dann gleich in Oomkes Stube, wo um diese Zeit der schlanke, große
Fremde neben dem kleinen Ovale am Tische saß, auf dem immer noch die grün¬
beschirmte Petroleumlampe leuchtete, und die reparaturbedürftigen Marionetten bunt
herumlagen. Der Fremde war nicht so emsig und geschickt mit den Fingern wie
Ovale, obgleich er schmale und wohlgepflegte Hände hatte. „Faulenzerhände,"
sagte Ovale verächtlich. „Schauspielerbande," dachte Fintje, und „Schauspieler¬
augen," fuhr sie in Gedanken fort, wenn er die scharfblickender graublauen Augen
unbekümmert um das Fortschreiten seiner Arbeit aufmerksam in der Stube umher¬
gleiten ließ, über Ovale und die Großmutter und über sie selbst. Solche Augen
hat er gemacht, wenn er einen kühnen Ritter zu spielen hatte oder einen mächtigen
Fürsten oder gar einen liebenden Prinzen, philosophierte Fintje, so scharfe, kluge, liebe
Augen. Und sie, die das Erröten bisher nur vom Sagenhören gekannt hatte,
senkte tief das blasse Gesichtchen, in das jählings heiße Blutwellen stiegen, sobald
diese Augen eine Weile auf ihr haften blieben.

Unwillkürlich dämpfte sie ihre schrille, uugeschulte Stimme, wenn sie zu Jan
l'Grand sprach, der immer in einer ruhigen und gesitteten Weise redete und nie
gemeine Schimpfwörter gebrauchte. Sie fühlte einen Unterschied heraus im Wesen
dieses Fremden gegen das der übrigen Bewohner des Windengangs, wenngleich
er nicht besser gekleidet ging als diese. Und auch die Großmutter empfand den
Abstand. Sie ließ sich herbei, eingehender mit ihm zu reden und seinen Antworten
einige Aufmerksamkeit zu schenken, als läge es ihr nicht gar fern, sich in diesem
und jenem von ihm belehren zu lassen, sie, die Hexe, die den Haufen bittrer Er¬
fahrungen auf dem Herze» lasten hatte und alles tiefer durchgrübelt hatte als die
übrige gedankenlose Menschheit um sie her. Und doch war er noch jung, der
ihr in manchem Punkte mit überzeugenden Eifer das Gegenteil ihrer Ansichten
beizubringen suchte. schüttelte sie auch den Kopf dazu, sie hörte ihn doch an.
Seltsam aber war es, wie sich dieser fremde junge Mensch die traurigen Geschichten
der Alten zu Herzen nahm. Verwundert sah Fintje ihn an, wenn sich während
des ZuHörens seine Brauen wie im Schmerz zusammenzogen, die Stirn sich zorn¬
voll faltete, und die Hände sich zu Fäusten trumpften, als habe er, er selbst ver¬
säumt, das Schreckliche, von dem die Alte erzählte, von den unglücklichen Geschöpfen
abzuwenden. Über eins konnten sie sich nie einigen, die Großmutter und der
Fremde: der junge Mensch behauptete, das Gesetz sei da zum Schutze der Schwachen,
die Hexe aus dem Poucheuellekeller aber erklärte, das Gesetz helfe dem Starken
gegen den Schwachen, dem Manne gegen das Weib, dem Vater gegen die Kinder.

Ihr kennt die Gesetze nicht, sie wollen schützen, nicht vernichten, ereiferte sich
der junge Mann. — Ich Hab Euch aus dem Leben meiner Kinder erzählt, hat das
Gesetz sie geschützt? Hat es mich geschützt, als ich, ein schwaches Kind, hinging, um
seine Hilfe anzurufen? Hat es die Kinder nicht von den Vätern vernichten lassen?
Oder hat es den Männern das Mißhandeln ihrer Frauen verboten? Oder hat es
ihnen das Trinken untersagt?

Dann schwieg der wortgewandte Fremde und starrte mit nachdenklichen, trau¬
rigen Augen vor sich hin. Und der Staat der Marionette, die er in Arbeit hatte,
machte keine Fortschritte.

Verächtlich entzog sie Ovale endlich den Händen des Träumers. Faulenzer,
Zischelte es dabei zwischen seinen schmalen, blutlosen Lippen.

Ovale konnte den Fremden nicht leiden. Er duldete ihn nur widerwillig in
seinem Zimmer, an seinem Tische. Konnte der Komödiant nicht bei den Schwätzern


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[0183] Im alten Brüssel stummer Zuhörer zwischen den Gästen in der Schenkstube, fing er aber einmal an zu reden, schwieg gleich alles um ihn her, weil er redete wie ein Buch, gewandt und klug; das haftete ihm wohl noch von seinen großen Buhuenrollen an. Und das hatten die Leute gern, einen feinen Schauspieler umsonst diskurieren zu hören; also war Papa Tooue froh über diesen hereingeschneiten Gehilfen. Und auch Fintje war erfreut über den neuen, interessanten Hausgenossen. Sie hatte es jetzt immer sehr eilig, aus dem Geschäft heimzukommen, und stürmte dann gleich in Oomkes Stube, wo um diese Zeit der schlanke, große Fremde neben dem kleinen Ovale am Tische saß, auf dem immer noch die grün¬ beschirmte Petroleumlampe leuchtete, und die reparaturbedürftigen Marionetten bunt herumlagen. Der Fremde war nicht so emsig und geschickt mit den Fingern wie Ovale, obgleich er schmale und wohlgepflegte Hände hatte. „Faulenzerhände," sagte Ovale verächtlich. „Schauspielerbande," dachte Fintje, und „Schauspieler¬ augen," fuhr sie in Gedanken fort, wenn er die scharfblickender graublauen Augen unbekümmert um das Fortschreiten seiner Arbeit aufmerksam in der Stube umher¬ gleiten ließ, über Ovale und die Großmutter und über sie selbst. Solche Augen hat er gemacht, wenn er einen kühnen Ritter zu spielen hatte oder einen mächtigen Fürsten oder gar einen liebenden Prinzen, philosophierte Fintje, so scharfe, kluge, liebe Augen. Und sie, die das Erröten bisher nur vom Sagenhören gekannt hatte, senkte tief das blasse Gesichtchen, in das jählings heiße Blutwellen stiegen, sobald diese Augen eine Weile auf ihr haften blieben. Unwillkürlich dämpfte sie ihre schrille, uugeschulte Stimme, wenn sie zu Jan l'Grand sprach, der immer in einer ruhigen und gesitteten Weise redete und nie gemeine Schimpfwörter gebrauchte. Sie fühlte einen Unterschied heraus im Wesen dieses Fremden gegen das der übrigen Bewohner des Windengangs, wenngleich er nicht besser gekleidet ging als diese. Und auch die Großmutter empfand den Abstand. Sie ließ sich herbei, eingehender mit ihm zu reden und seinen Antworten einige Aufmerksamkeit zu schenken, als läge es ihr nicht gar fern, sich in diesem und jenem von ihm belehren zu lassen, sie, die Hexe, die den Haufen bittrer Er¬ fahrungen auf dem Herze» lasten hatte und alles tiefer durchgrübelt hatte als die übrige gedankenlose Menschheit um sie her. Und doch war er noch jung, der ihr in manchem Punkte mit überzeugenden Eifer das Gegenteil ihrer Ansichten beizubringen suchte. schüttelte sie auch den Kopf dazu, sie hörte ihn doch an. Seltsam aber war es, wie sich dieser fremde junge Mensch die traurigen Geschichten der Alten zu Herzen nahm. Verwundert sah Fintje ihn an, wenn sich während des ZuHörens seine Brauen wie im Schmerz zusammenzogen, die Stirn sich zorn¬ voll faltete, und die Hände sich zu Fäusten trumpften, als habe er, er selbst ver¬ säumt, das Schreckliche, von dem die Alte erzählte, von den unglücklichen Geschöpfen abzuwenden. Über eins konnten sie sich nie einigen, die Großmutter und der Fremde: der junge Mensch behauptete, das Gesetz sei da zum Schutze der Schwachen, die Hexe aus dem Poucheuellekeller aber erklärte, das Gesetz helfe dem Starken gegen den Schwachen, dem Manne gegen das Weib, dem Vater gegen die Kinder. Ihr kennt die Gesetze nicht, sie wollen schützen, nicht vernichten, ereiferte sich der junge Mann. — Ich Hab Euch aus dem Leben meiner Kinder erzählt, hat das Gesetz sie geschützt? Hat es mich geschützt, als ich, ein schwaches Kind, hinging, um seine Hilfe anzurufen? Hat es die Kinder nicht von den Vätern vernichten lassen? Oder hat es den Männern das Mißhandeln ihrer Frauen verboten? Oder hat es ihnen das Trinken untersagt? Dann schwieg der wortgewandte Fremde und starrte mit nachdenklichen, trau¬ rigen Augen vor sich hin. Und der Staat der Marionette, die er in Arbeit hatte, machte keine Fortschritte. Verächtlich entzog sie Ovale endlich den Händen des Träumers. Faulenzer, Zischelte es dabei zwischen seinen schmalen, blutlosen Lippen. Ovale konnte den Fremden nicht leiden. Er duldete ihn nur widerwillig in seinem Zimmer, an seinem Tische. Konnte der Komödiant nicht bei den Schwätzern

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/183>, abgerufen am 22.12.2024.