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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Neugier und Wißbegier

geht zusammen der, Neues hervorzurufen, auch im kleinen allerlei neu zu
gestalten und zu formen, wie denn Frankreich das Heimatland der immer
wechselnden Mode ist, nicht nur auf dem Gebiete der Kleidung.

Neue Gestaltungen des äußern Kulturlebens wirken auch auf persönlich
ethische Zustände modifizierend ein. Soviel von der alten kleinstädtischen
Neugier (denn die Kleinstädte gelten doch als ihr günstigster Boden) der
moderne Großstädter überwunden hat, oder der moderne Kulturmensch über¬
haupt, der ja nun überall etwas vom Großstädter an sich hat, so gibt es doch
für diesen wieder neue Formen, in denen sich die Neugier kundtut. Gegen der
Stadtnachbarn Familienleben gleichgiltig geworden, bedarf man um so mehr
der immer neuen Auskunft über das, was die öffentliche Welt irgendwo
Interessantes bietet; Zeitungen, die nicht täglich zwei- oder dreimal erscheinen
und die nicht neben der Politik alle wertvollen und wertlosen Kultur- und
Lebensgebiete berühren, haben keinen rechten Bestand mehr; man stürzt sich
täglich einigemal auf das gedruckte Neue und Neueste, verachtet alsbald schon
die Nachricht der vorige"? halben Stunde und den, der sich nicht ebenfalls
immer mit dem Neuesten bekannt erweist. Überhaupt mag das Bedürfnis,
Sensationen irgendwelcher Art zu erfahren, als eine in der Kulturwelt natür¬
liche Weiterentwicklung der naiven Neugier angesehen werden. Dabei nimmt
es das Publikum als solches gewissermaßen als sein Recht in Anspruch, über
die intimsten Lebensvorgänge namentlich der Höchstgestellten immer genau auf
dein laufenden erhalten zu werden, natürlich über die etwaigen Lebensirrungen
um so bestimmter als über alles Korrekte und Gute.

Auch das Erpichtsein auf die schleunige Kenntnisnahme vom Neuen und
Neuesten in Literatur und Kunst mutet einen mitunter als pure Neugier oder
doch als eine Abart davon an, und natürlich noch mehr, wenn sich alsbald
die Lust verrät, zugleich von den intimen Lebensverhältnissen der Schriftsteller
und der Künstler möglichst viel zu erfahren. Wo Wertvolles für die Wert-
empfünglichkeit geboten wird, sucht zugleich die Neugier das äußerlich Um¬
rahmende, das versteckt Persönliche, das Pikante. Sollte man nicht auch die
Gewohnheit immer weiter ausgreifender Vergnügungsreisen, das Bedürfnis, an
allen irgendwie gerühmten Orten selbst gewesen zu sein, mit auf den Trieb der
Neugierde zurückführen dürfen? Sie hat eben mannigfaltige Formen der
Äußerung und Wirkung, weil sie eine so elementare menschliche Sache ist.

Natürlich sind alle derlei Bedürfnisse etwas besseres als ein stumpfes
Dahinleben im Gewohnten; die Neugier mag immer wieder Ausgangspunkt
werden für wertvolle Erfahrung und Bildung; oder sie mag als solche für das
unvermeidliche Unkraut gelten, das zwischen dem schützbaren Interesse aus dem
Boden aufschießt, das aber dieses letzte keineswegs ersticken muß. Und in
der Tat, wie wenig fehlt es zum Beispiel auch der Gegenwart an wirklicher
Wißbegier! Schon etwas so Indifferentes wie die Zeitungsgier ermöglicht
doch immer wieder die Gewinnung eines zutreffenden Bildes von dem An¬
gesicht der Kulturwelt, in der wir leben; wer darauf verzichtete, Hütte nicht
etwa bloß die Neugierde abgetan, sondern Notwendiges versäumt. Aber weit
über diese Region des Politischen oder des öffentlich Sozialen hinaus, wieviel


Grenzboten I 190S 20
Neugier und Wißbegier

geht zusammen der, Neues hervorzurufen, auch im kleinen allerlei neu zu
gestalten und zu formen, wie denn Frankreich das Heimatland der immer
wechselnden Mode ist, nicht nur auf dem Gebiete der Kleidung.

Neue Gestaltungen des äußern Kulturlebens wirken auch auf persönlich
ethische Zustände modifizierend ein. Soviel von der alten kleinstädtischen
Neugier (denn die Kleinstädte gelten doch als ihr günstigster Boden) der
moderne Großstädter überwunden hat, oder der moderne Kulturmensch über¬
haupt, der ja nun überall etwas vom Großstädter an sich hat, so gibt es doch
für diesen wieder neue Formen, in denen sich die Neugier kundtut. Gegen der
Stadtnachbarn Familienleben gleichgiltig geworden, bedarf man um so mehr
der immer neuen Auskunft über das, was die öffentliche Welt irgendwo
Interessantes bietet; Zeitungen, die nicht täglich zwei- oder dreimal erscheinen
und die nicht neben der Politik alle wertvollen und wertlosen Kultur- und
Lebensgebiete berühren, haben keinen rechten Bestand mehr; man stürzt sich
täglich einigemal auf das gedruckte Neue und Neueste, verachtet alsbald schon
die Nachricht der vorige«? halben Stunde und den, der sich nicht ebenfalls
immer mit dem Neuesten bekannt erweist. Überhaupt mag das Bedürfnis,
Sensationen irgendwelcher Art zu erfahren, als eine in der Kulturwelt natür¬
liche Weiterentwicklung der naiven Neugier angesehen werden. Dabei nimmt
es das Publikum als solches gewissermaßen als sein Recht in Anspruch, über
die intimsten Lebensvorgänge namentlich der Höchstgestellten immer genau auf
dein laufenden erhalten zu werden, natürlich über die etwaigen Lebensirrungen
um so bestimmter als über alles Korrekte und Gute.

Auch das Erpichtsein auf die schleunige Kenntnisnahme vom Neuen und
Neuesten in Literatur und Kunst mutet einen mitunter als pure Neugier oder
doch als eine Abart davon an, und natürlich noch mehr, wenn sich alsbald
die Lust verrät, zugleich von den intimen Lebensverhältnissen der Schriftsteller
und der Künstler möglichst viel zu erfahren. Wo Wertvolles für die Wert-
empfünglichkeit geboten wird, sucht zugleich die Neugier das äußerlich Um¬
rahmende, das versteckt Persönliche, das Pikante. Sollte man nicht auch die
Gewohnheit immer weiter ausgreifender Vergnügungsreisen, das Bedürfnis, an
allen irgendwie gerühmten Orten selbst gewesen zu sein, mit auf den Trieb der
Neugierde zurückführen dürfen? Sie hat eben mannigfaltige Formen der
Äußerung und Wirkung, weil sie eine so elementare menschliche Sache ist.

Natürlich sind alle derlei Bedürfnisse etwas besseres als ein stumpfes
Dahinleben im Gewohnten; die Neugier mag immer wieder Ausgangspunkt
werden für wertvolle Erfahrung und Bildung; oder sie mag als solche für das
unvermeidliche Unkraut gelten, das zwischen dem schützbaren Interesse aus dem
Boden aufschießt, das aber dieses letzte keineswegs ersticken muß. Und in
der Tat, wie wenig fehlt es zum Beispiel auch der Gegenwart an wirklicher
Wißbegier! Schon etwas so Indifferentes wie die Zeitungsgier ermöglicht
doch immer wieder die Gewinnung eines zutreffenden Bildes von dem An¬
gesicht der Kulturwelt, in der wir leben; wer darauf verzichtete, Hütte nicht
etwa bloß die Neugierde abgetan, sondern Notwendiges versäumt. Aber weit
über diese Region des Politischen oder des öffentlich Sozialen hinaus, wieviel


Grenzboten I 190S 20
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[0153] Neugier und Wißbegier geht zusammen der, Neues hervorzurufen, auch im kleinen allerlei neu zu gestalten und zu formen, wie denn Frankreich das Heimatland der immer wechselnden Mode ist, nicht nur auf dem Gebiete der Kleidung. Neue Gestaltungen des äußern Kulturlebens wirken auch auf persönlich ethische Zustände modifizierend ein. Soviel von der alten kleinstädtischen Neugier (denn die Kleinstädte gelten doch als ihr günstigster Boden) der moderne Großstädter überwunden hat, oder der moderne Kulturmensch über¬ haupt, der ja nun überall etwas vom Großstädter an sich hat, so gibt es doch für diesen wieder neue Formen, in denen sich die Neugier kundtut. Gegen der Stadtnachbarn Familienleben gleichgiltig geworden, bedarf man um so mehr der immer neuen Auskunft über das, was die öffentliche Welt irgendwo Interessantes bietet; Zeitungen, die nicht täglich zwei- oder dreimal erscheinen und die nicht neben der Politik alle wertvollen und wertlosen Kultur- und Lebensgebiete berühren, haben keinen rechten Bestand mehr; man stürzt sich täglich einigemal auf das gedruckte Neue und Neueste, verachtet alsbald schon die Nachricht der vorige«? halben Stunde und den, der sich nicht ebenfalls immer mit dem Neuesten bekannt erweist. Überhaupt mag das Bedürfnis, Sensationen irgendwelcher Art zu erfahren, als eine in der Kulturwelt natür¬ liche Weiterentwicklung der naiven Neugier angesehen werden. Dabei nimmt es das Publikum als solches gewissermaßen als sein Recht in Anspruch, über die intimsten Lebensvorgänge namentlich der Höchstgestellten immer genau auf dein laufenden erhalten zu werden, natürlich über die etwaigen Lebensirrungen um so bestimmter als über alles Korrekte und Gute. Auch das Erpichtsein auf die schleunige Kenntnisnahme vom Neuen und Neuesten in Literatur und Kunst mutet einen mitunter als pure Neugier oder doch als eine Abart davon an, und natürlich noch mehr, wenn sich alsbald die Lust verrät, zugleich von den intimen Lebensverhältnissen der Schriftsteller und der Künstler möglichst viel zu erfahren. Wo Wertvolles für die Wert- empfünglichkeit geboten wird, sucht zugleich die Neugier das äußerlich Um¬ rahmende, das versteckt Persönliche, das Pikante. Sollte man nicht auch die Gewohnheit immer weiter ausgreifender Vergnügungsreisen, das Bedürfnis, an allen irgendwie gerühmten Orten selbst gewesen zu sein, mit auf den Trieb der Neugierde zurückführen dürfen? Sie hat eben mannigfaltige Formen der Äußerung und Wirkung, weil sie eine so elementare menschliche Sache ist. Natürlich sind alle derlei Bedürfnisse etwas besseres als ein stumpfes Dahinleben im Gewohnten; die Neugier mag immer wieder Ausgangspunkt werden für wertvolle Erfahrung und Bildung; oder sie mag als solche für das unvermeidliche Unkraut gelten, das zwischen dem schützbaren Interesse aus dem Boden aufschießt, das aber dieses letzte keineswegs ersticken muß. Und in der Tat, wie wenig fehlt es zum Beispiel auch der Gegenwart an wirklicher Wißbegier! Schon etwas so Indifferentes wie die Zeitungsgier ermöglicht doch immer wieder die Gewinnung eines zutreffenden Bildes von dem An¬ gesicht der Kulturwelt, in der wir leben; wer darauf verzichtete, Hütte nicht etwa bloß die Neugierde abgetan, sondern Notwendiges versäumt. Aber weit über diese Region des Politischen oder des öffentlich Sozialen hinaus, wieviel Grenzboten I 190S 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/153>, abgerufen am 22.12.2024.