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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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in allen Angelegenheiten aus. Er bestärkte den Zaren in der unglücklichsten
Idee seines Lebens, nämlich das Heer in Kolonien auf dem Lande anzusiedeln
und hier die Soldaten als Bauern und Familienväter zu halten mit voll¬
ständig geregelter Tätigkeit, sodaß kaum etwas andres als Sklaverei übrig
blieb, Araktschejeff machte sich zum ausführenden Organ dieses Projekts und
schlug die örtlichen Aufstünde dagegen mit grausamer Hand nieder. Aus diesen
Quälereien ging der Dekabristenaufstand hervor, dessen wir schon gedacht haben.

Derselbe Unstern wie üver der innern Politik schwebte über der äußern,
die sich Alexander als sein eigentliches Wirkungsfeld vorbehalten hatte, und die
er pflegte, anstatt sich der Hebung der so traurig zurückgebliebnen innern Ver¬
hältnisse zu widmen, Alexander war neben Metternich der Hauptträger der
Politik der Heiligen Allianz. Doch hat er den österreichischen Staatsmann
immer mit dem größten Mißtrauen behandelt und geradezu gehaßt. Die
rumänischen und die griechischen Unruhen machten sich in der großen Politik
verhängnisvoll geltend. Wieviel man auch Metternich vorzuwerfen hat, Alexander
ist ebensowenig freizusprechen, da er im trüben fischen wollte. Den gewundnen
Pfaden seiner Politik nachzugehn, ist hier nicht der Ort, genug, er ließ sich
verschiedentlich von den Türken aus seiner Position hcrausmanövrieren, und als
die Zügel der Regierungsgewalt dein Sterbenden aus der Hand fielen, stand
es um die auswärtige Politik ebenso übel wie um die innere.

Alexander hat kein persönliches und kein politisches Testament hinterlassen.
Er hinterließ nach Schiemann "eine Welt brutaler Tatsachen: die durch seine
Schuld bestehende Ungewißheit über die Nachfolge im Reich; eine große organi¬
sierte Militürverschwörung, von der er seit vier Jahren wußte, und deren Ent¬
wicklung er beobachtet hatte wie ein Zuschauer das Spiel auf der Bühne; er
hinterließ das polnische Problem, das er gezüchtet hatte, die türkische Ver¬
wicklung, die sich zugespitzt hatte zur Wahl zwischen politischer Demütigung
oder Krieg, eine felle Justiz und eine Verwaltung, in der Willkür und Unge¬
rechtigkeit die Zügel führten, ein durch offizielle Heuchelei zerrüttetes Schul-
wesen, eine Kirche, deren einflußreichste Häupter Männer waren wie Seraphim
und Photi, wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse, die erst begannen, sich
aus völligem Niedergang zu erheben, endlich, den Fluch Rußlands, die Leib¬
eigenschaft, . , , Die Schwielen an seinen Knien legten Zeugnis ab von den
Stunden, die er in Gebet und Zerknirschung hingebracht hatte, und diejenigen,
die ihm nahe gestanden, wußten auch, daß die Unruhe, die ihn rastlos durchs
Reich trieb, in geheimen Sorgen ihren Quell hatte. Nach außen hin zeigte
er unter allen Verhältnissen eine wunderbare Selbstbeherrschung, im Umgang
mit Menschen eine bezaubernde Liebenswürdigkeit, die er in gleicher Weise
gegen jedermann ausspielte: gegen Napoleon, de" er fürchtete, wie gegen
Metternich, den er seit dem Bertrage vom 3. Januar 1815 haßte, ohne es
je zu zeigen, gegen jeden Gesandten, der im Laufe all der Jahre nach Peters¬
burg geschickt wurde, wie gegen die dem Hof fernstehenden Privatleute, in deren
Kreisen er sich zwanglos zu bewegen liebte. Aber wir können nicht sagen, daß
auch nnr einer ihm wirklich nahe getreten ist. Gleichgiltig war ihm jeder
äußere Prunk, und doch blieb er allzeit der Kaiser. Gewiß lebte ein auf das


in allen Angelegenheiten aus. Er bestärkte den Zaren in der unglücklichsten
Idee seines Lebens, nämlich das Heer in Kolonien auf dem Lande anzusiedeln
und hier die Soldaten als Bauern und Familienväter zu halten mit voll¬
ständig geregelter Tätigkeit, sodaß kaum etwas andres als Sklaverei übrig
blieb, Araktschejeff machte sich zum ausführenden Organ dieses Projekts und
schlug die örtlichen Aufstünde dagegen mit grausamer Hand nieder. Aus diesen
Quälereien ging der Dekabristenaufstand hervor, dessen wir schon gedacht haben.

Derselbe Unstern wie üver der innern Politik schwebte über der äußern,
die sich Alexander als sein eigentliches Wirkungsfeld vorbehalten hatte, und die
er pflegte, anstatt sich der Hebung der so traurig zurückgebliebnen innern Ver¬
hältnisse zu widmen, Alexander war neben Metternich der Hauptträger der
Politik der Heiligen Allianz. Doch hat er den österreichischen Staatsmann
immer mit dem größten Mißtrauen behandelt und geradezu gehaßt. Die
rumänischen und die griechischen Unruhen machten sich in der großen Politik
verhängnisvoll geltend. Wieviel man auch Metternich vorzuwerfen hat, Alexander
ist ebensowenig freizusprechen, da er im trüben fischen wollte. Den gewundnen
Pfaden seiner Politik nachzugehn, ist hier nicht der Ort, genug, er ließ sich
verschiedentlich von den Türken aus seiner Position hcrausmanövrieren, und als
die Zügel der Regierungsgewalt dein Sterbenden aus der Hand fielen, stand
es um die auswärtige Politik ebenso übel wie um die innere.

Alexander hat kein persönliches und kein politisches Testament hinterlassen.
Er hinterließ nach Schiemann „eine Welt brutaler Tatsachen: die durch seine
Schuld bestehende Ungewißheit über die Nachfolge im Reich; eine große organi¬
sierte Militürverschwörung, von der er seit vier Jahren wußte, und deren Ent¬
wicklung er beobachtet hatte wie ein Zuschauer das Spiel auf der Bühne; er
hinterließ das polnische Problem, das er gezüchtet hatte, die türkische Ver¬
wicklung, die sich zugespitzt hatte zur Wahl zwischen politischer Demütigung
oder Krieg, eine felle Justiz und eine Verwaltung, in der Willkür und Unge¬
rechtigkeit die Zügel führten, ein durch offizielle Heuchelei zerrüttetes Schul-
wesen, eine Kirche, deren einflußreichste Häupter Männer waren wie Seraphim
und Photi, wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse, die erst begannen, sich
aus völligem Niedergang zu erheben, endlich, den Fluch Rußlands, die Leib¬
eigenschaft, . , , Die Schwielen an seinen Knien legten Zeugnis ab von den
Stunden, die er in Gebet und Zerknirschung hingebracht hatte, und diejenigen,
die ihm nahe gestanden, wußten auch, daß die Unruhe, die ihn rastlos durchs
Reich trieb, in geheimen Sorgen ihren Quell hatte. Nach außen hin zeigte
er unter allen Verhältnissen eine wunderbare Selbstbeherrschung, im Umgang
mit Menschen eine bezaubernde Liebenswürdigkeit, die er in gleicher Weise
gegen jedermann ausspielte: gegen Napoleon, de» er fürchtete, wie gegen
Metternich, den er seit dem Bertrage vom 3. Januar 1815 haßte, ohne es
je zu zeigen, gegen jeden Gesandten, der im Laufe all der Jahre nach Peters¬
burg geschickt wurde, wie gegen die dem Hof fernstehenden Privatleute, in deren
Kreisen er sich zwanglos zu bewegen liebte. Aber wir können nicht sagen, daß
auch nnr einer ihm wirklich nahe getreten ist. Gleichgiltig war ihm jeder
äußere Prunk, und doch blieb er allzeit der Kaiser. Gewiß lebte ein auf das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/139>, abgerufen am 22.12.2024.