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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Line Silvesterbetrachtung

nicht einen Krieg mit England für das allergrößte Unglück hielte; nur einzelne
Toren spielen mit diesem Gedanken wie das Kind mit dem Feuer. Daß wir
aber die stärksten wirtschaftlichen Konkurrenten Englands sind, daß der deutsche
Michel wenigstens als Kaufmann seine Schlafmütze abgeworfen hat, das ist ja
zum Glück nicht zu leugnen, aber damit wird sich John Bull ebensogut ab¬
finden müssen wie mit der ihm nicht minder lästigen Tatsache, daß es mit der
britischen Alleinherrschaft zur See, die beiläufig erst seit der Schlacht von Tra-
falgar 1805 bestanden hat und vor ihr nicht bestand, vorbei ist, seitdem andre
Kriegsflotten von immerhin beachtenswerter Größe entstanden sind, und wichtige
Entscheidungen zur See in Europa wie vor allem in Amerika und in Ostasien
gefallen sind, ohne daß ein englisches Kriegsschiff einen Schuß abgefeuert hätte,
was früher undenkbar gewesen wäre. Und heute führt eine starke russische Flotte
durch englische Gewässer mit Benutzung englischer Häfen nach Ostasien, und der
britische Löwe entläßt sie mit leisem Knurren!

Immerhin bedeutet in dem parlamentarisch regierten England die Presse
und die öffentliche Meinung mehr als bei uns, und auf der Hut sein -- ton^ours
su vöäetts! -- ist für unsre Politik das erste Gebot, um so mehr als Frank¬
reich als Bundesgenosse Englands gegen uns vermutlich leicht zu haben wäre.
Freilich dürfte man sich auch in Downingstreet die ernste Frage vorlegen: Ist
diese Verlegenheitsrepublik wirklich bündnisfühig, dieses Staatswesen, dessen Be¬
völkerung so gut wie stationär bleibt, dessen radikal-atheistische Regierung ihrer
eignen Armee so wenig sicher ist, daß sie sich nicht schämen darf, ihr Offizier-
korps durch -- Freimaurer belauern zu lassen, weil sie seiner klerikalen Ge¬
sinnung -- mit vollem Rechte -- nicht traut, und die doch -- natürlich unter
dem Beifall unsrer deutschen Katholikenfresser -- die Torheit begangen hat, sich
mit der römischen Hierarchie in einen erbitterten "Kulturkampf" einzulassen, also
den Riß zwischen den augenblicklichen Machthaber" und den noch kirchlich ge¬
sinnten Schichten des französischen Volkes zu erweitern. Wo ist denn nur in
der heutigen innern Politik Frankreichs eine einzige positive Idee? Mit bloßen
Negationen ersieht man keine Siege, und wenn diese Negierung eines abgefallncn
Priesters die Kreuze aus den Gerichtssälen hat entfernen lassen, so ist das nur
der echtfranzösische, kindische Krieg gegen Denkmäler und Symbole, den die erste
französische Republik wenigstens insofern mit etwas mehr positiven Mitteln führte,
als sie zum Beispiel ans dem Turme des Straßburger Münsters das Kreuz
durch eine Jakobinermütze aus rot angestrichnem Blech ersetzen ließ. Vielleicht
kommt Herr Combes auch noch so weit. Nein, dieses Frankreich der dritten
Republik hat nicht mehr innere Festigkeit genug, einen großen Krieg zu führen,
und seine Geltung im Rate der Völker ist trotz seiner erfolgreichen Kolonial¬
politik sichtlich im Sinken. Rußland aber wird aus dem japanischen Kriege
unter allen Umständen so geschwächt an Heereskraft und Finanzen hervorgehn,
daß es auf einige Zeit einen großen europäischen Krieg nicht führen kann, noch
ganz abgesehen von den Wirkungen, die ein stärkeres Anschwellen der konstitu¬
tionellen Bewegung haben könnte, und der Ruf seiner Armee ist trotz aller
Tapferkeit schwer erschüttert, die Geltung seiner Flotte tief gesunken; ja für
Europa gibt es ein aktionsfühiges russisches Geschwader von Bedeutung vorläufig


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nicht einen Krieg mit England für das allergrößte Unglück hielte; nur einzelne
Toren spielen mit diesem Gedanken wie das Kind mit dem Feuer. Daß wir
aber die stärksten wirtschaftlichen Konkurrenten Englands sind, daß der deutsche
Michel wenigstens als Kaufmann seine Schlafmütze abgeworfen hat, das ist ja
zum Glück nicht zu leugnen, aber damit wird sich John Bull ebensogut ab¬
finden müssen wie mit der ihm nicht minder lästigen Tatsache, daß es mit der
britischen Alleinherrschaft zur See, die beiläufig erst seit der Schlacht von Tra-
falgar 1805 bestanden hat und vor ihr nicht bestand, vorbei ist, seitdem andre
Kriegsflotten von immerhin beachtenswerter Größe entstanden sind, und wichtige
Entscheidungen zur See in Europa wie vor allem in Amerika und in Ostasien
gefallen sind, ohne daß ein englisches Kriegsschiff einen Schuß abgefeuert hätte,
was früher undenkbar gewesen wäre. Und heute führt eine starke russische Flotte
durch englische Gewässer mit Benutzung englischer Häfen nach Ostasien, und der
britische Löwe entläßt sie mit leisem Knurren!

Immerhin bedeutet in dem parlamentarisch regierten England die Presse
und die öffentliche Meinung mehr als bei uns, und auf der Hut sein — ton^ours
su vöäetts! — ist für unsre Politik das erste Gebot, um so mehr als Frank¬
reich als Bundesgenosse Englands gegen uns vermutlich leicht zu haben wäre.
Freilich dürfte man sich auch in Downingstreet die ernste Frage vorlegen: Ist
diese Verlegenheitsrepublik wirklich bündnisfühig, dieses Staatswesen, dessen Be¬
völkerung so gut wie stationär bleibt, dessen radikal-atheistische Regierung ihrer
eignen Armee so wenig sicher ist, daß sie sich nicht schämen darf, ihr Offizier-
korps durch — Freimaurer belauern zu lassen, weil sie seiner klerikalen Ge¬
sinnung — mit vollem Rechte — nicht traut, und die doch — natürlich unter
dem Beifall unsrer deutschen Katholikenfresser — die Torheit begangen hat, sich
mit der römischen Hierarchie in einen erbitterten „Kulturkampf" einzulassen, also
den Riß zwischen den augenblicklichen Machthaber» und den noch kirchlich ge¬
sinnten Schichten des französischen Volkes zu erweitern. Wo ist denn nur in
der heutigen innern Politik Frankreichs eine einzige positive Idee? Mit bloßen
Negationen ersieht man keine Siege, und wenn diese Negierung eines abgefallncn
Priesters die Kreuze aus den Gerichtssälen hat entfernen lassen, so ist das nur
der echtfranzösische, kindische Krieg gegen Denkmäler und Symbole, den die erste
französische Republik wenigstens insofern mit etwas mehr positiven Mitteln führte,
als sie zum Beispiel ans dem Turme des Straßburger Münsters das Kreuz
durch eine Jakobinermütze aus rot angestrichnem Blech ersetzen ließ. Vielleicht
kommt Herr Combes auch noch so weit. Nein, dieses Frankreich der dritten
Republik hat nicht mehr innere Festigkeit genug, einen großen Krieg zu führen,
und seine Geltung im Rate der Völker ist trotz seiner erfolgreichen Kolonial¬
politik sichtlich im Sinken. Rußland aber wird aus dem japanischen Kriege
unter allen Umständen so geschwächt an Heereskraft und Finanzen hervorgehn,
daß es auf einige Zeit einen großen europäischen Krieg nicht führen kann, noch
ganz abgesehen von den Wirkungen, die ein stärkeres Anschwellen der konstitu¬
tionellen Bewegung haben könnte, und der Ruf seiner Armee ist trotz aller
Tapferkeit schwer erschüttert, die Geltung seiner Flotte tief gesunken; ja für
Europa gibt es ein aktionsfühiges russisches Geschwader von Bedeutung vorläufig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/13>, abgerufen am 22.12.2024.