Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Silvesterbetrachtnng

Murawiew, wie erzählt wird, erklärt, er könne sein Amt nicht weiter führen,
weil seine Beamten nicht mehr autokratisch gesinnt seien, dann muß es weit
gekommen sein im heiligen Nußland.

Nicht daß eine Revolution bevorstünde; eine solche können nur liberale
Doktrinäre in Westeuropa erwarten, die von Rußland nichts wissen und immer
noch an die alleinseligmachende Kraft abendländischer Verfassungen glauben;
der russische Bauer, d. i. neunzig Prozent der Bevölkerung, revoltiert nicht gegen
den Zaren, sondern höchstens gegen örtliche Übelstände und Beamtenwillkür,
und die Handvoll Nihilisten, die immer gebildete junge Leute sind, hat es
über Mordtaten und Putsche niemals hinaufgebracht; aber es könnte Wohl
sein, daß die regierenden Kreise selbst an der Lebensfähigkeit des Absolutismus,
d, h, der autokratischen Bureaukratie verzweifeln. In der Tat verheißt der
jüngste Reformntas des Zaren Erweiterung der örtlichen Selbstverwaltung,
Beschränkung der Beamtenwillkür und der Ausnahmegesetze, einheitliche Ordnung
des Gerichtswesens, Fortsetzung der Bauernbefreiung, staatliche Versicherung der
Handwerker und der Industriearbeiter, größere Freiheit der Presse. Ob aber
die einmal erregte öffentliche Meinung mit diesen Reformen, die den Absolutis¬
mus nicht berühren, zufrieden sein wird? Freilich, wie ein russischer Reichstag
aussehen und was für Folgen er haben würde, das ist schwer zu sagen.
Die Beschränkung auf das europäische Rußland wäre selbstverständlich; aber
auch hier könnte von einem allgemeinen, ja anch nur vou einem sehr demo¬
kratischen Wahlrecht gar keine Rede sein, dazu steht die Volksbildung noch
viel zu tief. Möglich wäre vielleicht nach dein Muster des alten österreichischen
Reichsrath eine Delegiertenversammlung aus den Semstwa, deren Mitglieder
doch administrativ und politisch einigermaßen geschult sind; aber auch in einer
solchen würde sich sofort zeigen, daß im europäischen Nußland neben den
herrschenden Großrussen sehr verschiedne Völker wohnen, Kleinrussen, Polen,
Deutsche, Letten, Ehlen, Tataren usw., die ihre besondern Bedürfnisse und
Beschwerden sofort zur Sprache bringen würden, und nach einer russischen
Wiederholung des bankrotten österreichischen Parlamentarismus kauu in Nu߬
land niemand Sehnsucht haben. Doch wird der Versuch vielleicht schließlich doch
nicht zu umgehn sein, und er kann besser gelingen als im österreichischen Völker¬
staat, denn die Großrussen haben ein unbestreitbares Übergewicht der Zahl, und der
russische Patriotismus ist unerschüttert. Jedenfalls würde ein russischer Reichs¬
tag seiner Zusammensetzung nach aristokratisch, seinem Geiste nach monarchisch
sein. Aber ob diese Kreise geneigt und geeignet wären, die nur halb gelungne
Bauernemanzipation, die wichtigste Frage ihrer ganzen innern Politik, weiter¬
zuführen?

Mag nun dieser Krieg ausgehn, wie er will, die Welt wird mancherlei
daraus zu lernen haben. Erstens, daß ein Krieg, der und allen Mitteln der
modernen Technik geführt wird, an Furchtbarkeit und Grausamkeit alles Dage-
wesne übertrifft und die gerühmte Humanität unsers Zeitalters Lügen straft,
daß die Zivilisation hier geradezu die Feindin der Kultur ist. Zweitens, daß
die Kriegsflotten eine so entscheidende Bedeutung gewonnen haben wie niemals im
neunzehnten Jahrhundert. Drittens, daß es heute eine europäische Politik über-


Line Silvesterbetrachtnng

Murawiew, wie erzählt wird, erklärt, er könne sein Amt nicht weiter führen,
weil seine Beamten nicht mehr autokratisch gesinnt seien, dann muß es weit
gekommen sein im heiligen Nußland.

Nicht daß eine Revolution bevorstünde; eine solche können nur liberale
Doktrinäre in Westeuropa erwarten, die von Rußland nichts wissen und immer
noch an die alleinseligmachende Kraft abendländischer Verfassungen glauben;
der russische Bauer, d. i. neunzig Prozent der Bevölkerung, revoltiert nicht gegen
den Zaren, sondern höchstens gegen örtliche Übelstände und Beamtenwillkür,
und die Handvoll Nihilisten, die immer gebildete junge Leute sind, hat es
über Mordtaten und Putsche niemals hinaufgebracht; aber es könnte Wohl
sein, daß die regierenden Kreise selbst an der Lebensfähigkeit des Absolutismus,
d, h, der autokratischen Bureaukratie verzweifeln. In der Tat verheißt der
jüngste Reformntas des Zaren Erweiterung der örtlichen Selbstverwaltung,
Beschränkung der Beamtenwillkür und der Ausnahmegesetze, einheitliche Ordnung
des Gerichtswesens, Fortsetzung der Bauernbefreiung, staatliche Versicherung der
Handwerker und der Industriearbeiter, größere Freiheit der Presse. Ob aber
die einmal erregte öffentliche Meinung mit diesen Reformen, die den Absolutis¬
mus nicht berühren, zufrieden sein wird? Freilich, wie ein russischer Reichstag
aussehen und was für Folgen er haben würde, das ist schwer zu sagen.
Die Beschränkung auf das europäische Rußland wäre selbstverständlich; aber
auch hier könnte von einem allgemeinen, ja anch nur vou einem sehr demo¬
kratischen Wahlrecht gar keine Rede sein, dazu steht die Volksbildung noch
viel zu tief. Möglich wäre vielleicht nach dein Muster des alten österreichischen
Reichsrath eine Delegiertenversammlung aus den Semstwa, deren Mitglieder
doch administrativ und politisch einigermaßen geschult sind; aber auch in einer
solchen würde sich sofort zeigen, daß im europäischen Nußland neben den
herrschenden Großrussen sehr verschiedne Völker wohnen, Kleinrussen, Polen,
Deutsche, Letten, Ehlen, Tataren usw., die ihre besondern Bedürfnisse und
Beschwerden sofort zur Sprache bringen würden, und nach einer russischen
Wiederholung des bankrotten österreichischen Parlamentarismus kauu in Nu߬
land niemand Sehnsucht haben. Doch wird der Versuch vielleicht schließlich doch
nicht zu umgehn sein, und er kann besser gelingen als im österreichischen Völker¬
staat, denn die Großrussen haben ein unbestreitbares Übergewicht der Zahl, und der
russische Patriotismus ist unerschüttert. Jedenfalls würde ein russischer Reichs¬
tag seiner Zusammensetzung nach aristokratisch, seinem Geiste nach monarchisch
sein. Aber ob diese Kreise geneigt und geeignet wären, die nur halb gelungne
Bauernemanzipation, die wichtigste Frage ihrer ganzen innern Politik, weiter¬
zuführen?

Mag nun dieser Krieg ausgehn, wie er will, die Welt wird mancherlei
daraus zu lernen haben. Erstens, daß ein Krieg, der und allen Mitteln der
modernen Technik geführt wird, an Furchtbarkeit und Grausamkeit alles Dage-
wesne übertrifft und die gerühmte Humanität unsers Zeitalters Lügen straft,
daß die Zivilisation hier geradezu die Feindin der Kultur ist. Zweitens, daß
die Kriegsflotten eine so entscheidende Bedeutung gewonnen haben wie niemals im
neunzehnten Jahrhundert. Drittens, daß es heute eine europäische Politik über-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0011" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87488"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Silvesterbetrachtnng</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_5" prev="#ID_4"> Murawiew, wie erzählt wird, erklärt, er könne sein Amt nicht weiter führen,<lb/>
weil seine Beamten nicht mehr autokratisch gesinnt seien, dann muß es weit<lb/>
gekommen sein im heiligen Nußland.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_6"> Nicht daß eine Revolution bevorstünde; eine solche können nur liberale<lb/>
Doktrinäre in Westeuropa erwarten, die von Rußland nichts wissen und immer<lb/>
noch an die alleinseligmachende Kraft abendländischer Verfassungen glauben;<lb/>
der russische Bauer, d. i. neunzig Prozent der Bevölkerung, revoltiert nicht gegen<lb/>
den Zaren, sondern höchstens gegen örtliche Übelstände und Beamtenwillkür,<lb/>
und die Handvoll Nihilisten, die immer gebildete junge Leute sind, hat es<lb/>
über Mordtaten und Putsche niemals hinaufgebracht; aber es könnte Wohl<lb/>
sein, daß die regierenden Kreise selbst an der Lebensfähigkeit des Absolutismus,<lb/>
d, h, der autokratischen Bureaukratie verzweifeln. In der Tat verheißt der<lb/>
jüngste Reformntas des Zaren Erweiterung der örtlichen Selbstverwaltung,<lb/>
Beschränkung der Beamtenwillkür und der Ausnahmegesetze, einheitliche Ordnung<lb/>
des Gerichtswesens, Fortsetzung der Bauernbefreiung, staatliche Versicherung der<lb/>
Handwerker und der Industriearbeiter, größere Freiheit der Presse. Ob aber<lb/>
die einmal erregte öffentliche Meinung mit diesen Reformen, die den Absolutis¬<lb/>
mus nicht berühren, zufrieden sein wird? Freilich, wie ein russischer Reichstag<lb/>
aussehen und was für Folgen er haben würde, das ist schwer zu sagen.<lb/>
Die Beschränkung auf das europäische Rußland wäre selbstverständlich; aber<lb/>
auch hier könnte von einem allgemeinen, ja anch nur vou einem sehr demo¬<lb/>
kratischen Wahlrecht gar keine Rede sein, dazu steht die Volksbildung noch<lb/>
viel zu tief. Möglich wäre vielleicht nach dein Muster des alten österreichischen<lb/>
Reichsrath eine Delegiertenversammlung aus den Semstwa, deren Mitglieder<lb/>
doch administrativ und politisch einigermaßen geschult sind; aber auch in einer<lb/>
solchen würde sich sofort zeigen, daß im europäischen Nußland neben den<lb/>
herrschenden Großrussen sehr verschiedne Völker wohnen, Kleinrussen, Polen,<lb/>
Deutsche, Letten, Ehlen, Tataren usw., die ihre besondern Bedürfnisse und<lb/>
Beschwerden sofort zur Sprache bringen würden, und nach einer russischen<lb/>
Wiederholung des bankrotten österreichischen Parlamentarismus kauu in Nu߬<lb/>
land niemand Sehnsucht haben. Doch wird der Versuch vielleicht schließlich doch<lb/>
nicht zu umgehn sein, und er kann besser gelingen als im österreichischen Völker¬<lb/>
staat, denn die Großrussen haben ein unbestreitbares Übergewicht der Zahl, und der<lb/>
russische Patriotismus ist unerschüttert. Jedenfalls würde ein russischer Reichs¬<lb/>
tag seiner Zusammensetzung nach aristokratisch, seinem Geiste nach monarchisch<lb/>
sein. Aber ob diese Kreise geneigt und geeignet wären, die nur halb gelungne<lb/>
Bauernemanzipation, die wichtigste Frage ihrer ganzen innern Politik, weiter¬<lb/>
zuführen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_7" next="#ID_8"> Mag nun dieser Krieg ausgehn, wie er will, die Welt wird mancherlei<lb/>
daraus zu lernen haben. Erstens, daß ein Krieg, der und allen Mitteln der<lb/>
modernen Technik geführt wird, an Furchtbarkeit und Grausamkeit alles Dage-<lb/>
wesne übertrifft und die gerühmte Humanität unsers Zeitalters Lügen straft,<lb/>
daß die Zivilisation hier geradezu die Feindin der Kultur ist. Zweitens, daß<lb/>
die Kriegsflotten eine so entscheidende Bedeutung gewonnen haben wie niemals im<lb/>
neunzehnten Jahrhundert. Drittens, daß es heute eine europäische Politik über-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0011] Line Silvesterbetrachtnng Murawiew, wie erzählt wird, erklärt, er könne sein Amt nicht weiter führen, weil seine Beamten nicht mehr autokratisch gesinnt seien, dann muß es weit gekommen sein im heiligen Nußland. Nicht daß eine Revolution bevorstünde; eine solche können nur liberale Doktrinäre in Westeuropa erwarten, die von Rußland nichts wissen und immer noch an die alleinseligmachende Kraft abendländischer Verfassungen glauben; der russische Bauer, d. i. neunzig Prozent der Bevölkerung, revoltiert nicht gegen den Zaren, sondern höchstens gegen örtliche Übelstände und Beamtenwillkür, und die Handvoll Nihilisten, die immer gebildete junge Leute sind, hat es über Mordtaten und Putsche niemals hinaufgebracht; aber es könnte Wohl sein, daß die regierenden Kreise selbst an der Lebensfähigkeit des Absolutismus, d, h, der autokratischen Bureaukratie verzweifeln. In der Tat verheißt der jüngste Reformntas des Zaren Erweiterung der örtlichen Selbstverwaltung, Beschränkung der Beamtenwillkür und der Ausnahmegesetze, einheitliche Ordnung des Gerichtswesens, Fortsetzung der Bauernbefreiung, staatliche Versicherung der Handwerker und der Industriearbeiter, größere Freiheit der Presse. Ob aber die einmal erregte öffentliche Meinung mit diesen Reformen, die den Absolutis¬ mus nicht berühren, zufrieden sein wird? Freilich, wie ein russischer Reichstag aussehen und was für Folgen er haben würde, das ist schwer zu sagen. Die Beschränkung auf das europäische Rußland wäre selbstverständlich; aber auch hier könnte von einem allgemeinen, ja anch nur vou einem sehr demo¬ kratischen Wahlrecht gar keine Rede sein, dazu steht die Volksbildung noch viel zu tief. Möglich wäre vielleicht nach dein Muster des alten österreichischen Reichsrath eine Delegiertenversammlung aus den Semstwa, deren Mitglieder doch administrativ und politisch einigermaßen geschult sind; aber auch in einer solchen würde sich sofort zeigen, daß im europäischen Nußland neben den herrschenden Großrussen sehr verschiedne Völker wohnen, Kleinrussen, Polen, Deutsche, Letten, Ehlen, Tataren usw., die ihre besondern Bedürfnisse und Beschwerden sofort zur Sprache bringen würden, und nach einer russischen Wiederholung des bankrotten österreichischen Parlamentarismus kauu in Nu߬ land niemand Sehnsucht haben. Doch wird der Versuch vielleicht schließlich doch nicht zu umgehn sein, und er kann besser gelingen als im österreichischen Völker¬ staat, denn die Großrussen haben ein unbestreitbares Übergewicht der Zahl, und der russische Patriotismus ist unerschüttert. Jedenfalls würde ein russischer Reichs¬ tag seiner Zusammensetzung nach aristokratisch, seinem Geiste nach monarchisch sein. Aber ob diese Kreise geneigt und geeignet wären, die nur halb gelungne Bauernemanzipation, die wichtigste Frage ihrer ganzen innern Politik, weiter¬ zuführen? Mag nun dieser Krieg ausgehn, wie er will, die Welt wird mancherlei daraus zu lernen haben. Erstens, daß ein Krieg, der und allen Mitteln der modernen Technik geführt wird, an Furchtbarkeit und Grausamkeit alles Dage- wesne übertrifft und die gerühmte Humanität unsers Zeitalters Lügen straft, daß die Zivilisation hier geradezu die Feindin der Kultur ist. Zweitens, daß die Kriegsflotten eine so entscheidende Bedeutung gewonnen haben wie niemals im neunzehnten Jahrhundert. Drittens, daß es heute eine europäische Politik über-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/11
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/11>, abgerufen am 23.07.2024.