Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Holland und die Holländer

eine rationelle Landwirtschaft so störenden Naturalzehnten sind wohl im Laufe
der Jahrhunderte in andre Hände übergegangen als die, wofür sie ursprünglich
auferlegt und für die sie allein einen Sinn hatten, aber sie bestehn größtenteils
noch heutzutage. Unfallversicherung von Staats wegen ist eben erst eingeführt.
An Alterspensionen durch den Staat wird sehr zögernd gedacht. Expropriations¬
gesetze bei der übertriebnen Heilighaltung des individuellen Eigentums erscheinen
sehr verspätet und unvollkommen. An Güterzusammenlegung oder auch nur
Gewannregulierung ist unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Auf dem
Gebiete der Forstgesetzgebung ist endlich, dank der Initiative einzelner ein¬
sichtiger Männer, die bei Deutschland in die Schule gegangen sind, einiges er¬
reicht, es fehlt aber an jeder kräftigen Spitze im Staatsleben. Jeder Beamte
erfreut sich seiner "Libertät" und wird, wenn nicht von Natur energisch und
wohlwollend, ein kleiner Pascha und so ein Hemmnis der allgemeinen Organi¬
sation, und wenn er nicht gerade silberne Löffel stiehlt, bleibt er auch bei aller
Obstruktion gegen den Willen seiner Borgesetzten unbehelligt in seinem Amte,
bis es ihm gefällig ist, mit Pension oder Tod abzugehn. Von einer Ma߬
regelung ist niemals die Rede; vielmehr wird jeder Versuch hierzu durch die
zügellose Presse an den Pranger gestellt. Die einfachsten Entschlüsse dauern
unendlich lange Zeit, da in dem Räderwerk der Staatsmaschine immer einzelne
Teile verrostet sind, die niemand die Macht hat zu beseitigen. Alle Dinge
werden auf die lange Bahn geschoben und gern kommissarisch gemacht, da auch
der Minister, der heute kommt und morgen geht, keine Macht hat, das subalterne
Schreiberwesen in seinem eignen Ressort zur Raison zu bringen. In dieser
letzten Beziehung würde natürlich die Annexion an das so viel besser organisierte
Deutschland ein großer Fortschritt sein, wird aber natürlich gerade in den be¬
teiligten Kreisen aufs äußerste gefürchtet.

Wer darf uun prophezeien unter so komplizierten und durch das vermut¬
liche Aussterben der geliebten Oranjedynastie noch mehr sich verwickelnden Um¬
ständen? Doch will ich meine Meinung nicht zurückhalten, daß vieles für eine
Zolleinigung, noch mehr aber gegen eine völlige politische Verschmelzung spricht.
In dem jetzigen Deutschland sind schon so viele zentrifugale Elemente, die nur
die Einheit der Sprache und die Überzeugung, daß man eben dem Allgemeinen
schmerzliche Opfer bringen müsse, notdürftig zusammenhält, daß man nicht hoffen
darf, ein selbständiges Volkstum mit stolzer Geschichte, eigner Sprache und
teilweise überlegner Kultur vollständig zu assimilieren. Und was nicht assimiliert
werden kann, bleibt eben als ein Fremdes im Staatsorganismus, dessen Kraft
nur schwächend, und wird je eher je besser wieder abgestoßen; und am allerbesten
bleibt es außerhalb der Gemeinschaft. Auch von militärischer Seite ist die etwaige
Annexion von Holland an Deutschland neuerdings als durchaus nicht im Interesse
Deutschlands beurteilt worden/')

Wenn somit die Chancen für ein Aufgehn von Holland in Deutschland
wenig günstig stehn, so wird andrerseits um so mehr die Frage erörtert oder
geradezu diese Lösung angestrebt, ob nicht Belgien wieder mit Holland zu einer



*) Geest, Deutsche Rundschau, März 1905.
Holland und die Holländer

eine rationelle Landwirtschaft so störenden Naturalzehnten sind wohl im Laufe
der Jahrhunderte in andre Hände übergegangen als die, wofür sie ursprünglich
auferlegt und für die sie allein einen Sinn hatten, aber sie bestehn größtenteils
noch heutzutage. Unfallversicherung von Staats wegen ist eben erst eingeführt.
An Alterspensionen durch den Staat wird sehr zögernd gedacht. Expropriations¬
gesetze bei der übertriebnen Heilighaltung des individuellen Eigentums erscheinen
sehr verspätet und unvollkommen. An Güterzusammenlegung oder auch nur
Gewannregulierung ist unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Auf dem
Gebiete der Forstgesetzgebung ist endlich, dank der Initiative einzelner ein¬
sichtiger Männer, die bei Deutschland in die Schule gegangen sind, einiges er¬
reicht, es fehlt aber an jeder kräftigen Spitze im Staatsleben. Jeder Beamte
erfreut sich seiner „Libertät" und wird, wenn nicht von Natur energisch und
wohlwollend, ein kleiner Pascha und so ein Hemmnis der allgemeinen Organi¬
sation, und wenn er nicht gerade silberne Löffel stiehlt, bleibt er auch bei aller
Obstruktion gegen den Willen seiner Borgesetzten unbehelligt in seinem Amte,
bis es ihm gefällig ist, mit Pension oder Tod abzugehn. Von einer Ma߬
regelung ist niemals die Rede; vielmehr wird jeder Versuch hierzu durch die
zügellose Presse an den Pranger gestellt. Die einfachsten Entschlüsse dauern
unendlich lange Zeit, da in dem Räderwerk der Staatsmaschine immer einzelne
Teile verrostet sind, die niemand die Macht hat zu beseitigen. Alle Dinge
werden auf die lange Bahn geschoben und gern kommissarisch gemacht, da auch
der Minister, der heute kommt und morgen geht, keine Macht hat, das subalterne
Schreiberwesen in seinem eignen Ressort zur Raison zu bringen. In dieser
letzten Beziehung würde natürlich die Annexion an das so viel besser organisierte
Deutschland ein großer Fortschritt sein, wird aber natürlich gerade in den be¬
teiligten Kreisen aufs äußerste gefürchtet.

Wer darf uun prophezeien unter so komplizierten und durch das vermut¬
liche Aussterben der geliebten Oranjedynastie noch mehr sich verwickelnden Um¬
ständen? Doch will ich meine Meinung nicht zurückhalten, daß vieles für eine
Zolleinigung, noch mehr aber gegen eine völlige politische Verschmelzung spricht.
In dem jetzigen Deutschland sind schon so viele zentrifugale Elemente, die nur
die Einheit der Sprache und die Überzeugung, daß man eben dem Allgemeinen
schmerzliche Opfer bringen müsse, notdürftig zusammenhält, daß man nicht hoffen
darf, ein selbständiges Volkstum mit stolzer Geschichte, eigner Sprache und
teilweise überlegner Kultur vollständig zu assimilieren. Und was nicht assimiliert
werden kann, bleibt eben als ein Fremdes im Staatsorganismus, dessen Kraft
nur schwächend, und wird je eher je besser wieder abgestoßen; und am allerbesten
bleibt es außerhalb der Gemeinschaft. Auch von militärischer Seite ist die etwaige
Annexion von Holland an Deutschland neuerdings als durchaus nicht im Interesse
Deutschlands beurteilt worden/')

Wenn somit die Chancen für ein Aufgehn von Holland in Deutschland
wenig günstig stehn, so wird andrerseits um so mehr die Frage erörtert oder
geradezu diese Lösung angestrebt, ob nicht Belgien wieder mit Holland zu einer



*) Geest, Deutsche Rundschau, März 1905.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0710" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298229"/>
          <fw type="header" place="top"> Holland und die Holländer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3695" prev="#ID_3694"> eine rationelle Landwirtschaft so störenden Naturalzehnten sind wohl im Laufe<lb/>
der Jahrhunderte in andre Hände übergegangen als die, wofür sie ursprünglich<lb/>
auferlegt und für die sie allein einen Sinn hatten, aber sie bestehn größtenteils<lb/>
noch heutzutage. Unfallversicherung von Staats wegen ist eben erst eingeführt.<lb/>
An Alterspensionen durch den Staat wird sehr zögernd gedacht. Expropriations¬<lb/>
gesetze bei der übertriebnen Heilighaltung des individuellen Eigentums erscheinen<lb/>
sehr verspätet und unvollkommen. An Güterzusammenlegung oder auch nur<lb/>
Gewannregulierung ist unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Auf dem<lb/>
Gebiete der Forstgesetzgebung ist endlich, dank der Initiative einzelner ein¬<lb/>
sichtiger Männer, die bei Deutschland in die Schule gegangen sind, einiges er¬<lb/>
reicht, es fehlt aber an jeder kräftigen Spitze im Staatsleben. Jeder Beamte<lb/>
erfreut sich seiner &#x201E;Libertät" und wird, wenn nicht von Natur energisch und<lb/>
wohlwollend, ein kleiner Pascha und so ein Hemmnis der allgemeinen Organi¬<lb/>
sation, und wenn er nicht gerade silberne Löffel stiehlt, bleibt er auch bei aller<lb/>
Obstruktion gegen den Willen seiner Borgesetzten unbehelligt in seinem Amte,<lb/>
bis es ihm gefällig ist, mit Pension oder Tod abzugehn. Von einer Ma߬<lb/>
regelung ist niemals die Rede; vielmehr wird jeder Versuch hierzu durch die<lb/>
zügellose Presse an den Pranger gestellt. Die einfachsten Entschlüsse dauern<lb/>
unendlich lange Zeit, da in dem Räderwerk der Staatsmaschine immer einzelne<lb/>
Teile verrostet sind, die niemand die Macht hat zu beseitigen. Alle Dinge<lb/>
werden auf die lange Bahn geschoben und gern kommissarisch gemacht, da auch<lb/>
der Minister, der heute kommt und morgen geht, keine Macht hat, das subalterne<lb/>
Schreiberwesen in seinem eignen Ressort zur Raison zu bringen. In dieser<lb/>
letzten Beziehung würde natürlich die Annexion an das so viel besser organisierte<lb/>
Deutschland ein großer Fortschritt sein, wird aber natürlich gerade in den be¬<lb/>
teiligten Kreisen aufs äußerste gefürchtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3696"> Wer darf uun prophezeien unter so komplizierten und durch das vermut¬<lb/>
liche Aussterben der geliebten Oranjedynastie noch mehr sich verwickelnden Um¬<lb/>
ständen? Doch will ich meine Meinung nicht zurückhalten, daß vieles für eine<lb/>
Zolleinigung, noch mehr aber gegen eine völlige politische Verschmelzung spricht.<lb/>
In dem jetzigen Deutschland sind schon so viele zentrifugale Elemente, die nur<lb/>
die Einheit der Sprache und die Überzeugung, daß man eben dem Allgemeinen<lb/>
schmerzliche Opfer bringen müsse, notdürftig zusammenhält, daß man nicht hoffen<lb/>
darf, ein selbständiges Volkstum mit stolzer Geschichte, eigner Sprache und<lb/>
teilweise überlegner Kultur vollständig zu assimilieren. Und was nicht assimiliert<lb/>
werden kann, bleibt eben als ein Fremdes im Staatsorganismus, dessen Kraft<lb/>
nur schwächend, und wird je eher je besser wieder abgestoßen; und am allerbesten<lb/>
bleibt es außerhalb der Gemeinschaft. Auch von militärischer Seite ist die etwaige<lb/>
Annexion von Holland an Deutschland neuerdings als durchaus nicht im Interesse<lb/>
Deutschlands beurteilt worden/')</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3697" next="#ID_3698"> Wenn somit die Chancen für ein Aufgehn von Holland in Deutschland<lb/>
wenig günstig stehn, so wird andrerseits um so mehr die Frage erörtert oder<lb/>
geradezu diese Lösung angestrebt, ob nicht Belgien wieder mit Holland zu einer</p><lb/>
          <note xml:id="FID_65" place="foot"> *) Geest, Deutsche Rundschau, März 1905.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0710] Holland und die Holländer eine rationelle Landwirtschaft so störenden Naturalzehnten sind wohl im Laufe der Jahrhunderte in andre Hände übergegangen als die, wofür sie ursprünglich auferlegt und für die sie allein einen Sinn hatten, aber sie bestehn größtenteils noch heutzutage. Unfallversicherung von Staats wegen ist eben erst eingeführt. An Alterspensionen durch den Staat wird sehr zögernd gedacht. Expropriations¬ gesetze bei der übertriebnen Heilighaltung des individuellen Eigentums erscheinen sehr verspätet und unvollkommen. An Güterzusammenlegung oder auch nur Gewannregulierung ist unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Auf dem Gebiete der Forstgesetzgebung ist endlich, dank der Initiative einzelner ein¬ sichtiger Männer, die bei Deutschland in die Schule gegangen sind, einiges er¬ reicht, es fehlt aber an jeder kräftigen Spitze im Staatsleben. Jeder Beamte erfreut sich seiner „Libertät" und wird, wenn nicht von Natur energisch und wohlwollend, ein kleiner Pascha und so ein Hemmnis der allgemeinen Organi¬ sation, und wenn er nicht gerade silberne Löffel stiehlt, bleibt er auch bei aller Obstruktion gegen den Willen seiner Borgesetzten unbehelligt in seinem Amte, bis es ihm gefällig ist, mit Pension oder Tod abzugehn. Von einer Ma߬ regelung ist niemals die Rede; vielmehr wird jeder Versuch hierzu durch die zügellose Presse an den Pranger gestellt. Die einfachsten Entschlüsse dauern unendlich lange Zeit, da in dem Räderwerk der Staatsmaschine immer einzelne Teile verrostet sind, die niemand die Macht hat zu beseitigen. Alle Dinge werden auf die lange Bahn geschoben und gern kommissarisch gemacht, da auch der Minister, der heute kommt und morgen geht, keine Macht hat, das subalterne Schreiberwesen in seinem eignen Ressort zur Raison zu bringen. In dieser letzten Beziehung würde natürlich die Annexion an das so viel besser organisierte Deutschland ein großer Fortschritt sein, wird aber natürlich gerade in den be¬ teiligten Kreisen aufs äußerste gefürchtet. Wer darf uun prophezeien unter so komplizierten und durch das vermut¬ liche Aussterben der geliebten Oranjedynastie noch mehr sich verwickelnden Um¬ ständen? Doch will ich meine Meinung nicht zurückhalten, daß vieles für eine Zolleinigung, noch mehr aber gegen eine völlige politische Verschmelzung spricht. In dem jetzigen Deutschland sind schon so viele zentrifugale Elemente, die nur die Einheit der Sprache und die Überzeugung, daß man eben dem Allgemeinen schmerzliche Opfer bringen müsse, notdürftig zusammenhält, daß man nicht hoffen darf, ein selbständiges Volkstum mit stolzer Geschichte, eigner Sprache und teilweise überlegner Kultur vollständig zu assimilieren. Und was nicht assimiliert werden kann, bleibt eben als ein Fremdes im Staatsorganismus, dessen Kraft nur schwächend, und wird je eher je besser wieder abgestoßen; und am allerbesten bleibt es außerhalb der Gemeinschaft. Auch von militärischer Seite ist die etwaige Annexion von Holland an Deutschland neuerdings als durchaus nicht im Interesse Deutschlands beurteilt worden/') Wenn somit die Chancen für ein Aufgehn von Holland in Deutschland wenig günstig stehn, so wird andrerseits um so mehr die Frage erörtert oder geradezu diese Lösung angestrebt, ob nicht Belgien wieder mit Holland zu einer *) Geest, Deutsche Rundschau, März 1905.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/710
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/710>, abgerufen am 28.09.2024.