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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Holland und die Holländer

Das Korrelativ der Freiheit ist bekanntlich die persönliche Verantwortlichkeit,
und der Begriff dieser Tugend ist freien Völkern mehr in Fleisch und Blut
übergegangen, und daraus erwächst die Persönlichkeit, die auch losgelöst von
Staat und Gesellschaft noch eine gute Figur macht. Natürlich spielt der große
Freiheitssinn auch in der Pädagogik seine Rolle. Die Freiheit, die man der
Jugend gewährt, streift oft dicht an Zuchtlosigkeit, wie zum Beispiel die
holländische Straßenjugend es sich als ihr gutes Recht usurpiert, nach einen:
Schneefalle jeden Erwachsnen mit Bällen zu bombardieren und junge Mädchen
in das kalte Element zu werfen und gründlich einzureihen, wobei die Polizei
schmunzelnd zusieht. Auch das Rauchen von Tabak bei kleinen Jungen gehört
hierher, und es sind Fälle verbürgt, wo schon Säuglinge abwechselnd einen
Zug aus der Brust der Mutter und aus der Pfeife des Vaters tun zu dessen
großer Befriedigung. Bei alledem muß man sich wundern, wie aus wenig ge¬
zognen Jungen kräftige Männer erwachsen, die freilich sehr ihre Eigentümlich¬
keiten haben, aber sich beinahe samt und sonders dadurch auszeichnen, daß sie
Intrigieren, Spionieren, Angeberei und Streberei gründlich verachten. Es
entsteht hier freilich die Frage, ob es nicht eine traurige Notwendigkeit sei, daß
man, um zur besten Ausgestaltung des Staatsorganismus zu gelangen, einige
die individuelle Persönlichkeit zierende Eigenschaften zum Opfer bringen müsse
oder dürfe, gleichwie man bei dem tüchtigen Schornsteinfeger ein berußtes Ge¬
sicht mit in den Kauf nimmt. Es ist aber hier kaum der Ort, diese prinzipielle
Frage zu entscheiden.

Jedenfalls fühlt sich der Holländer, auch aus dem Grunde, daß er sich
den Luxus einer voll ausgewachsnen Persönlichkeit leisten kann, ohne doch einst¬
weilen die staatliche Existenz seines Landes in Frage zu stellen. Aber auf der
andern Seite steht auch die geringe Wehrbarkeit des Landes trotz guten mili¬
tärischen Eigenschaften des Einzelnen, unter denen namentlich große Ruhe und
Kaltblütigkeit in der Gefahr zu erwähnen ist, mit diesen Dingen in Verband,
da Zucht doch das Rückgrat eines brauchbaren Heeres ist, und diese Zucht eben,
wie jedem, der in Holland einmal hat exerzieren und manövrieren sehen, be¬
kannt ist, auf einer sehr niedern Stufe steht. Man klagt in Deutschland über
Soldatenmißhandlungen als Auswüchse der bestehenden strengen Einrichtung,
und solche Fälle werden durch die holländische Presse mit Wonne kolportiert.
In Holland selber wäre eher von Offiziersmißhandlungen durch ihre Unter¬
gebnen zu berichten. Wenigstens müssen sich jene unmittelbar nach der Beur¬
laubung wohl gar Schimpfreden von diesen gefallen lassen, weil das Gesetz
ihnen von diesem Augenblick an alle Zuchtmittel versagt. Für die Wehrbarkeit
des Landes ist natürlich der letzte Fall weitaus schlimmer.

Wir nähern uns hiermit schon dem wichtigen Punkte der Besprechung der
vermutlichen Zukunft des Landes, müssen aber zuvor noch einige soziale Zu¬
stände zur Schau stellen, ohne die auch in jener Richtung kein vollständiges Ver¬
ständnis zu erreichen wäre. Schluß folgt)




Holland und die Holländer

Das Korrelativ der Freiheit ist bekanntlich die persönliche Verantwortlichkeit,
und der Begriff dieser Tugend ist freien Völkern mehr in Fleisch und Blut
übergegangen, und daraus erwächst die Persönlichkeit, die auch losgelöst von
Staat und Gesellschaft noch eine gute Figur macht. Natürlich spielt der große
Freiheitssinn auch in der Pädagogik seine Rolle. Die Freiheit, die man der
Jugend gewährt, streift oft dicht an Zuchtlosigkeit, wie zum Beispiel die
holländische Straßenjugend es sich als ihr gutes Recht usurpiert, nach einen:
Schneefalle jeden Erwachsnen mit Bällen zu bombardieren und junge Mädchen
in das kalte Element zu werfen und gründlich einzureihen, wobei die Polizei
schmunzelnd zusieht. Auch das Rauchen von Tabak bei kleinen Jungen gehört
hierher, und es sind Fälle verbürgt, wo schon Säuglinge abwechselnd einen
Zug aus der Brust der Mutter und aus der Pfeife des Vaters tun zu dessen
großer Befriedigung. Bei alledem muß man sich wundern, wie aus wenig ge¬
zognen Jungen kräftige Männer erwachsen, die freilich sehr ihre Eigentümlich¬
keiten haben, aber sich beinahe samt und sonders dadurch auszeichnen, daß sie
Intrigieren, Spionieren, Angeberei und Streberei gründlich verachten. Es
entsteht hier freilich die Frage, ob es nicht eine traurige Notwendigkeit sei, daß
man, um zur besten Ausgestaltung des Staatsorganismus zu gelangen, einige
die individuelle Persönlichkeit zierende Eigenschaften zum Opfer bringen müsse
oder dürfe, gleichwie man bei dem tüchtigen Schornsteinfeger ein berußtes Ge¬
sicht mit in den Kauf nimmt. Es ist aber hier kaum der Ort, diese prinzipielle
Frage zu entscheiden.

Jedenfalls fühlt sich der Holländer, auch aus dem Grunde, daß er sich
den Luxus einer voll ausgewachsnen Persönlichkeit leisten kann, ohne doch einst¬
weilen die staatliche Existenz seines Landes in Frage zu stellen. Aber auf der
andern Seite steht auch die geringe Wehrbarkeit des Landes trotz guten mili¬
tärischen Eigenschaften des Einzelnen, unter denen namentlich große Ruhe und
Kaltblütigkeit in der Gefahr zu erwähnen ist, mit diesen Dingen in Verband,
da Zucht doch das Rückgrat eines brauchbaren Heeres ist, und diese Zucht eben,
wie jedem, der in Holland einmal hat exerzieren und manövrieren sehen, be¬
kannt ist, auf einer sehr niedern Stufe steht. Man klagt in Deutschland über
Soldatenmißhandlungen als Auswüchse der bestehenden strengen Einrichtung,
und solche Fälle werden durch die holländische Presse mit Wonne kolportiert.
In Holland selber wäre eher von Offiziersmißhandlungen durch ihre Unter¬
gebnen zu berichten. Wenigstens müssen sich jene unmittelbar nach der Beur¬
laubung wohl gar Schimpfreden von diesen gefallen lassen, weil das Gesetz
ihnen von diesem Augenblick an alle Zuchtmittel versagt. Für die Wehrbarkeit
des Landes ist natürlich der letzte Fall weitaus schlimmer.

Wir nähern uns hiermit schon dem wichtigen Punkte der Besprechung der
vermutlichen Zukunft des Landes, müssen aber zuvor noch einige soziale Zu¬
stände zur Schau stellen, ohne die auch in jener Richtung kein vollständiges Ver¬
ständnis zu erreichen wäre. Schluß folgt)




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[0595] Holland und die Holländer Das Korrelativ der Freiheit ist bekanntlich die persönliche Verantwortlichkeit, und der Begriff dieser Tugend ist freien Völkern mehr in Fleisch und Blut übergegangen, und daraus erwächst die Persönlichkeit, die auch losgelöst von Staat und Gesellschaft noch eine gute Figur macht. Natürlich spielt der große Freiheitssinn auch in der Pädagogik seine Rolle. Die Freiheit, die man der Jugend gewährt, streift oft dicht an Zuchtlosigkeit, wie zum Beispiel die holländische Straßenjugend es sich als ihr gutes Recht usurpiert, nach einen: Schneefalle jeden Erwachsnen mit Bällen zu bombardieren und junge Mädchen in das kalte Element zu werfen und gründlich einzureihen, wobei die Polizei schmunzelnd zusieht. Auch das Rauchen von Tabak bei kleinen Jungen gehört hierher, und es sind Fälle verbürgt, wo schon Säuglinge abwechselnd einen Zug aus der Brust der Mutter und aus der Pfeife des Vaters tun zu dessen großer Befriedigung. Bei alledem muß man sich wundern, wie aus wenig ge¬ zognen Jungen kräftige Männer erwachsen, die freilich sehr ihre Eigentümlich¬ keiten haben, aber sich beinahe samt und sonders dadurch auszeichnen, daß sie Intrigieren, Spionieren, Angeberei und Streberei gründlich verachten. Es entsteht hier freilich die Frage, ob es nicht eine traurige Notwendigkeit sei, daß man, um zur besten Ausgestaltung des Staatsorganismus zu gelangen, einige die individuelle Persönlichkeit zierende Eigenschaften zum Opfer bringen müsse oder dürfe, gleichwie man bei dem tüchtigen Schornsteinfeger ein berußtes Ge¬ sicht mit in den Kauf nimmt. Es ist aber hier kaum der Ort, diese prinzipielle Frage zu entscheiden. Jedenfalls fühlt sich der Holländer, auch aus dem Grunde, daß er sich den Luxus einer voll ausgewachsnen Persönlichkeit leisten kann, ohne doch einst¬ weilen die staatliche Existenz seines Landes in Frage zu stellen. Aber auf der andern Seite steht auch die geringe Wehrbarkeit des Landes trotz guten mili¬ tärischen Eigenschaften des Einzelnen, unter denen namentlich große Ruhe und Kaltblütigkeit in der Gefahr zu erwähnen ist, mit diesen Dingen in Verband, da Zucht doch das Rückgrat eines brauchbaren Heeres ist, und diese Zucht eben, wie jedem, der in Holland einmal hat exerzieren und manövrieren sehen, be¬ kannt ist, auf einer sehr niedern Stufe steht. Man klagt in Deutschland über Soldatenmißhandlungen als Auswüchse der bestehenden strengen Einrichtung, und solche Fälle werden durch die holländische Presse mit Wonne kolportiert. In Holland selber wäre eher von Offiziersmißhandlungen durch ihre Unter¬ gebnen zu berichten. Wenigstens müssen sich jene unmittelbar nach der Beur¬ laubung wohl gar Schimpfreden von diesen gefallen lassen, weil das Gesetz ihnen von diesem Augenblick an alle Zuchtmittel versagt. Für die Wehrbarkeit des Landes ist natürlich der letzte Fall weitaus schlimmer. Wir nähern uns hiermit schon dem wichtigen Punkte der Besprechung der vermutlichen Zukunft des Landes, müssen aber zuvor noch einige soziale Zu¬ stände zur Schau stellen, ohne die auch in jener Richtung kein vollständiges Ver¬ ständnis zu erreichen wäre. Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/595>, abgerufen am 19.10.2024.