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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht ordentlich. Sie kauern am liebsten den ganzen Tag auf ihren Polstern,
Tabak rauchend und Kaffee trinkend. Kommt man zu ihnen, so wird man auf den
Diwan genötigt, der die Wände entlang läuft, und dessen Lehne mehrere Kissen
bilden, sodaß es allerdings aussieht, als ob einzelne Polsterstühle dicht aneinander
in einer Reihe stünden; aber auf dem Diwan sitzen sie wieder mit untergeschlagnen
Beinen, die roten Babuschen vor sich, wie die Schneider auf ihrem Schneidertische.
Auch die Frauen sitzen in ihren Gemächern nicht anders, bis nach Ägypten hin;
ja Ärzte, die diese Zustände genan kennen, sind geneigt, die allgemeine Anämie der
Frauen im Orient darauf zu schieben, indem das ewige Höcker und Sitzen mit
untergeschlagnen Beinen den Kreislauf des Blutes behindre. Sogar von Japan
wird etwas ähnliches behauptet. In Asien sind es nur die Chinesen, die auf
Stühlen sitzen; die Japaner hocken ebenfalls mit untergeschlngnen Beinen, sie hocken
auf Matten. Man will nun wissen, daß der kleine Wuchs der Japaner mit dieser
Sitte zusammenhänge, weil sie die Zirkulation und damit das Wachstum der
Glieder hemme. Erst neuerdings hat man in den japanischen Schulen Bänke ein¬
geführt; seitdem sollen die Beine der Japaner fünf bis sechs Zentimeter länger
geworden sein, sodaß sie nun schon bis nach Port Arthur reichen.

Ob das steife, zeremonielle Hochsitzen mit herabhängenden Beinen gesünder sei
als das Höcker auf der Erde, will ich dahingestellt sein lassen -- auf die Dauer
ist alles Sitzen schädlich, und die sitzende Lebensart mit Recht bei allen Hygienikern
verrufen. Man muß sich Wundern, wie es die Leute bei uns in Gesellschaften und
Vereinen aushalten können, stundenlang um den Tisch herumzusitzen, ohne sich zu
rühren. Jedenfalls aber ist der Erdboden unser erster Sitz gewesen: ursprünglich
setzen und legen sich alle Menschen auf die Erde, wie das noch die Kinder tun.
Auch die alten Griechen werden einmal eine Zeit gehabt haben, wo sie es machten
wie die Türken, von den Urmenschen in den hohlen Bäumen gar nicht zu reden.
Das Höcker und Kauern kann nicht unnatürlich sein, wenn es auch noch kein
richtiges Sitzen ist, denn dazu gehört, daß der Körper auf dem natürlichen Fett¬
polster wie auf einem elastische" Kissen aufruht; die Affen sieht man gewöhnlich in
dieser Stellung, und die Vögel nehmen sie sogar ein, wenn sie schlafen, indem sie
sich auf die eingeschlagnen Füße niederlassen und den Kopf in die Federn stecken.
Auf der bloßen Erde zu sitzen und entweder die Beine zu kreuzen oder sie aus¬
zustrecken, se nuztti's 6n son "Haut,, wie der Franzose sagt, ist vollends das aller-
natürlichste.

Das erste, was dann folgt, ist, daß sich die Menschen eine Unterlage schaffen:
eine Matte oder einen Teppich. Sobald diese künstlichen Gewebe eingeführt sind,
setzt man sich nicht mehr auf die unbekleidete Erde, sondern dann wird, wo eine
Bedeckung fehlt, gekauert. Das ist der Unterschied zwischen einem Neger und dem
fortgeschrittnen Asiaten: eine Negerfamilie in Ostafrika setzt sich beim Essen einfach
auf den Erdboden um den dampfenden Maisbrei herum. Der Türke breitet einen
Teppich aus, auch auf dem Fußboden eines Innenraums. Aber immer noch sitzt
er auf der Erde, wie ein Kind auf dem Mutterschoße. Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß sich die Menschen nicht von Anfang an ebenfalls gelegentlich hätten
hoch setzen können, wenn es ihnen gerade paßte; das Hochsitzen war nur noch nicht
obligat. Als Demeter atemlos ihre von Pluto entführte Tochter suchte, soll sie sich
auf einen Stein gesetzt haben, um auszuruhen: dieser Stein, der Trauerstein, wird
in Griechenland noch gezeigt. Es gibt viele solcher Steine: König Rother, der
Held einer altdeutschen Dichtung, hat Boten nach Konstantinopel gesandt, die für
ihn um die Kaisertochter werben sollen. Da sie gar zu lange ausbleiben, wird er
traurig und setzt sich auf einen Stein. Er sitzt drei Tage und drei Nächte auf
dem Steine, ohne etwas zu genießen und ohne ein Wort zu sprechen. Und Karl
der Große, der dem Roland zu Hilfe eilt, aber seine Paladine tot und die Nach¬
hut geschlagen findet, setzt sich in den Pyrenäen bei Roncevnl ans einen Stein und
weint. Er weint bitterlich; der Stein, auf dem Karl der Große geweint hat, ist
noch naß. Wohlbekannt ist die Legende von dem heiligen Gregorius auf dem Steine^


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht ordentlich. Sie kauern am liebsten den ganzen Tag auf ihren Polstern,
Tabak rauchend und Kaffee trinkend. Kommt man zu ihnen, so wird man auf den
Diwan genötigt, der die Wände entlang läuft, und dessen Lehne mehrere Kissen
bilden, sodaß es allerdings aussieht, als ob einzelne Polsterstühle dicht aneinander
in einer Reihe stünden; aber auf dem Diwan sitzen sie wieder mit untergeschlagnen
Beinen, die roten Babuschen vor sich, wie die Schneider auf ihrem Schneidertische.
Auch die Frauen sitzen in ihren Gemächern nicht anders, bis nach Ägypten hin;
ja Ärzte, die diese Zustände genan kennen, sind geneigt, die allgemeine Anämie der
Frauen im Orient darauf zu schieben, indem das ewige Höcker und Sitzen mit
untergeschlagnen Beinen den Kreislauf des Blutes behindre. Sogar von Japan
wird etwas ähnliches behauptet. In Asien sind es nur die Chinesen, die auf
Stühlen sitzen; die Japaner hocken ebenfalls mit untergeschlngnen Beinen, sie hocken
auf Matten. Man will nun wissen, daß der kleine Wuchs der Japaner mit dieser
Sitte zusammenhänge, weil sie die Zirkulation und damit das Wachstum der
Glieder hemme. Erst neuerdings hat man in den japanischen Schulen Bänke ein¬
geführt; seitdem sollen die Beine der Japaner fünf bis sechs Zentimeter länger
geworden sein, sodaß sie nun schon bis nach Port Arthur reichen.

Ob das steife, zeremonielle Hochsitzen mit herabhängenden Beinen gesünder sei
als das Höcker auf der Erde, will ich dahingestellt sein lassen — auf die Dauer
ist alles Sitzen schädlich, und die sitzende Lebensart mit Recht bei allen Hygienikern
verrufen. Man muß sich Wundern, wie es die Leute bei uns in Gesellschaften und
Vereinen aushalten können, stundenlang um den Tisch herumzusitzen, ohne sich zu
rühren. Jedenfalls aber ist der Erdboden unser erster Sitz gewesen: ursprünglich
setzen und legen sich alle Menschen auf die Erde, wie das noch die Kinder tun.
Auch die alten Griechen werden einmal eine Zeit gehabt haben, wo sie es machten
wie die Türken, von den Urmenschen in den hohlen Bäumen gar nicht zu reden.
Das Höcker und Kauern kann nicht unnatürlich sein, wenn es auch noch kein
richtiges Sitzen ist, denn dazu gehört, daß der Körper auf dem natürlichen Fett¬
polster wie auf einem elastische» Kissen aufruht; die Affen sieht man gewöhnlich in
dieser Stellung, und die Vögel nehmen sie sogar ein, wenn sie schlafen, indem sie
sich auf die eingeschlagnen Füße niederlassen und den Kopf in die Federn stecken.
Auf der bloßen Erde zu sitzen und entweder die Beine zu kreuzen oder sie aus¬
zustrecken, se nuztti's 6n son «Haut,, wie der Franzose sagt, ist vollends das aller-
natürlichste.

Das erste, was dann folgt, ist, daß sich die Menschen eine Unterlage schaffen:
eine Matte oder einen Teppich. Sobald diese künstlichen Gewebe eingeführt sind,
setzt man sich nicht mehr auf die unbekleidete Erde, sondern dann wird, wo eine
Bedeckung fehlt, gekauert. Das ist der Unterschied zwischen einem Neger und dem
fortgeschrittnen Asiaten: eine Negerfamilie in Ostafrika setzt sich beim Essen einfach
auf den Erdboden um den dampfenden Maisbrei herum. Der Türke breitet einen
Teppich aus, auch auf dem Fußboden eines Innenraums. Aber immer noch sitzt
er auf der Erde, wie ein Kind auf dem Mutterschoße. Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß sich die Menschen nicht von Anfang an ebenfalls gelegentlich hätten
hoch setzen können, wenn es ihnen gerade paßte; das Hochsitzen war nur noch nicht
obligat. Als Demeter atemlos ihre von Pluto entführte Tochter suchte, soll sie sich
auf einen Stein gesetzt haben, um auszuruhen: dieser Stein, der Trauerstein, wird
in Griechenland noch gezeigt. Es gibt viele solcher Steine: König Rother, der
Held einer altdeutschen Dichtung, hat Boten nach Konstantinopel gesandt, die für
ihn um die Kaisertochter werben sollen. Da sie gar zu lange ausbleiben, wird er
traurig und setzt sich auf einen Stein. Er sitzt drei Tage und drei Nächte auf
dem Steine, ohne etwas zu genießen und ohne ein Wort zu sprechen. Und Karl
der Große, der dem Roland zu Hilfe eilt, aber seine Paladine tot und die Nach¬
hut geschlagen findet, setzt sich in den Pyrenäen bei Roncevnl ans einen Stein und
weint. Er weint bitterlich; der Stein, auf dem Karl der Große geweint hat, ist
noch naß. Wohlbekannt ist die Legende von dem heiligen Gregorius auf dem Steine^


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[0342] Maßgebliches und Unmaßgebliches nicht ordentlich. Sie kauern am liebsten den ganzen Tag auf ihren Polstern, Tabak rauchend und Kaffee trinkend. Kommt man zu ihnen, so wird man auf den Diwan genötigt, der die Wände entlang läuft, und dessen Lehne mehrere Kissen bilden, sodaß es allerdings aussieht, als ob einzelne Polsterstühle dicht aneinander in einer Reihe stünden; aber auf dem Diwan sitzen sie wieder mit untergeschlagnen Beinen, die roten Babuschen vor sich, wie die Schneider auf ihrem Schneidertische. Auch die Frauen sitzen in ihren Gemächern nicht anders, bis nach Ägypten hin; ja Ärzte, die diese Zustände genan kennen, sind geneigt, die allgemeine Anämie der Frauen im Orient darauf zu schieben, indem das ewige Höcker und Sitzen mit untergeschlagnen Beinen den Kreislauf des Blutes behindre. Sogar von Japan wird etwas ähnliches behauptet. In Asien sind es nur die Chinesen, die auf Stühlen sitzen; die Japaner hocken ebenfalls mit untergeschlngnen Beinen, sie hocken auf Matten. Man will nun wissen, daß der kleine Wuchs der Japaner mit dieser Sitte zusammenhänge, weil sie die Zirkulation und damit das Wachstum der Glieder hemme. Erst neuerdings hat man in den japanischen Schulen Bänke ein¬ geführt; seitdem sollen die Beine der Japaner fünf bis sechs Zentimeter länger geworden sein, sodaß sie nun schon bis nach Port Arthur reichen. Ob das steife, zeremonielle Hochsitzen mit herabhängenden Beinen gesünder sei als das Höcker auf der Erde, will ich dahingestellt sein lassen — auf die Dauer ist alles Sitzen schädlich, und die sitzende Lebensart mit Recht bei allen Hygienikern verrufen. Man muß sich Wundern, wie es die Leute bei uns in Gesellschaften und Vereinen aushalten können, stundenlang um den Tisch herumzusitzen, ohne sich zu rühren. Jedenfalls aber ist der Erdboden unser erster Sitz gewesen: ursprünglich setzen und legen sich alle Menschen auf die Erde, wie das noch die Kinder tun. Auch die alten Griechen werden einmal eine Zeit gehabt haben, wo sie es machten wie die Türken, von den Urmenschen in den hohlen Bäumen gar nicht zu reden. Das Höcker und Kauern kann nicht unnatürlich sein, wenn es auch noch kein richtiges Sitzen ist, denn dazu gehört, daß der Körper auf dem natürlichen Fett¬ polster wie auf einem elastische» Kissen aufruht; die Affen sieht man gewöhnlich in dieser Stellung, und die Vögel nehmen sie sogar ein, wenn sie schlafen, indem sie sich auf die eingeschlagnen Füße niederlassen und den Kopf in die Federn stecken. Auf der bloßen Erde zu sitzen und entweder die Beine zu kreuzen oder sie aus¬ zustrecken, se nuztti's 6n son «Haut,, wie der Franzose sagt, ist vollends das aller- natürlichste. Das erste, was dann folgt, ist, daß sich die Menschen eine Unterlage schaffen: eine Matte oder einen Teppich. Sobald diese künstlichen Gewebe eingeführt sind, setzt man sich nicht mehr auf die unbekleidete Erde, sondern dann wird, wo eine Bedeckung fehlt, gekauert. Das ist der Unterschied zwischen einem Neger und dem fortgeschrittnen Asiaten: eine Negerfamilie in Ostafrika setzt sich beim Essen einfach auf den Erdboden um den dampfenden Maisbrei herum. Der Türke breitet einen Teppich aus, auch auf dem Fußboden eines Innenraums. Aber immer noch sitzt er auf der Erde, wie ein Kind auf dem Mutterschoße. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich die Menschen nicht von Anfang an ebenfalls gelegentlich hätten hoch setzen können, wenn es ihnen gerade paßte; das Hochsitzen war nur noch nicht obligat. Als Demeter atemlos ihre von Pluto entführte Tochter suchte, soll sie sich auf einen Stein gesetzt haben, um auszuruhen: dieser Stein, der Trauerstein, wird in Griechenland noch gezeigt. Es gibt viele solcher Steine: König Rother, der Held einer altdeutschen Dichtung, hat Boten nach Konstantinopel gesandt, die für ihn um die Kaisertochter werben sollen. Da sie gar zu lange ausbleiben, wird er traurig und setzt sich auf einen Stein. Er sitzt drei Tage und drei Nächte auf dem Steine, ohne etwas zu genießen und ohne ein Wort zu sprechen. Und Karl der Große, der dem Roland zu Hilfe eilt, aber seine Paladine tot und die Nach¬ hut geschlagen findet, setzt sich in den Pyrenäen bei Roncevnl ans einen Stein und weint. Er weint bitterlich; der Stein, auf dem Karl der Große geweint hat, ist noch naß. Wohlbekannt ist die Legende von dem heiligen Gregorius auf dem Steine^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/342>, abgerufen am 20.10.2024.