Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.Staat und Kirche in Frankreich unter der Monarchie Unglaube, den man dem Aufklärungszeitalter vorwirft, war weder so allgemein Die "Philosophen" triumphierten zwar über die Vertreibung der Jesuiten, Die nationale Kirche, mit allen öffentlichen und privaten Lebensäußerungen Grenzboten III 1906 2
Staat und Kirche in Frankreich unter der Monarchie Unglaube, den man dem Aufklärungszeitalter vorwirft, war weder so allgemein Die „Philosophen" triumphierten zwar über die Vertreibung der Jesuiten, Die nationale Kirche, mit allen öffentlichen und privaten Lebensäußerungen Grenzboten III 1906 2
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Staat und Kirche in Frankreich unter der Monarchie
Unglaube, den man dem Aufklärungszeitalter vorwirft, war weder so allgemein
verbreitet noch so tiefgreifend, als daß er solche Wirkungen hervorgebracht hätte.
Vor allem war er keineswegs etwas so neues, wie man oft behaupten hört.
Schon die mittelalterliche Vulgärpoesie, besonders die der romanischen Länder,
ist voll von unerhört frechen Verspottungen der Kirche, ihrer Mysterien und
Diener, das Haupt der Kirche nicht ausgenommen. Zahllos sind die Beweise,
daß die Moralität in jenen angeblich so glaubensinnigen Zeiten auf der tiefsten
Stufe stand, eine nie wieder erreichte Licenz in Sitten und Literatur herrschte.
Und als unter Ludwig dem Vierzehnten die Frömmigkeit Mode und für jede
Karriere unerläßlich war, eiferten alle berühmten Prediger gegen die herrschende
Heuchelei, die hinter einem frommen Äußern den schlimmsten Unglauben verberge,
schrieb Moliere seinen „Tartüffe" und erklärte Bourdaloue: „Die Großen
halten offne Schulen des Unglaubens und des Atheismus." Viele folgten
damit nur der Zeitströmung, ohne feste Überzeugung, und bauten wie die Frau
des Marschalls de la Meilleraye darauf, daß der Herrgott es sich doch sehr
überlegen werde, ehe er Standespersonen zur Hölle verdamme! Die meisten
Vornehmen huldigten schon im siebzehnten Jahrhundert der scharfen, nüchternen
Skepsis Montaignes, der in allen adlichen, gebildeten Kreisen mit Begeisterung
gelesen wurde. Bei allen Klagen über weit verbreiteten Unglauben und offne
Feindschaft gegen die Kirche läuft jedenfalls viel Übertreibung mit unter, wie
schon die lebhafte Teilnahme weiter Volkskreise an religiösen und moralischen
Streitfragen, die zu Staatsangelegenheiten aufgebauscht wurden, genügend be¬
weist. Angewidert von den mit größter Gehässigkeit geführten theologischen
Streitigkeiten wandten sich freilich nach und nach immer mehr Personen einem
gewissen skeptischen Freidenkertum zu, doch begnügten sie sich, Toleranz zu
fordern, und fanden, „daß wenn man die Religion lieben wolle, es nicht nötig
sei, die zu hassen und zu verfolgen, die ihr nicht anhingen, und deren Glauben
ein wenig von dem des Herrschers abweiche" — wie Montesquieu in den zuerst
im Jahre 1721 erschienenen I^ttros xe-rsimss schrieb.
Die „Philosophen" triumphierten zwar über die Vertreibung der Jesuiten,
scheinen aber kaum dabei mitgewirkt zu haben. Nicht philosophische, sondern
rein politische Gründe kamen zunächst in Betracht. Voltaire selbst hegte keine
Feindschaft gegen seine frühern Lehrer; er wie viele seiner Gesinnungsgenossen
fürchteten, daß der Sturz der Jesuiten nur den Einfluß der pietistischen Jan-
senisten fördern werde. Auf direkten Einfluß der neuen Weltanschauung und
Philosophie muß man wohl erst das im Jahre 1787 zugunsten der „Nicht-
katholiken" erlassene königliche Edikt zurückführen, das unter der Berufung auf
„das den Menschen eingeborne natürliche Recht" den nichtkatholischen Untertanen
eine beschränkte Duldung zusicherte.
Die nationale Kirche, mit allen öffentlichen und privaten Lebensäußerungen
aufs engste verwachsen, war noch am Vorabend der Revolution so volkstümlich,
daß trotz allen später auch von der Kirche zugestcmdnen Mißständen sich der
Zorn des Volkes zunächst nicht gegen sie wandte. In den „Cahiers" von 1789,
in denen die Provinzen ihre Forderungen zusammenstellten, erscheinen Reformen
auf kirchlichem Gebiet von geringer Wichtigkeit. In den meisten Cahiers sind
Grenzboten III 1906 2
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