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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Bei der Abreise von Werden traf ich einen Artisten, der ebenfalls nach Bremen
wollte. Wir wanderten zusammen, und mein Begleiter besuchte in Bremen zu
allererst einen berühmten Kollegen, den Seiltänzer Blondin, der in einem Eta¬
blissement vor der Stadt seine Künste zeigte. Von dort ging ich über Burgdorf
nach Hannover, wo gerade Schützenfest gefeiert wurde. Ich bemühte mich ver¬
gebens, auf dem Festplatze Arbeit zu finden, und wanderte weiter nach Hildesheim.

In Hildesheim blieb ich einige Tage und besuchte dort auch eine Barbier¬
stube, um mich rasieren zu lassen. Der Meister sah in mir ein geeignetes Ver¬
suchsobjekt für seinen Lehrling und erklärte mir, daß dieser mich umsonst rasieren
solle, was er dem? auch zu meiner vollen Zufriedenheit tat. Von Hildesheim wan¬
derte ich auf Göttingen zu. Bevor ich diese Stadt erreichte, traf ich an einem
Abend gegen sechs Uhr einen alten Kunden, der mir nach der üblichen Begrüßung
mitteilte, die "Kaschemme" (Wirtshaus) im nächsten Dorfe sei "link" (schlecht), und
mich einlud, in seiner "Villa" zu übernachten. Ich war über diese Einladung nicht
wenig erstaunt und fragte den Kunden, wo seine Villa denn liege. Da wies er
ans einen mitten im Felde stehenden Strohfeim und forderte mich auf, ihm dorthin
zu folgen. Er hatte gerade eingeholt, seine Finne war voll Soruff, und ein statt¬
licher Vorrat von "Hanf" (Brot) und "Unvernunft" (Wurst) wies darauf hin, daß
er für die Beköstigung einer größern Gesellschaft gesorgt hatte. Als wir an den
Strohfeim herangekommen waren, und ich ziemlich ratlos davor stand, fragte er
mich: "Du suchst wohl die Haustür?" Denn pfiff er, worauf von oben eine Strick¬
leiter heruntergeworfen wurde. Da es anfing dunkel zu werden, zündete er eine
Blendlaterne an, und wir kletterten die Strickleiter hinauf. Oben angelangt fand
ich eine Art von Schacht, der in den Strohfeim hinabführte, und in diesem selbst
zwei bequeme Kammern, die mit großer Kunstfertigkeit ausgehöhlt waren und eiuen
höchst gemütlichen Aufenthalt boten. Im Innern dieser Wohnung trafen wir einen
Kunden an, der sich sehr darüber zu freuen schien, daß sein Kollege Besuch mit¬
brachte, und die beiden einigten sich darüber, daß ich in der "guten Stube," d.h. der
größern der beiden Höhlen, logieren sollte. Ungefähr nach einer Stunde kam der
dritte Bewohner des Strohfeims, der in der Umgegend ein größeres "Kommando
geschoben" (Ausflug gemacht) hatte. Sie erzählten mir, daß sie den Schlupfwinkel
schon einige Monate inne hätten, und daß immer einer von ihnen zuhause sei,
während die beiden andern die weitere Umgegend abtalften. Wir speisten zu¬
sammen zu Nacht und verkürzten uns die Zeit mit Gesprächen, wobei hauptsächlich
"geschäftliche" Dinge und die Verhältnisse in der Umgegend berührt wurden. Meine
Gastfreunde verrieten mir, daß sie sich beim "Kommandoschieben" der Vorsichts¬
maßregel bedienten, die Kleider untereinander zu wechseln, um die Kaffern irre zu
führen. Am andern Morgen verabschiedete ich mich mit dem üblichen Gruß: Adieu,
Kinder, machts gut! und setzte meine Reise nach Göttingen fort.

In Göttingen gab es ein Stadtgeschenk von dreißig Poschern, das allerdings
mit Steineklopfer verdient werden mußte. Wir waren zu sechs Mann, jeder von
uns bekam einen Haufen Steine und einen Kasten als Maß zugewiesen, eine Draht¬
brille auf die Nase und mußte ein und eine halbe Stunde Steine klopfen. Das
Stadtgeschenk mußte später zu einer gewissen Stunde abgeholt werden, und dabei
gab es eiuen "kräftigen Zinken" (großer Stempel) in die Fleppe, was deren In¬
haber nicht gerade angenehm ist. Auf der Wanderung nach Braunschweig, die ich
in Gemeinschaft mit einem Kameraden machte, hielten wir auf einem Bauerngute
um ein Mittagessen an. Wir bekamen eine Schüssel voll kalter, vollständig ver¬
schimmelter Kartoffeln vorgesetzt, eine Maßnahme, die ich jedoch sofort durchschaute.
Ich begann also zu essen und gab auch meinem Kollegen ein Zeichen, dasselbe zu
tun. Als der Bauer das sah, sagte er: Halt, ich sehe, daß ihr Hunger habt, ihr
sollt gutes Essen bekommen. Wir mußten nun eine Weile warten, wurden über
unsre Wanderschaft ausgefragt und hörten vou dem Bauern, daß ihm vor kurzem
ein paar Kunden das ihnen gereichte gute Essen in die langen Stiefel gegossen


Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Bei der Abreise von Werden traf ich einen Artisten, der ebenfalls nach Bremen
wollte. Wir wanderten zusammen, und mein Begleiter besuchte in Bremen zu
allererst einen berühmten Kollegen, den Seiltänzer Blondin, der in einem Eta¬
blissement vor der Stadt seine Künste zeigte. Von dort ging ich über Burgdorf
nach Hannover, wo gerade Schützenfest gefeiert wurde. Ich bemühte mich ver¬
gebens, auf dem Festplatze Arbeit zu finden, und wanderte weiter nach Hildesheim.

In Hildesheim blieb ich einige Tage und besuchte dort auch eine Barbier¬
stube, um mich rasieren zu lassen. Der Meister sah in mir ein geeignetes Ver¬
suchsobjekt für seinen Lehrling und erklärte mir, daß dieser mich umsonst rasieren
solle, was er dem? auch zu meiner vollen Zufriedenheit tat. Von Hildesheim wan¬
derte ich auf Göttingen zu. Bevor ich diese Stadt erreichte, traf ich an einem
Abend gegen sechs Uhr einen alten Kunden, der mir nach der üblichen Begrüßung
mitteilte, die „Kaschemme" (Wirtshaus) im nächsten Dorfe sei „link" (schlecht), und
mich einlud, in seiner „Villa" zu übernachten. Ich war über diese Einladung nicht
wenig erstaunt und fragte den Kunden, wo seine Villa denn liege. Da wies er
ans einen mitten im Felde stehenden Strohfeim und forderte mich auf, ihm dorthin
zu folgen. Er hatte gerade eingeholt, seine Finne war voll Soruff, und ein statt¬
licher Vorrat von „Hanf" (Brot) und „Unvernunft" (Wurst) wies darauf hin, daß
er für die Beköstigung einer größern Gesellschaft gesorgt hatte. Als wir an den
Strohfeim herangekommen waren, und ich ziemlich ratlos davor stand, fragte er
mich: „Du suchst wohl die Haustür?" Denn pfiff er, worauf von oben eine Strick¬
leiter heruntergeworfen wurde. Da es anfing dunkel zu werden, zündete er eine
Blendlaterne an, und wir kletterten die Strickleiter hinauf. Oben angelangt fand
ich eine Art von Schacht, der in den Strohfeim hinabführte, und in diesem selbst
zwei bequeme Kammern, die mit großer Kunstfertigkeit ausgehöhlt waren und eiuen
höchst gemütlichen Aufenthalt boten. Im Innern dieser Wohnung trafen wir einen
Kunden an, der sich sehr darüber zu freuen schien, daß sein Kollege Besuch mit¬
brachte, und die beiden einigten sich darüber, daß ich in der „guten Stube," d.h. der
größern der beiden Höhlen, logieren sollte. Ungefähr nach einer Stunde kam der
dritte Bewohner des Strohfeims, der in der Umgegend ein größeres „Kommando
geschoben" (Ausflug gemacht) hatte. Sie erzählten mir, daß sie den Schlupfwinkel
schon einige Monate inne hätten, und daß immer einer von ihnen zuhause sei,
während die beiden andern die weitere Umgegend abtalften. Wir speisten zu¬
sammen zu Nacht und verkürzten uns die Zeit mit Gesprächen, wobei hauptsächlich
„geschäftliche" Dinge und die Verhältnisse in der Umgegend berührt wurden. Meine
Gastfreunde verrieten mir, daß sie sich beim „Kommandoschieben" der Vorsichts¬
maßregel bedienten, die Kleider untereinander zu wechseln, um die Kaffern irre zu
führen. Am andern Morgen verabschiedete ich mich mit dem üblichen Gruß: Adieu,
Kinder, machts gut! und setzte meine Reise nach Göttingen fort.

In Göttingen gab es ein Stadtgeschenk von dreißig Poschern, das allerdings
mit Steineklopfer verdient werden mußte. Wir waren zu sechs Mann, jeder von
uns bekam einen Haufen Steine und einen Kasten als Maß zugewiesen, eine Draht¬
brille auf die Nase und mußte ein und eine halbe Stunde Steine klopfen. Das
Stadtgeschenk mußte später zu einer gewissen Stunde abgeholt werden, und dabei
gab es eiuen „kräftigen Zinken" (großer Stempel) in die Fleppe, was deren In¬
haber nicht gerade angenehm ist. Auf der Wanderung nach Braunschweig, die ich
in Gemeinschaft mit einem Kameraden machte, hielten wir auf einem Bauerngute
um ein Mittagessen an. Wir bekamen eine Schüssel voll kalter, vollständig ver¬
schimmelter Kartoffeln vorgesetzt, eine Maßnahme, die ich jedoch sofort durchschaute.
Ich begann also zu essen und gab auch meinem Kollegen ein Zeichen, dasselbe zu
tun. Als der Bauer das sah, sagte er: Halt, ich sehe, daß ihr Hunger habt, ihr
sollt gutes Essen bekommen. Wir mußten nun eine Weile warten, wurden über
unsre Wanderschaft ausgefragt und hörten vou dem Bauern, daß ihm vor kurzem
ein paar Kunden das ihnen gereichte gute Essen in die langen Stiefel gegossen


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[0102] Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren Bei der Abreise von Werden traf ich einen Artisten, der ebenfalls nach Bremen wollte. Wir wanderten zusammen, und mein Begleiter besuchte in Bremen zu allererst einen berühmten Kollegen, den Seiltänzer Blondin, der in einem Eta¬ blissement vor der Stadt seine Künste zeigte. Von dort ging ich über Burgdorf nach Hannover, wo gerade Schützenfest gefeiert wurde. Ich bemühte mich ver¬ gebens, auf dem Festplatze Arbeit zu finden, und wanderte weiter nach Hildesheim. In Hildesheim blieb ich einige Tage und besuchte dort auch eine Barbier¬ stube, um mich rasieren zu lassen. Der Meister sah in mir ein geeignetes Ver¬ suchsobjekt für seinen Lehrling und erklärte mir, daß dieser mich umsonst rasieren solle, was er dem? auch zu meiner vollen Zufriedenheit tat. Von Hildesheim wan¬ derte ich auf Göttingen zu. Bevor ich diese Stadt erreichte, traf ich an einem Abend gegen sechs Uhr einen alten Kunden, der mir nach der üblichen Begrüßung mitteilte, die „Kaschemme" (Wirtshaus) im nächsten Dorfe sei „link" (schlecht), und mich einlud, in seiner „Villa" zu übernachten. Ich war über diese Einladung nicht wenig erstaunt und fragte den Kunden, wo seine Villa denn liege. Da wies er ans einen mitten im Felde stehenden Strohfeim und forderte mich auf, ihm dorthin zu folgen. Er hatte gerade eingeholt, seine Finne war voll Soruff, und ein statt¬ licher Vorrat von „Hanf" (Brot) und „Unvernunft" (Wurst) wies darauf hin, daß er für die Beköstigung einer größern Gesellschaft gesorgt hatte. Als wir an den Strohfeim herangekommen waren, und ich ziemlich ratlos davor stand, fragte er mich: „Du suchst wohl die Haustür?" Denn pfiff er, worauf von oben eine Strick¬ leiter heruntergeworfen wurde. Da es anfing dunkel zu werden, zündete er eine Blendlaterne an, und wir kletterten die Strickleiter hinauf. Oben angelangt fand ich eine Art von Schacht, der in den Strohfeim hinabführte, und in diesem selbst zwei bequeme Kammern, die mit großer Kunstfertigkeit ausgehöhlt waren und eiuen höchst gemütlichen Aufenthalt boten. Im Innern dieser Wohnung trafen wir einen Kunden an, der sich sehr darüber zu freuen schien, daß sein Kollege Besuch mit¬ brachte, und die beiden einigten sich darüber, daß ich in der „guten Stube," d.h. der größern der beiden Höhlen, logieren sollte. Ungefähr nach einer Stunde kam der dritte Bewohner des Strohfeims, der in der Umgegend ein größeres „Kommando geschoben" (Ausflug gemacht) hatte. Sie erzählten mir, daß sie den Schlupfwinkel schon einige Monate inne hätten, und daß immer einer von ihnen zuhause sei, während die beiden andern die weitere Umgegend abtalften. Wir speisten zu¬ sammen zu Nacht und verkürzten uns die Zeit mit Gesprächen, wobei hauptsächlich „geschäftliche" Dinge und die Verhältnisse in der Umgegend berührt wurden. Meine Gastfreunde verrieten mir, daß sie sich beim „Kommandoschieben" der Vorsichts¬ maßregel bedienten, die Kleider untereinander zu wechseln, um die Kaffern irre zu führen. Am andern Morgen verabschiedete ich mich mit dem üblichen Gruß: Adieu, Kinder, machts gut! und setzte meine Reise nach Göttingen fort. In Göttingen gab es ein Stadtgeschenk von dreißig Poschern, das allerdings mit Steineklopfer verdient werden mußte. Wir waren zu sechs Mann, jeder von uns bekam einen Haufen Steine und einen Kasten als Maß zugewiesen, eine Draht¬ brille auf die Nase und mußte ein und eine halbe Stunde Steine klopfen. Das Stadtgeschenk mußte später zu einer gewissen Stunde abgeholt werden, und dabei gab es eiuen „kräftigen Zinken" (großer Stempel) in die Fleppe, was deren In¬ haber nicht gerade angenehm ist. Auf der Wanderung nach Braunschweig, die ich in Gemeinschaft mit einem Kameraden machte, hielten wir auf einem Bauerngute um ein Mittagessen an. Wir bekamen eine Schüssel voll kalter, vollständig ver¬ schimmelter Kartoffeln vorgesetzt, eine Maßnahme, die ich jedoch sofort durchschaute. Ich begann also zu essen und gab auch meinem Kollegen ein Zeichen, dasselbe zu tun. Als der Bauer das sah, sagte er: Halt, ich sehe, daß ihr Hunger habt, ihr sollt gutes Essen bekommen. Wir mußten nun eine Weile warten, wurden über unsre Wanderschaft ausgefragt und hörten vou dem Bauern, daß ihm vor kurzem ein paar Kunden das ihnen gereichte gute Essen in die langen Stiefel gegossen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/102>, abgerufen am 20.10.2024.