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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

bekam (sein Arbeiterverein brachte es auf 4600 Mitglieder, in Berlin, das ganz
und gar der ihm am meisten verhaßten Partei, der Fortschrittspartei, gehörte, zählte
der Verein 35 Mitglieder!), darin liegt die eigentliche Tragik seines Lebens, nicht
in dem gewaltsamen Tode des durch Liebesleidenschaft und verletzte Eitelkeit zum
rasenden Ajax gewordnen Volkstribuns. Über Vernachlässigung in der Literatur
hat sich der interessante Mann denn auch nicht zu beklagen. Aber gerade weil die
Zahl der veröffentlichten Dokumente und der biographischen Bearbeitungen so groß
ist, tat eine genießbare Zusammenfassung von sachkundiger Hand not, und die hat
nun Hermann Oncken geliefert in dem Buche Lassalle (es ist der zweite Band
der bei E. Hauff in Stuttgart von G. Schmoller und O. Hintze herausgegebnen
Sammluug: Politiker und Nationalökonomen). Die Psyche des merkwürdigen Mannes
wird darin sehr gut analysiert, die Bedeutuug seiner jüdischen Abstammung klar
gemacht, das sophistische in seinen Werken und Reden von dem gesondert, was
als Wahrheit bleibenden Wert hat, und aus Lassalles Drama Sickingen wird der
Kern seiner Politik enthüllt. "Er geht von der Frage aus: woran scheitern Re¬
volutionen, nicht bloß die besondre Sickingens, sondern alle oder doch viele?
Und er findet den letzten Grund als echter Hegelianer in einer formalen dialek¬
tischen Antithese. Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung
verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden, durchgearbeiteten Bewußt¬
heit, mit der ihr Klasseninteresse sie durchdringt. Die ewige Schwäche einer jeden
berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem
Mangel an Bewußtheit bei den Gliedern der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip
noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an
Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Wenngleich nur die Stärke
jeder Revolution ganz in der Begeisterung liegt, d, h. zunächst in dem abstrakten
Hinwegsehen über die ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten, so kommt doch für
sie der Moment, sich in eine Operation mit den gegebnen Mitteln einzulassen
und mit ihnen zu rechnen. Somit mag es als ein Triumph übergreifender rea¬
listischer Klugheit der Revolutionsführer erscheinen, die wahren und letzten Zwecke
der Bewegung vor andern geheim zu halten und durch diese beabsichtigte Täuschung
der herrschenden Klassen, ja durch Benutzung dieser, die Möglichkeit zur Organi¬
sation der neuen Kräfte zu gewinnen; darin liegt die unendliche realistische
Überlegenheit Sickingens gegenüber dem bloß geistigen Revolutionär Hütten."
So hat Lassalle versucht, einen Lothar Bucher, einen Rodbertus, ja einen Bis-
marck zu benutzen, die alle drei ein Stück mit ihm gehn konnten, weil ihre
Ziele mit den nächsten, exoterischen Zielen Lassalles zusammenfielen, aber natürlich
nicht mit dem im Hintergrunde versteckt gehaltnen Endziele: der demokratischen
Republik. Mit Konstantin Rößler hat Lassalle nicht persönlich verkehrt, aber
Oncken führt ihn in demselben Zusammenhange an, weil seine den italienischen
Krieg von 1859 behandelnde Schrift: "Preußen und die italienische Frage" viel
äußerliche Verwandtschaft hat mit Lassalles Schrift über denselben Gegenstand: "Der
italienische Krieg und die Aufgabe Preußens." Der Unterschied zwischen beiden
Männern war, daß Rößler seine Vorschläge ehrlich meinte, während Lassalle die
Preußische Regierung in eine Falle locken wollte. Hätte er länger gelebt, so würde
er wohl selbst, nach seiner eignen Prophezeiung, in einer Falle hängen geblieben
sein, denn eben an seiner "übergreifenden realistischen Klugheit," an dem dialektischen
Widerspruch zwischen der unendlichen Idee und den endlichen Mitteln, läßt er
Sickingen scheitern, wie Oncken im Schluß der oben angeführten Darlegung hervor¬
hebt. Selbstverständlich gibt die Tatsache, daß Lassalle wenigstens in Beziehung
auf die Gestaltung des dentschen Parteiwesens die Zukunft für sich gehabt hat,
obwohl die liberale Partei sogar erst nach seinem Tode zu rasch vorüberrauschender
Herrschaft und Herrlichkeit gelangte, dem Verfasser Anlaß zu vielen schönen Be¬
trachtungen. Aber eine ganz nebensächliche Bemerkung, auf die er selbst wahr¬
scheinlich gar kein Gewicht legt, beweist, daß mich er von gewissen Selbsttäuschungen
der Liberalen nicht ganz frei ist. In einer seiner berühmten Reden, der Roms-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

bekam (sein Arbeiterverein brachte es auf 4600 Mitglieder, in Berlin, das ganz
und gar der ihm am meisten verhaßten Partei, der Fortschrittspartei, gehörte, zählte
der Verein 35 Mitglieder!), darin liegt die eigentliche Tragik seines Lebens, nicht
in dem gewaltsamen Tode des durch Liebesleidenschaft und verletzte Eitelkeit zum
rasenden Ajax gewordnen Volkstribuns. Über Vernachlässigung in der Literatur
hat sich der interessante Mann denn auch nicht zu beklagen. Aber gerade weil die
Zahl der veröffentlichten Dokumente und der biographischen Bearbeitungen so groß
ist, tat eine genießbare Zusammenfassung von sachkundiger Hand not, und die hat
nun Hermann Oncken geliefert in dem Buche Lassalle (es ist der zweite Band
der bei E. Hauff in Stuttgart von G. Schmoller und O. Hintze herausgegebnen
Sammluug: Politiker und Nationalökonomen). Die Psyche des merkwürdigen Mannes
wird darin sehr gut analysiert, die Bedeutuug seiner jüdischen Abstammung klar
gemacht, das sophistische in seinen Werken und Reden von dem gesondert, was
als Wahrheit bleibenden Wert hat, und aus Lassalles Drama Sickingen wird der
Kern seiner Politik enthüllt. „Er geht von der Frage aus: woran scheitern Re¬
volutionen, nicht bloß die besondre Sickingens, sondern alle oder doch viele?
Und er findet den letzten Grund als echter Hegelianer in einer formalen dialek¬
tischen Antithese. Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung
verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden, durchgearbeiteten Bewußt¬
heit, mit der ihr Klasseninteresse sie durchdringt. Die ewige Schwäche einer jeden
berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem
Mangel an Bewußtheit bei den Gliedern der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip
noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an
Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Wenngleich nur die Stärke
jeder Revolution ganz in der Begeisterung liegt, d, h. zunächst in dem abstrakten
Hinwegsehen über die ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten, so kommt doch für
sie der Moment, sich in eine Operation mit den gegebnen Mitteln einzulassen
und mit ihnen zu rechnen. Somit mag es als ein Triumph übergreifender rea¬
listischer Klugheit der Revolutionsführer erscheinen, die wahren und letzten Zwecke
der Bewegung vor andern geheim zu halten und durch diese beabsichtigte Täuschung
der herrschenden Klassen, ja durch Benutzung dieser, die Möglichkeit zur Organi¬
sation der neuen Kräfte zu gewinnen; darin liegt die unendliche realistische
Überlegenheit Sickingens gegenüber dem bloß geistigen Revolutionär Hütten."
So hat Lassalle versucht, einen Lothar Bucher, einen Rodbertus, ja einen Bis-
marck zu benutzen, die alle drei ein Stück mit ihm gehn konnten, weil ihre
Ziele mit den nächsten, exoterischen Zielen Lassalles zusammenfielen, aber natürlich
nicht mit dem im Hintergrunde versteckt gehaltnen Endziele: der demokratischen
Republik. Mit Konstantin Rößler hat Lassalle nicht persönlich verkehrt, aber
Oncken führt ihn in demselben Zusammenhange an, weil seine den italienischen
Krieg von 1859 behandelnde Schrift: „Preußen und die italienische Frage" viel
äußerliche Verwandtschaft hat mit Lassalles Schrift über denselben Gegenstand: „Der
italienische Krieg und die Aufgabe Preußens." Der Unterschied zwischen beiden
Männern war, daß Rößler seine Vorschläge ehrlich meinte, während Lassalle die
Preußische Regierung in eine Falle locken wollte. Hätte er länger gelebt, so würde
er wohl selbst, nach seiner eignen Prophezeiung, in einer Falle hängen geblieben
sein, denn eben an seiner „übergreifenden realistischen Klugheit," an dem dialektischen
Widerspruch zwischen der unendlichen Idee und den endlichen Mitteln, läßt er
Sickingen scheitern, wie Oncken im Schluß der oben angeführten Darlegung hervor¬
hebt. Selbstverständlich gibt die Tatsache, daß Lassalle wenigstens in Beziehung
auf die Gestaltung des dentschen Parteiwesens die Zukunft für sich gehabt hat,
obwohl die liberale Partei sogar erst nach seinem Tode zu rasch vorüberrauschender
Herrschaft und Herrlichkeit gelangte, dem Verfasser Anlaß zu vielen schönen Be¬
trachtungen. Aber eine ganz nebensächliche Bemerkung, auf die er selbst wahr¬
scheinlich gar kein Gewicht legt, beweist, daß mich er von gewissen Selbsttäuschungen
der Liberalen nicht ganz frei ist. In einer seiner berühmten Reden, der Roms-


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[0635] Maßgebliches und Unmaßgebliches bekam (sein Arbeiterverein brachte es auf 4600 Mitglieder, in Berlin, das ganz und gar der ihm am meisten verhaßten Partei, der Fortschrittspartei, gehörte, zählte der Verein 35 Mitglieder!), darin liegt die eigentliche Tragik seines Lebens, nicht in dem gewaltsamen Tode des durch Liebesleidenschaft und verletzte Eitelkeit zum rasenden Ajax gewordnen Volkstribuns. Über Vernachlässigung in der Literatur hat sich der interessante Mann denn auch nicht zu beklagen. Aber gerade weil die Zahl der veröffentlichten Dokumente und der biographischen Bearbeitungen so groß ist, tat eine genießbare Zusammenfassung von sachkundiger Hand not, und die hat nun Hermann Oncken geliefert in dem Buche Lassalle (es ist der zweite Band der bei E. Hauff in Stuttgart von G. Schmoller und O. Hintze herausgegebnen Sammluug: Politiker und Nationalökonomen). Die Psyche des merkwürdigen Mannes wird darin sehr gut analysiert, die Bedeutuug seiner jüdischen Abstammung klar gemacht, das sophistische in seinen Werken und Reden von dem gesondert, was als Wahrheit bleibenden Wert hat, und aus Lassalles Drama Sickingen wird der Kern seiner Politik enthüllt. „Er geht von der Frage aus: woran scheitern Re¬ volutionen, nicht bloß die besondre Sickingens, sondern alle oder doch viele? Und er findet den letzten Grund als echter Hegelianer in einer formalen dialek¬ tischen Antithese. Die ewige Stärke aller herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht zu täuschenden, durchgearbeiteten Bewußt¬ heit, mit der ihr Klasseninteresse sie durchdringt. Die ewige Schwäche einer jeden berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem Mangel an Bewußtheit bei den Gliedern der ihr zugetanen Klassen, deren Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Wenngleich nur die Stärke jeder Revolution ganz in der Begeisterung liegt, d, h. zunächst in dem abstrakten Hinwegsehen über die ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten, so kommt doch für sie der Moment, sich in eine Operation mit den gegebnen Mitteln einzulassen und mit ihnen zu rechnen. Somit mag es als ein Triumph übergreifender rea¬ listischer Klugheit der Revolutionsführer erscheinen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung vor andern geheim zu halten und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch Benutzung dieser, die Möglichkeit zur Organi¬ sation der neuen Kräfte zu gewinnen; darin liegt die unendliche realistische Überlegenheit Sickingens gegenüber dem bloß geistigen Revolutionär Hütten." So hat Lassalle versucht, einen Lothar Bucher, einen Rodbertus, ja einen Bis- marck zu benutzen, die alle drei ein Stück mit ihm gehn konnten, weil ihre Ziele mit den nächsten, exoterischen Zielen Lassalles zusammenfielen, aber natürlich nicht mit dem im Hintergrunde versteckt gehaltnen Endziele: der demokratischen Republik. Mit Konstantin Rößler hat Lassalle nicht persönlich verkehrt, aber Oncken führt ihn in demselben Zusammenhange an, weil seine den italienischen Krieg von 1859 behandelnde Schrift: „Preußen und die italienische Frage" viel äußerliche Verwandtschaft hat mit Lassalles Schrift über denselben Gegenstand: „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens." Der Unterschied zwischen beiden Männern war, daß Rößler seine Vorschläge ehrlich meinte, während Lassalle die Preußische Regierung in eine Falle locken wollte. Hätte er länger gelebt, so würde er wohl selbst, nach seiner eignen Prophezeiung, in einer Falle hängen geblieben sein, denn eben an seiner „übergreifenden realistischen Klugheit," an dem dialektischen Widerspruch zwischen der unendlichen Idee und den endlichen Mitteln, läßt er Sickingen scheitern, wie Oncken im Schluß der oben angeführten Darlegung hervor¬ hebt. Selbstverständlich gibt die Tatsache, daß Lassalle wenigstens in Beziehung auf die Gestaltung des dentschen Parteiwesens die Zukunft für sich gehabt hat, obwohl die liberale Partei sogar erst nach seinem Tode zu rasch vorüberrauschender Herrschaft und Herrlichkeit gelangte, dem Verfasser Anlaß zu vielen schönen Be¬ trachtungen. Aber eine ganz nebensächliche Bemerkung, auf die er selbst wahr¬ scheinlich gar kein Gewicht legt, beweist, daß mich er von gewissen Selbsttäuschungen der Liberalen nicht ganz frei ist. In einer seiner berühmten Reden, der Roms-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/635>, abgerufen am 05.02.2025.