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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Es gab nämlich verschiedne Gelegenheiten, sich von den Anstrengungen der Wander¬
schaft zu erholen: wer dreißig "Poscher" (Pfennige) zur Verfügung hatte, konnte
ein leidlich gutes Bett erhalten. Für zwanzig Pfennige war ein etwas bescheidneres
Bett zu haben. Für zehn Pfennige konnte man auf "Rauscher" (Stroh) schlafen,
wer aber nur fünf Pfennige auf seine Nachtruhe verwenden konnte, der bekam eine
hölzerne Bank oder einen der Tische in der Fremdcnstube als Nachtlager ange¬
wiesen. Vor dem Schlafengehn mußte sich jeder Kunde vollständig entkleiden,
worauf der "Vizeboos" (Hausknecht) die "Stande" (Hemd) nach "Bienen" oder
"deutscheu Reichskäfern" (Läusen) durchsuchte. Im Vertrauen auf meine zwei Taler
glaubte ich ein Bett für dreißig Pfennige beanspruchen zu können und stieg mit
einigen Kunden die Treppe zum Schlafsaal hinauf. In diesem Saale standen etwa
zwanzig Betten, von denen etwa fünfzehn besetzt wurde". Zum Schlafen kamen
wir zunächst noch nicht, denn im Bett wurden Räubergeschichten erzählt, bis der
Vizeboos in seine eigne Schlafkammer ging, die nicht weit vom Schlafsaal entfernt
war. Während meine Kameraden schon schliefen, lag ich noch lange wach und
hörte dabei in der Schlafkammer des Vizeboos ein höchst verdächtiges Geräusch,
für das ich jedoch bald eine Erklärung fand. Der wackre Vizeboos knackte nämlich
an sich selber das Wild, auf das er bei uns andern vorher Jagd gemacht hatte.
Am nächsten Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt. Wir erhoben uns, und
ich bemerkte zu meinem Erstaunen, daß sich die Kunden mit dem Kopfkissen ihres
Lagers den ganzen Körper abrieben. Es war dies eine Vorsichtsmaßregel, die
verhüten sollte, daß sie etwaige kleine Tierchen aus dem Bett mit sich sortnähmeu.
In einem Nebenraum Ware" Waschschüsseln aufgestellt, die wir benutzten, worauf
wir uns ankleideten und denn in den Hof hinabgingen, wo uns der Vizeboos
Gelegenheit zum Wichseu unsrer "Trittchen" (Stiefel) gab. Für den Gebrauch
des Wichsgeräts mußte man fünf Poscher zahlen, die Wohl in die Tasche des Vize¬
boos flössen. Dann gab es in der Fremdenstube für fünfzehn Poscher ein Früh¬
stück, das aus Kaffee und Brötchen bestand. Nach dem Frühstück erhielt jeder seine
"Fleppe" (Legitimationspapiere) und begab sich denn in die Stadt, um die "Krautcrer
zu stoßen" (bei den Meistern nach Arbeit anzufragen oder sich von ihnen ein Ge¬
schenk zu holen). Ich sprach bei sämtlichen Meistern vor, fand jedoch keine Arbeit,
erhielt aber die ganzen Taschen voll "Lvrcheu" (Semmeln) und etwa dreißig Poscher
Bargeld. Da ich die Lorchen natürlich nicht alle selber vertilgen konnte, mußte ich
den größten Teil davon "verkündigen" (verkaufen). Als Ergänzung zu deu er¬
beutete" Lorcheu talfte ich mir bei einem "Katzkow" (Fleischer) ein Stück "Unver¬
nunft" (Wurst), kehrte in die Penne zurück und verzehrte dort mein Frühstück,
wobei ich "ein halbes Pfund Soruff schwächte," dann ließ ich mir vom Boos
"Berliner und Steuz" herausgebet?, bezahlte für das Aufbewahren drei Poscher
und "tigerte" (wanderte) nach Gern ab. Um die Mittagszeit kam ich in ein "Kaff"
(Dorf), wo ich mein Mittagsbrod zuscimmeufocht. Ich speiste bei dieser Gelegenheit
drei- oder viermal zu Mittag und nahm auch einige Poscher "Kies" (Geld) mit
bon dannen. In Gera langte ich gegen vier Uhr Nachmittags an und nahm mir
gleich vor, sämtliche "Krauterer," an denen ich auf dem Wege zur Peune vorüber-
kommen würde, zu stoßen, dabei beachtete ich die "Zunft," d. h. die Begrüßuugs-
formalitäten, wie sie bei uns "Lehmcru" üblich sind. Ein alter Brauch verlangt
"äinlich, daß man ohne "Steuz" und "Berliner" vor dem Meister erscheint, und
deshalb legt man beides beim Eintritt hinter die Haustür. Im übrigen fand ich
i" Gera ähnliche Zustände wie in Greiz. Da ich niir von einer Wanderung von
Gera nach Gößnitz nicht viel versprach, beschloß ich, diese Strecke mit der Bahn
zurückzulegen; ich löste mir zu dem etwa um zehn Uhr Morgens abfahrende" Zug
ein Billett dritter Klasse und machte es mir in dem Coupe bequem. Kurz vor
der Abfahrt wurde "och einmal die Tür aufgerissen, und drei Herren erschienen,
die einsteigen wollten, aber als sie meinen "Berliner," der unter der Bank lag,
sahen, schleunigst Kehrt machten und mit der Bemerkung, daß das Coupe' schon


Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Es gab nämlich verschiedne Gelegenheiten, sich von den Anstrengungen der Wander¬
schaft zu erholen: wer dreißig „Poscher" (Pfennige) zur Verfügung hatte, konnte
ein leidlich gutes Bett erhalten. Für zwanzig Pfennige war ein etwas bescheidneres
Bett zu haben. Für zehn Pfennige konnte man auf „Rauscher" (Stroh) schlafen,
wer aber nur fünf Pfennige auf seine Nachtruhe verwenden konnte, der bekam eine
hölzerne Bank oder einen der Tische in der Fremdcnstube als Nachtlager ange¬
wiesen. Vor dem Schlafengehn mußte sich jeder Kunde vollständig entkleiden,
worauf der „Vizeboos" (Hausknecht) die „Stande" (Hemd) nach „Bienen" oder
„deutscheu Reichskäfern" (Läusen) durchsuchte. Im Vertrauen auf meine zwei Taler
glaubte ich ein Bett für dreißig Pfennige beanspruchen zu können und stieg mit
einigen Kunden die Treppe zum Schlafsaal hinauf. In diesem Saale standen etwa
zwanzig Betten, von denen etwa fünfzehn besetzt wurde». Zum Schlafen kamen
wir zunächst noch nicht, denn im Bett wurden Räubergeschichten erzählt, bis der
Vizeboos in seine eigne Schlafkammer ging, die nicht weit vom Schlafsaal entfernt
war. Während meine Kameraden schon schliefen, lag ich noch lange wach und
hörte dabei in der Schlafkammer des Vizeboos ein höchst verdächtiges Geräusch,
für das ich jedoch bald eine Erklärung fand. Der wackre Vizeboos knackte nämlich
an sich selber das Wild, auf das er bei uns andern vorher Jagd gemacht hatte.
Am nächsten Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt. Wir erhoben uns, und
ich bemerkte zu meinem Erstaunen, daß sich die Kunden mit dem Kopfkissen ihres
Lagers den ganzen Körper abrieben. Es war dies eine Vorsichtsmaßregel, die
verhüten sollte, daß sie etwaige kleine Tierchen aus dem Bett mit sich sortnähmeu.
In einem Nebenraum Ware» Waschschüsseln aufgestellt, die wir benutzten, worauf
wir uns ankleideten und denn in den Hof hinabgingen, wo uns der Vizeboos
Gelegenheit zum Wichseu unsrer „Trittchen" (Stiefel) gab. Für den Gebrauch
des Wichsgeräts mußte man fünf Poscher zahlen, die Wohl in die Tasche des Vize¬
boos flössen. Dann gab es in der Fremdenstube für fünfzehn Poscher ein Früh¬
stück, das aus Kaffee und Brötchen bestand. Nach dem Frühstück erhielt jeder seine
„Fleppe" (Legitimationspapiere) und begab sich denn in die Stadt, um die „Krautcrer
zu stoßen" (bei den Meistern nach Arbeit anzufragen oder sich von ihnen ein Ge¬
schenk zu holen). Ich sprach bei sämtlichen Meistern vor, fand jedoch keine Arbeit,
erhielt aber die ganzen Taschen voll „Lvrcheu" (Semmeln) und etwa dreißig Poscher
Bargeld. Da ich die Lorchen natürlich nicht alle selber vertilgen konnte, mußte ich
den größten Teil davon „verkündigen" (verkaufen). Als Ergänzung zu deu er¬
beutete» Lorcheu talfte ich mir bei einem „Katzkow" (Fleischer) ein Stück „Unver¬
nunft" (Wurst), kehrte in die Penne zurück und verzehrte dort mein Frühstück,
wobei ich „ein halbes Pfund Soruff schwächte," dann ließ ich mir vom Boos
„Berliner und Steuz" herausgebet?, bezahlte für das Aufbewahren drei Poscher
und „tigerte" (wanderte) nach Gern ab. Um die Mittagszeit kam ich in ein „Kaff"
(Dorf), wo ich mein Mittagsbrod zuscimmeufocht. Ich speiste bei dieser Gelegenheit
drei- oder viermal zu Mittag und nahm auch einige Poscher „Kies" (Geld) mit
bon dannen. In Gera langte ich gegen vier Uhr Nachmittags an und nahm mir
gleich vor, sämtliche „Krauterer," an denen ich auf dem Wege zur Peune vorüber-
kommen würde, zu stoßen, dabei beachtete ich die „Zunft," d. h. die Begrüßuugs-
formalitäten, wie sie bei uns „Lehmcru" üblich sind. Ein alter Brauch verlangt
»äinlich, daß man ohne „Steuz" und „Berliner" vor dem Meister erscheint, und
deshalb legt man beides beim Eintritt hinter die Haustür. Im übrigen fand ich
i» Gera ähnliche Zustände wie in Greiz. Da ich niir von einer Wanderung von
Gera nach Gößnitz nicht viel versprach, beschloß ich, diese Strecke mit der Bahn
zurückzulegen; ich löste mir zu dem etwa um zehn Uhr Morgens abfahrende» Zug
ein Billett dritter Klasse und machte es mir in dem Coupe bequem. Kurz vor
der Abfahrt wurde »och einmal die Tür aufgerissen, und drei Herren erschienen,
die einsteigen wollten, aber als sie meinen „Berliner," der unter der Bank lag,
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[0553] Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren Es gab nämlich verschiedne Gelegenheiten, sich von den Anstrengungen der Wander¬ schaft zu erholen: wer dreißig „Poscher" (Pfennige) zur Verfügung hatte, konnte ein leidlich gutes Bett erhalten. Für zwanzig Pfennige war ein etwas bescheidneres Bett zu haben. Für zehn Pfennige konnte man auf „Rauscher" (Stroh) schlafen, wer aber nur fünf Pfennige auf seine Nachtruhe verwenden konnte, der bekam eine hölzerne Bank oder einen der Tische in der Fremdcnstube als Nachtlager ange¬ wiesen. Vor dem Schlafengehn mußte sich jeder Kunde vollständig entkleiden, worauf der „Vizeboos" (Hausknecht) die „Stande" (Hemd) nach „Bienen" oder „deutscheu Reichskäfern" (Läusen) durchsuchte. Im Vertrauen auf meine zwei Taler glaubte ich ein Bett für dreißig Pfennige beanspruchen zu können und stieg mit einigen Kunden die Treppe zum Schlafsaal hinauf. In diesem Saale standen etwa zwanzig Betten, von denen etwa fünfzehn besetzt wurde». Zum Schlafen kamen wir zunächst noch nicht, denn im Bett wurden Räubergeschichten erzählt, bis der Vizeboos in seine eigne Schlafkammer ging, die nicht weit vom Schlafsaal entfernt war. Während meine Kameraden schon schliefen, lag ich noch lange wach und hörte dabei in der Schlafkammer des Vizeboos ein höchst verdächtiges Geräusch, für das ich jedoch bald eine Erklärung fand. Der wackre Vizeboos knackte nämlich an sich selber das Wild, auf das er bei uns andern vorher Jagd gemacht hatte. Am nächsten Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt. Wir erhoben uns, und ich bemerkte zu meinem Erstaunen, daß sich die Kunden mit dem Kopfkissen ihres Lagers den ganzen Körper abrieben. Es war dies eine Vorsichtsmaßregel, die verhüten sollte, daß sie etwaige kleine Tierchen aus dem Bett mit sich sortnähmeu. In einem Nebenraum Ware» Waschschüsseln aufgestellt, die wir benutzten, worauf wir uns ankleideten und denn in den Hof hinabgingen, wo uns der Vizeboos Gelegenheit zum Wichseu unsrer „Trittchen" (Stiefel) gab. Für den Gebrauch des Wichsgeräts mußte man fünf Poscher zahlen, die Wohl in die Tasche des Vize¬ boos flössen. Dann gab es in der Fremdenstube für fünfzehn Poscher ein Früh¬ stück, das aus Kaffee und Brötchen bestand. Nach dem Frühstück erhielt jeder seine „Fleppe" (Legitimationspapiere) und begab sich denn in die Stadt, um die „Krautcrer zu stoßen" (bei den Meistern nach Arbeit anzufragen oder sich von ihnen ein Ge¬ schenk zu holen). Ich sprach bei sämtlichen Meistern vor, fand jedoch keine Arbeit, erhielt aber die ganzen Taschen voll „Lvrcheu" (Semmeln) und etwa dreißig Poscher Bargeld. Da ich die Lorchen natürlich nicht alle selber vertilgen konnte, mußte ich den größten Teil davon „verkündigen" (verkaufen). Als Ergänzung zu deu er¬ beutete» Lorcheu talfte ich mir bei einem „Katzkow" (Fleischer) ein Stück „Unver¬ nunft" (Wurst), kehrte in die Penne zurück und verzehrte dort mein Frühstück, wobei ich „ein halbes Pfund Soruff schwächte," dann ließ ich mir vom Boos „Berliner und Steuz" herausgebet?, bezahlte für das Aufbewahren drei Poscher und „tigerte" (wanderte) nach Gern ab. Um die Mittagszeit kam ich in ein „Kaff" (Dorf), wo ich mein Mittagsbrod zuscimmeufocht. Ich speiste bei dieser Gelegenheit drei- oder viermal zu Mittag und nahm auch einige Poscher „Kies" (Geld) mit bon dannen. In Gera langte ich gegen vier Uhr Nachmittags an und nahm mir gleich vor, sämtliche „Krauterer," an denen ich auf dem Wege zur Peune vorüber- kommen würde, zu stoßen, dabei beachtete ich die „Zunft," d. h. die Begrüßuugs- formalitäten, wie sie bei uns „Lehmcru" üblich sind. Ein alter Brauch verlangt »äinlich, daß man ohne „Steuz" und „Berliner" vor dem Meister erscheint, und deshalb legt man beides beim Eintritt hinter die Haustür. Im übrigen fand ich i» Gera ähnliche Zustände wie in Greiz. Da ich niir von einer Wanderung von Gera nach Gößnitz nicht viel versprach, beschloß ich, diese Strecke mit der Bahn zurückzulegen; ich löste mir zu dem etwa um zehn Uhr Morgens abfahrende» Zug ein Billett dritter Klasse und machte es mir in dem Coupe bequem. Kurz vor der Abfahrt wurde »och einmal die Tür aufgerissen, und drei Herren erschienen, die einsteigen wollten, aber als sie meinen „Berliner," der unter der Bank lag, sahen, schleunigst Kehrt machten und mit der Bemerkung, daß das Coupe' schon

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/553>, abgerufen am 05.02.2025.