Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.lieben Menschenrechten zählte und den Schlendrian für das allein zulässige Zeitmaß Die fremden Arbeiter, die der Inspektor hatte kommen lassen, waren Lumpen Johannes, sagte er, du weißt, daß Matthäus am achtzehnten geschrieben steht: Hätte ein andrer, der Doktor oder der Inspektor, dein Schulzen die Zu¬ Ich bin nicht Schulze, sagte dieser, auch bin ich nicht mehr Verkündiger, auch So half denn das nichts. Der Schulze besann sich also und griff dann nach Es ist schon gesagt worden, daß die Einwohner von Tapnicken ihre eigne Grenzboten II 1905 S6
lieben Menschenrechten zählte und den Schlendrian für das allein zulässige Zeitmaß Die fremden Arbeiter, die der Inspektor hatte kommen lassen, waren Lumpen Johannes, sagte er, du weißt, daß Matthäus am achtzehnten geschrieben steht: Hätte ein andrer, der Doktor oder der Inspektor, dein Schulzen die Zu¬ Ich bin nicht Schulze, sagte dieser, auch bin ich nicht mehr Verkündiger, auch So half denn das nichts. Der Schulze besann sich also und griff dann nach Es ist schon gesagt worden, daß die Einwohner von Tapnicken ihre eigne Grenzboten II 1905 S6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0445" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296826"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1989" prev="#ID_1988"> lieben Menschenrechten zählte und den Schlendrian für das allein zulässige Zeitmaß<lb/> hielt — außer wenn er zu Pferde saß —, so stimmte ihm die öffentliche Meinung<lb/> durchaus zu. Man verdachte es den Arbeitern gar nicht, wenn sie Widerstand<lb/> leisteten und auf Umwegen zu ihrem Gewohnheitsrechte zu kommen suchten, und freute<lb/> sich, als sie davongegangen waren und den Inspektor allein hatten sitzen lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1990"> Die fremden Arbeiter, die der Inspektor hatte kommen lassen, waren Lumpen<lb/> gewesen, die man schnell wieder hatte wegjagen müssen. Es war nichts übrig ge¬<lb/> blieben, man hatte versuchen müssen, wieder auf die einheimischen Knechte zurück-<lb/> zugreifen, hatte gute Worte gegeben und den Lohn erhöht, nud hatte auch ein<lb/> Paar halbwüchsige Burschen, den Georg und den David, erwischt und als Futter¬<lb/> knechte angeworben. Den Winter über mochte das ja genügen, zum Frühjahr mußte<lb/> man aber versuchen, Sachsengängcr aus Preußen zu erhalten. Nun aber war zutage<lb/> gekommen, daß die Kerle den Hafer für die Pferde unterschlagen und in Schnaps<lb/> angelegt hatten. Dies führte zu einer Konferenz des Doktors, des Inspektors und<lb/> Koudrots. Der Inspektor wollte den Sündern das Fell vollhaneu und sie vor<lb/> die Tür werfen. Der Doktor erwog, daß dies dazu führen könnte, daß er selbst<lb/> wieder die Futterschwinge in die Hand nehmen müsse, und danach hatte er kein<lb/> Verlangen. Und Koudrot empfahl, den Übeltätern erst noch einmal ins Gewissen<lb/> zu reden, worüber der Inspektor lachte, und wozu auch der Doktor kein großes<lb/> Vertrauen hatte. Aber da nichts besseres zu finden war, so drang Kondrot mit<lb/> seinem Vorschlage durch. Er begab sich zum Schulzen, der ebenfalls zu den<lb/> Frommen gehörte. Dort spann er ein längeres Gespräch über Gemeindeangelegen-<lb/> heiten um und tum schließlich mit seinem Anliegen heraus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1991"> Johannes, sagte er, du weißt, daß Matthäus am achtzehnten geschrieben steht:<lb/> So ein Bruder sündigt, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm. Hört<lb/> er dich, so hast du seine Seele gewonnen. Der Georg Perwelk und der David<lb/> GaidyS auf dem Gute unterschlagen den Hafer für die Pferde, und, Johannes, sie<lb/> kaufen Schnaps und betrinken sich. Gehe hin, strafe sie zwischen dir und ihnen, so<lb/> wirst du ihre Seelen erretten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1992"> Hätte ein andrer, der Doktor oder der Inspektor, dein Schulzen die Zu¬<lb/> mutung gestellt, die Knechte zu vermahnen, so würde er geantwortet haben, das<lb/> sei seine Sache nicht, er würde sie an deu Amtshauptmnnn gewiesen haben, und<lb/> dieser würde die Sache so untersucht haben, daß nichts dabei herauskam. Aber die<lb/> sein Gewissen gerichtete Aufforderung konnte er nicht ablehnen. Er fragte also<lb/> nur: Kondrot, warum tust du es nicht selbst?</p><lb/> <p xml:id="ID_1993"> Ich bin nicht Schulze, sagte dieser, auch bin ich nicht mehr Verkündiger, auch<lb/> habe ich ein Gelübde getan.</p><lb/> <p xml:id="ID_1994"> So half denn das nichts. Der Schulze besann sich also und griff dann nach<lb/> Mütze und seinem schönsten Stock.</p><lb/> <p xml:id="ID_1995"> Es ist schon gesagt worden, daß die Einwohner von Tapnicken ihre eigne<lb/> Auslegung des siebenten Gebots hatten, die mit der Erklärung des Lutherischen<lb/> Katechismus und dem Strafgesetzbuche nicht überall übereinstimmte. Sie erlaubten<lb/> sich die Anmerkung: fiskalisches Holz, Fische und Strandgut fallen nicht unter das<lb/> siebente Gebot. So hatte auch der Schulze seinen eignen Sittenkodex, worin<lb/> Manches als erläßliche Sünde stand, was den Staatsanwalt in höchste sittliche Er-<lb/> ^gnug gebracht hätte. Dagegen bewertete er manches viel strenger, als es das<lb/> Strafgesetz tat. Für Sünde und zugleich für Schande galt ihm, wenn sich seines¬<lb/> gleichen bestahl, oder wenn einer dem Vieh das Futter unterschlug. Wenn aber<lb/> trüge Bäume abgeknickt wurden, so galt ihm das nicht mehr als Sachbeschädigung,<lb/> sondern kam gleich nach dem Kindcsmorde. Hier also lag Fall zwei vor. Der<lb/> Schulze fühlte sich entrüstet und ging gewichtigen Schrittes zum Gute, begrüßte<lb/> Tauenden und begab sich dann in den Pferdestall, um die beideu Sünder zwischen<lb/> steh und ihnen zu strafen, was aber nicht hinderte, daß sich unberufne Zuschauer<lb/> vor der Stalltür versammelten.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1905 S6</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0445]
lieben Menschenrechten zählte und den Schlendrian für das allein zulässige Zeitmaß
hielt — außer wenn er zu Pferde saß —, so stimmte ihm die öffentliche Meinung
durchaus zu. Man verdachte es den Arbeitern gar nicht, wenn sie Widerstand
leisteten und auf Umwegen zu ihrem Gewohnheitsrechte zu kommen suchten, und freute
sich, als sie davongegangen waren und den Inspektor allein hatten sitzen lassen.
Die fremden Arbeiter, die der Inspektor hatte kommen lassen, waren Lumpen
gewesen, die man schnell wieder hatte wegjagen müssen. Es war nichts übrig ge¬
blieben, man hatte versuchen müssen, wieder auf die einheimischen Knechte zurück-
zugreifen, hatte gute Worte gegeben und den Lohn erhöht, nud hatte auch ein
Paar halbwüchsige Burschen, den Georg und den David, erwischt und als Futter¬
knechte angeworben. Den Winter über mochte das ja genügen, zum Frühjahr mußte
man aber versuchen, Sachsengängcr aus Preußen zu erhalten. Nun aber war zutage
gekommen, daß die Kerle den Hafer für die Pferde unterschlagen und in Schnaps
angelegt hatten. Dies führte zu einer Konferenz des Doktors, des Inspektors und
Koudrots. Der Inspektor wollte den Sündern das Fell vollhaneu und sie vor
die Tür werfen. Der Doktor erwog, daß dies dazu führen könnte, daß er selbst
wieder die Futterschwinge in die Hand nehmen müsse, und danach hatte er kein
Verlangen. Und Koudrot empfahl, den Übeltätern erst noch einmal ins Gewissen
zu reden, worüber der Inspektor lachte, und wozu auch der Doktor kein großes
Vertrauen hatte. Aber da nichts besseres zu finden war, so drang Kondrot mit
seinem Vorschlage durch. Er begab sich zum Schulzen, der ebenfalls zu den
Frommen gehörte. Dort spann er ein längeres Gespräch über Gemeindeangelegen-
heiten um und tum schließlich mit seinem Anliegen heraus.
Johannes, sagte er, du weißt, daß Matthäus am achtzehnten geschrieben steht:
So ein Bruder sündigt, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm. Hört
er dich, so hast du seine Seele gewonnen. Der Georg Perwelk und der David
GaidyS auf dem Gute unterschlagen den Hafer für die Pferde, und, Johannes, sie
kaufen Schnaps und betrinken sich. Gehe hin, strafe sie zwischen dir und ihnen, so
wirst du ihre Seelen erretten.
Hätte ein andrer, der Doktor oder der Inspektor, dein Schulzen die Zu¬
mutung gestellt, die Knechte zu vermahnen, so würde er geantwortet haben, das
sei seine Sache nicht, er würde sie an deu Amtshauptmnnn gewiesen haben, und
dieser würde die Sache so untersucht haben, daß nichts dabei herauskam. Aber die
sein Gewissen gerichtete Aufforderung konnte er nicht ablehnen. Er fragte also
nur: Kondrot, warum tust du es nicht selbst?
Ich bin nicht Schulze, sagte dieser, auch bin ich nicht mehr Verkündiger, auch
habe ich ein Gelübde getan.
So half denn das nichts. Der Schulze besann sich also und griff dann nach
Mütze und seinem schönsten Stock.
Es ist schon gesagt worden, daß die Einwohner von Tapnicken ihre eigne
Auslegung des siebenten Gebots hatten, die mit der Erklärung des Lutherischen
Katechismus und dem Strafgesetzbuche nicht überall übereinstimmte. Sie erlaubten
sich die Anmerkung: fiskalisches Holz, Fische und Strandgut fallen nicht unter das
siebente Gebot. So hatte auch der Schulze seinen eignen Sittenkodex, worin
Manches als erläßliche Sünde stand, was den Staatsanwalt in höchste sittliche Er-
^gnug gebracht hätte. Dagegen bewertete er manches viel strenger, als es das
Strafgesetz tat. Für Sünde und zugleich für Schande galt ihm, wenn sich seines¬
gleichen bestahl, oder wenn einer dem Vieh das Futter unterschlug. Wenn aber
trüge Bäume abgeknickt wurden, so galt ihm das nicht mehr als Sachbeschädigung,
sondern kam gleich nach dem Kindcsmorde. Hier also lag Fall zwei vor. Der
Schulze fühlte sich entrüstet und ging gewichtigen Schrittes zum Gute, begrüßte
Tauenden und begab sich dann in den Pferdestall, um die beideu Sünder zwischen
steh und ihnen zu strafen, was aber nicht hinderte, daß sich unberufne Zuschauer
vor der Stalltür versammelten.
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