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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Schulhaß und Heeresscheu

besonders auch ein barbarisches Volk unsre Kriegstechnik so weit aneignen kann,
daß seine Überwindung den hochgebildeten Gegner schwere Opfer kostet, solche
Zeiten lehren, daß eine Erziehung, die den zur Führung der Nation berufnen
jungen Leuten nur eine einseitige den Verstand schürfende Bildung gibt, ganz
unzulänglich ist. Ein Volk, das Weltpolitik treiben muß wie wir, braucht
nicht nur starke Verstandeskräfte, sondern auch starke Seelen- und Körperkräfte.
Es darf nicht länger mit einer einseitigen Ausbildung des Verstandes, die das
Gemüt und den Körper verkümmert, gegen sich selbst wüten. Denn die Mittel¬
schulbildung stellt einen Verbrauch, nicht eine Konservierung, oder was sie
eigentlich sein sollte, eine Steigerung unsrer Volkskraft dar. Wer dieses erwägt,
muß zugeben, daß die Bildung des Charakters und des Körpers in der Er¬
ziehung unsers Volkes gleichberechtigt neben die Bildung des Verstandes treten
muß. Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, muß sie immer und immer
wieder erhoben werden. Auch ich habe versucht, dieser Pflicht zu genügen.

Generalfeldmarschall Graf Hüseler hat die Lücke in der Jugenderziehung,
die zwischen der Erziehung im Vaterhause und in der Volksschule auf der einen
und der Armee auf der andern Seite klafft, als gefahrvoll bezeichnet. Er
unterschätzt die Lücke, sie ist größer. Sie durchzieht unsre ganze Erziehung
von der Spielzeit des Kindes bis zur Heeresdienstzeit des jungen Mannes.
Moltke hat auf sie hingewiesen, als er am 16. Februar 1874 im Reichs¬
tage bei der ersten Lesung des Reichsmilitärgesetzentwurfs sagte: "Die Schule
nimmt nicht die ganze Jugend in sich auf und sie begleitet die Mehrheit
derselben nur auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke ihres Lebensganges.
Glücklicherweise tritt bei uns da, wo der eigentliche Unterricht aufhört, sehr
bald die Erziehung ein, und keine Nation hat bis jetzt in ihrer Gesamtheit
eine Erziehung genossen, wie die unsrige durch die allgemeine Wehrpflicht.
Man hat gesagt, der Schulmeister habe unsere Schlachten gewonnen. Das bloße
Wissen aber erhebt den Menschen noch nicht auf den Standpunkt, wo er bereit
ist, das Leben für eine Idee, für Pflichterfüllung, für die Ehre des Vater¬
landes einzusetzen: Dazu gehört die ganze Erziehung des Menschen. Nicht der
Schulmeister, sondern der Erzieher, der Militärstand, hat unsere Schlachten ge¬
wonnen, der Stand, welcher jetzt bald sechzig Jahrgänge der Nation zu körper¬
licher Rüstigkeit und geistiger Frische, zu Ordnung und Pünktlichkeit, zu Treue
und Gehorsam, zu Vaterlandsliebe und Mannhaftigkeit erzogen hat. Sie können
die Armee, und zwar in ihrer vollen Stärke, schon im Innern nicht entbehren
für die Erziehung der Nation!"

Seit Moltke diese Worte gesprochen hat, ist die Mittelschule noch mehr
Unterrichtsanstalt geworden, und die Erziehung zur Wehrhaftigkeit tritt noch
unvermittelter als damals, Schwache, Zarte, Empfindsame geradezu abschreckend,
die jungen Wehrpflichtigen an. Der greise Feldherr versagt aus der Fülle seiner
Erfahrung der Schule hartnäckig die Gleichstellung mit dem Heere in der Er¬
ziehung unsers Volkes. Hat er Unrecht?




Schulhaß und Heeresscheu

besonders auch ein barbarisches Volk unsre Kriegstechnik so weit aneignen kann,
daß seine Überwindung den hochgebildeten Gegner schwere Opfer kostet, solche
Zeiten lehren, daß eine Erziehung, die den zur Führung der Nation berufnen
jungen Leuten nur eine einseitige den Verstand schürfende Bildung gibt, ganz
unzulänglich ist. Ein Volk, das Weltpolitik treiben muß wie wir, braucht
nicht nur starke Verstandeskräfte, sondern auch starke Seelen- und Körperkräfte.
Es darf nicht länger mit einer einseitigen Ausbildung des Verstandes, die das
Gemüt und den Körper verkümmert, gegen sich selbst wüten. Denn die Mittel¬
schulbildung stellt einen Verbrauch, nicht eine Konservierung, oder was sie
eigentlich sein sollte, eine Steigerung unsrer Volkskraft dar. Wer dieses erwägt,
muß zugeben, daß die Bildung des Charakters und des Körpers in der Er¬
ziehung unsers Volkes gleichberechtigt neben die Bildung des Verstandes treten
muß. Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, muß sie immer und immer
wieder erhoben werden. Auch ich habe versucht, dieser Pflicht zu genügen.

Generalfeldmarschall Graf Hüseler hat die Lücke in der Jugenderziehung,
die zwischen der Erziehung im Vaterhause und in der Volksschule auf der einen
und der Armee auf der andern Seite klafft, als gefahrvoll bezeichnet. Er
unterschätzt die Lücke, sie ist größer. Sie durchzieht unsre ganze Erziehung
von der Spielzeit des Kindes bis zur Heeresdienstzeit des jungen Mannes.
Moltke hat auf sie hingewiesen, als er am 16. Februar 1874 im Reichs¬
tage bei der ersten Lesung des Reichsmilitärgesetzentwurfs sagte: „Die Schule
nimmt nicht die ganze Jugend in sich auf und sie begleitet die Mehrheit
derselben nur auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke ihres Lebensganges.
Glücklicherweise tritt bei uns da, wo der eigentliche Unterricht aufhört, sehr
bald die Erziehung ein, und keine Nation hat bis jetzt in ihrer Gesamtheit
eine Erziehung genossen, wie die unsrige durch die allgemeine Wehrpflicht.
Man hat gesagt, der Schulmeister habe unsere Schlachten gewonnen. Das bloße
Wissen aber erhebt den Menschen noch nicht auf den Standpunkt, wo er bereit
ist, das Leben für eine Idee, für Pflichterfüllung, für die Ehre des Vater¬
landes einzusetzen: Dazu gehört die ganze Erziehung des Menschen. Nicht der
Schulmeister, sondern der Erzieher, der Militärstand, hat unsere Schlachten ge¬
wonnen, der Stand, welcher jetzt bald sechzig Jahrgänge der Nation zu körper¬
licher Rüstigkeit und geistiger Frische, zu Ordnung und Pünktlichkeit, zu Treue
und Gehorsam, zu Vaterlandsliebe und Mannhaftigkeit erzogen hat. Sie können
die Armee, und zwar in ihrer vollen Stärke, schon im Innern nicht entbehren
für die Erziehung der Nation!"

Seit Moltke diese Worte gesprochen hat, ist die Mittelschule noch mehr
Unterrichtsanstalt geworden, und die Erziehung zur Wehrhaftigkeit tritt noch
unvermittelter als damals, Schwache, Zarte, Empfindsame geradezu abschreckend,
die jungen Wehrpflichtigen an. Der greise Feldherr versagt aus der Fülle seiner
Erfahrung der Schule hartnäckig die Gleichstellung mit dem Heere in der Er¬
ziehung unsers Volkes. Hat er Unrecht?




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[0372] Schulhaß und Heeresscheu besonders auch ein barbarisches Volk unsre Kriegstechnik so weit aneignen kann, daß seine Überwindung den hochgebildeten Gegner schwere Opfer kostet, solche Zeiten lehren, daß eine Erziehung, die den zur Führung der Nation berufnen jungen Leuten nur eine einseitige den Verstand schürfende Bildung gibt, ganz unzulänglich ist. Ein Volk, das Weltpolitik treiben muß wie wir, braucht nicht nur starke Verstandeskräfte, sondern auch starke Seelen- und Körperkräfte. Es darf nicht länger mit einer einseitigen Ausbildung des Verstandes, die das Gemüt und den Körper verkümmert, gegen sich selbst wüten. Denn die Mittel¬ schulbildung stellt einen Verbrauch, nicht eine Konservierung, oder was sie eigentlich sein sollte, eine Steigerung unsrer Volkskraft dar. Wer dieses erwägt, muß zugeben, daß die Bildung des Charakters und des Körpers in der Er¬ ziehung unsers Volkes gleichberechtigt neben die Bildung des Verstandes treten muß. Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, muß sie immer und immer wieder erhoben werden. Auch ich habe versucht, dieser Pflicht zu genügen. Generalfeldmarschall Graf Hüseler hat die Lücke in der Jugenderziehung, die zwischen der Erziehung im Vaterhause und in der Volksschule auf der einen und der Armee auf der andern Seite klafft, als gefahrvoll bezeichnet. Er unterschätzt die Lücke, sie ist größer. Sie durchzieht unsre ganze Erziehung von der Spielzeit des Kindes bis zur Heeresdienstzeit des jungen Mannes. Moltke hat auf sie hingewiesen, als er am 16. Februar 1874 im Reichs¬ tage bei der ersten Lesung des Reichsmilitärgesetzentwurfs sagte: „Die Schule nimmt nicht die ganze Jugend in sich auf und sie begleitet die Mehrheit derselben nur auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke ihres Lebensganges. Glücklicherweise tritt bei uns da, wo der eigentliche Unterricht aufhört, sehr bald die Erziehung ein, und keine Nation hat bis jetzt in ihrer Gesamtheit eine Erziehung genossen, wie die unsrige durch die allgemeine Wehrpflicht. Man hat gesagt, der Schulmeister habe unsere Schlachten gewonnen. Das bloße Wissen aber erhebt den Menschen noch nicht auf den Standpunkt, wo er bereit ist, das Leben für eine Idee, für Pflichterfüllung, für die Ehre des Vater¬ landes einzusetzen: Dazu gehört die ganze Erziehung des Menschen. Nicht der Schulmeister, sondern der Erzieher, der Militärstand, hat unsere Schlachten ge¬ wonnen, der Stand, welcher jetzt bald sechzig Jahrgänge der Nation zu körper¬ licher Rüstigkeit und geistiger Frische, zu Ordnung und Pünktlichkeit, zu Treue und Gehorsam, zu Vaterlandsliebe und Mannhaftigkeit erzogen hat. Sie können die Armee, und zwar in ihrer vollen Stärke, schon im Innern nicht entbehren für die Erziehung der Nation!" Seit Moltke diese Worte gesprochen hat, ist die Mittelschule noch mehr Unterrichtsanstalt geworden, und die Erziehung zur Wehrhaftigkeit tritt noch unvermittelter als damals, Schwache, Zarte, Empfindsame geradezu abschreckend, die jungen Wehrpflichtigen an. Der greise Feldherr versagt aus der Fülle seiner Erfahrung der Schule hartnäckig die Gleichstellung mit dem Heere in der Er¬ ziehung unsers Volkes. Hat er Unrecht?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/372>, abgerufen am 05.02.2025.