Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.einen hochgebildeten jungen Gelehrten und einen einfachen Schneidergesellen ge¬ Daß die Schule nicht allen die sittliche und körperliche Kraft mitgibt, die Nicht immer tritt die Heeresscheu so deutlich und so häßlich zutage wie einen hochgebildeten jungen Gelehrten und einen einfachen Schneidergesellen ge¬ Daß die Schule nicht allen die sittliche und körperliche Kraft mitgibt, die Nicht immer tritt die Heeresscheu so deutlich und so häßlich zutage wie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297500"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1630" prev="#ID_1629"> einen hochgebildeten jungen Gelehrten und einen einfachen Schneidergesellen ge¬<lb/> schlungen hat, haben die Leser der Grenzboten — gewiß mit Rührung — von<lb/> Friedrich Ratzel erfahren. Sollte das Heer die Kraft, soziale Gegensätze zu<lb/> mildern und auszugleichen, nur im Kriege haben? Alle die jungen, zur Führung<lb/> ihrer Altersgenossen bestimmten Männer, die die bunte Schnur um die Achsel¬<lb/> klappe tragen, sollten vom Gymnasium den Entschluß, ihrem Vaterlande Herz<lb/> und Hand zu weihen, auch wenn ihnen alle Wegweiser der Zeit nach Jena zu<lb/> weisen scheinen, und die sittliche und körperliche Kraft, unbewährte Waffen<lb/> im Frieden, siegreiche und geschlagne im Kriege freudig für das Vaterland zu<lb/> führen, mitbringen. Dann erwüchse aus dem Friedensdienste im Heere all¬<lb/> mählich der soziale Friede.</p><lb/> <p xml:id="ID_1631"> Daß die Schule nicht allen die sittliche und körperliche Kraft mitgibt, die<lb/> das Streben nach diesem hohen Ziele fordert, hat der Fall Eras gezeigt. Ein<lb/> junger Mann, der seine Universitätstudien abgeschlossen hat, versucht, sich dem<lb/> Waffendienste, dessen Forderungen er sich nicht gewachsen fühlt, auf Schleich¬<lb/> wegen zu entziehn. Der Versuch mißlingt, der „Freiwillige" wird nach ge¬<lb/> nauer Untersuchung tauglich befunden, wegen falscher Anschuldigung und ver¬<lb/> leumderischer Beleidigung eines Vorgesetzten verurteilt, schließlich wegen einer<lb/> Psychose, die er in seiner Jugend überstanden hat, und wegen Hysterie zur<lb/> Disposition der Ersatzbehörden entlassen. Ich bin überzeugt, daß sich dieser<lb/> Vorgang nicht ereignet hätte, wenn Eras in den Schuljahren die Erziehung<lb/> genossen hatte, die das Gymnasium verheißt, aber nicht gewährt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1632" next="#ID_1633"> Nicht immer tritt die Heeresscheu so deutlich und so häßlich zutage wie<lb/> bei Eras und bei gewissen Dichtern unsrer Zeit. Dieser Umstand läßt ihre Ver¬<lb/> breitung geringer erscheinen, als sie ist. Wir haben es nicht nur mit Einzelnen<lb/> zu tun, die in verleumderischen Briefen und in tendenziösen Schriften ihre Klage<lb/> über die Härte des Heeresdienstes erheben. Die Einzelnen sind Chorführer,<lb/> ihnen folgt ein murrender Chor, der die Härte, womit die militärische Erziehung<lb/> auf den unausgebildeten verkümmerten Körper und auf das ungezügelte Selbst¬<lb/> bewußtsein vieler jungen Leute wirkt, still, aber nicht willig erträgt und nicht<lb/> vergißt, der die eigne Tadelsucht unterdrückt, aber die feindselige Schilderung<lb/> des Heeres freudig begrüßt und ihre Wirkung murrend verstärkt. Die Ver¬<lb/> breitung des Simplicissimus und der Erfolg von Büchern wie „Jena oder<lb/> Sedan?" geben einen Maßstab für die Größe dieses Chors der Heeresscheueu-<lb/> Er umfaßt nicht nur gediente Leute, sondern auch gebildete und ungebildete<lb/> Rekruten, die von dem Simplicissimus und seinen Genossen beeinflußt sind-<lb/> Wenn der gesunde, gut gewachsne, allerdings am Gymnasium verkümmerte Sohn<lb/> eines reckenhaften, im Landwehrdienst ergrauten Vaters, der Neffe eines an der<lb/> Loire gefallnen Onkels sich freut, zum Heeresdienst untauglich zu sein, und er¬<lb/> wartet, daß alle seine Angehörigen seine Freude teilen, so deutet dies auf ein<lb/> bedenkliches Schwinden des kriegerischen Geistes in unsrer Jugend. Mag nun<lb/> das Bewußtsein körperlicher Schwäche oder die durch das Selbstbewußtsein des<lb/> Polyhistoren und durch die Offizierkarikaturen der Witzblätter erzeugte Ver¬<lb/> achtung des Offizierkorps und des Heeres, oder Egoismus, der im Heeresdienst<lb/> eine unwillkommne Hemmung des Verufsstrebens sieht, oder ästhetische Ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0368]
einen hochgebildeten jungen Gelehrten und einen einfachen Schneidergesellen ge¬
schlungen hat, haben die Leser der Grenzboten — gewiß mit Rührung — von
Friedrich Ratzel erfahren. Sollte das Heer die Kraft, soziale Gegensätze zu
mildern und auszugleichen, nur im Kriege haben? Alle die jungen, zur Führung
ihrer Altersgenossen bestimmten Männer, die die bunte Schnur um die Achsel¬
klappe tragen, sollten vom Gymnasium den Entschluß, ihrem Vaterlande Herz
und Hand zu weihen, auch wenn ihnen alle Wegweiser der Zeit nach Jena zu
weisen scheinen, und die sittliche und körperliche Kraft, unbewährte Waffen
im Frieden, siegreiche und geschlagne im Kriege freudig für das Vaterland zu
führen, mitbringen. Dann erwüchse aus dem Friedensdienste im Heere all¬
mählich der soziale Friede.
Daß die Schule nicht allen die sittliche und körperliche Kraft mitgibt, die
das Streben nach diesem hohen Ziele fordert, hat der Fall Eras gezeigt. Ein
junger Mann, der seine Universitätstudien abgeschlossen hat, versucht, sich dem
Waffendienste, dessen Forderungen er sich nicht gewachsen fühlt, auf Schleich¬
wegen zu entziehn. Der Versuch mißlingt, der „Freiwillige" wird nach ge¬
nauer Untersuchung tauglich befunden, wegen falscher Anschuldigung und ver¬
leumderischer Beleidigung eines Vorgesetzten verurteilt, schließlich wegen einer
Psychose, die er in seiner Jugend überstanden hat, und wegen Hysterie zur
Disposition der Ersatzbehörden entlassen. Ich bin überzeugt, daß sich dieser
Vorgang nicht ereignet hätte, wenn Eras in den Schuljahren die Erziehung
genossen hatte, die das Gymnasium verheißt, aber nicht gewährt.
Nicht immer tritt die Heeresscheu so deutlich und so häßlich zutage wie
bei Eras und bei gewissen Dichtern unsrer Zeit. Dieser Umstand läßt ihre Ver¬
breitung geringer erscheinen, als sie ist. Wir haben es nicht nur mit Einzelnen
zu tun, die in verleumderischen Briefen und in tendenziösen Schriften ihre Klage
über die Härte des Heeresdienstes erheben. Die Einzelnen sind Chorführer,
ihnen folgt ein murrender Chor, der die Härte, womit die militärische Erziehung
auf den unausgebildeten verkümmerten Körper und auf das ungezügelte Selbst¬
bewußtsein vieler jungen Leute wirkt, still, aber nicht willig erträgt und nicht
vergißt, der die eigne Tadelsucht unterdrückt, aber die feindselige Schilderung
des Heeres freudig begrüßt und ihre Wirkung murrend verstärkt. Die Ver¬
breitung des Simplicissimus und der Erfolg von Büchern wie „Jena oder
Sedan?" geben einen Maßstab für die Größe dieses Chors der Heeresscheueu-
Er umfaßt nicht nur gediente Leute, sondern auch gebildete und ungebildete
Rekruten, die von dem Simplicissimus und seinen Genossen beeinflußt sind-
Wenn der gesunde, gut gewachsne, allerdings am Gymnasium verkümmerte Sohn
eines reckenhaften, im Landwehrdienst ergrauten Vaters, der Neffe eines an der
Loire gefallnen Onkels sich freut, zum Heeresdienst untauglich zu sein, und er¬
wartet, daß alle seine Angehörigen seine Freude teilen, so deutet dies auf ein
bedenkliches Schwinden des kriegerischen Geistes in unsrer Jugend. Mag nun
das Bewußtsein körperlicher Schwäche oder die durch das Selbstbewußtsein des
Polyhistoren und durch die Offizierkarikaturen der Witzblätter erzeugte Ver¬
achtung des Offizierkorps und des Heeres, oder Egoismus, der im Heeresdienst
eine unwillkommne Hemmung des Verufsstrebens sieht, oder ästhetische Ver-
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