Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Schulhaß und Heeresscheu denen man Pietüt und Feinheit des Empfindens, sittliche und künstlerische Die höhere Schule greift mit großem Selbstbewußtsein tief in das Leben Dieser durch die Schule multiplizierte Charakterfehler wird im Bunde mit Schulhaß und Heeresscheu denen man Pietüt und Feinheit des Empfindens, sittliche und künstlerische Die höhere Schule greift mit großem Selbstbewußtsein tief in das Leben Dieser durch die Schule multiplizierte Charakterfehler wird im Bunde mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297446"/> <fw type="header" place="top"> Schulhaß und Heeresscheu</fw><lb/> <p xml:id="ID_1406" prev="#ID_1405"> denen man Pietüt und Feinheit des Empfindens, sittliche und künstlerische<lb/> Gewissenhaftigkeit, aber nicht dichterische Begabung und Schürfe des Ver¬<lb/> standes absprechen kann. Der jugendliche Freiheitsdrang ist bei den einen,<lb/> die Frohnatur bei andern, die Lust zu fabuliereu bei den meisten durch den<lb/> Ernst und den Zwang der Schule verletzt worden. Obwohl keiner von ihnen<lb/> in seiner Jugend auch „beim Elend in die Schule ging," sind sie einig in<lb/> der Verurteilung des Gymnasiums, Viel tiefer als diese immerhin wehrhaften<lb/> Naturen werden sein empfindende junge Leute, die wie jene mit künstlerischen<lb/> lind literarischen Neigungen „behaftet" sind, durch die Schule geschädigt. Ihnen<lb/> nimmt sie die Sonne aus der Jugend, wenn sie nicht ein freundliches Ge¬<lb/> schick in eine Unterrichtsanstalt führt, wo die geringe Schülerzahl den Lehrern<lb/> erlaubt, die Art jedes ihrer Schüler zu ergründen und zu berücksichtigen. Sie<lb/> gehn zugrunde, wenn nicht weise und wohlhabende Eltern sie dnrch Ordnung<lb/> ihrer Tätigkeit, Ausbildung ihrer Arbeitskraft und sorgfältige Pflege ihres<lb/> Körpers in dem Konflikte zwischen den strengen Forderungen der Schule und<lb/> der Sehnsucht nach freudiger Beendigung ihrer besondern Anlagen unterstützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1407"> Die höhere Schule greift mit großem Selbstbewußtsein tief in das Leben<lb/> des jungen Menschen und der Familie ein. Die Pflicht, die sie mit diesem<lb/> Eingriff auf sich nimmt, den Schüler allseitig zu bilden und an Geist und<lb/> Körper gekräftigt ans die Heerstraße des Lebens zu stellen, erfüllt sie nicht.<lb/> Indem sie ihre wahre Aufgabe, durch ein wohl crwognes nullum die ihr an¬<lb/> vertraute Jngend zu bilden und zu erziehn, vergißt und ein Vielerlei von Kennt¬<lb/> nissen dem jungen Geiste für das Leben mitzugeben versucht, schädigt sie die<lb/> Jugend an Leib und Seele. Ein körperlich schwacher Schüler wird in ihrem<lb/> Banne im besten Falle nicht kräftiger. Die Regel wird sein, daß er unter dem<lb/> stetigen Zwange zu freudloser Arbeit, der auch starke Naturen schädigt, und<lb/> unter der sich immer wieder erneuernden Furcht vor Probearbeiten unersetzliche<lb/> Verluste an Nervenkraft erleidet. Ein andrer, dessen schwacher Wille die trägen<lb/> Glieder seines gesunden Körpers nicht zu meistern vermag, wird diese Fähigkeit<lb/> auch nach seinem Abgang von der Schule entbehren. Ein ängstlicher Junge,<lb/> der das Schulgesetz, das Selbsthilfe streng untersagt, zu seinem Schaden gern<lb/> befolgt, wird sich schwerlich Hektor oder Achill zum Helden wählen, „dem er<lb/> die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet," sondern als Feigling die Schule<lb/> verlassen. Alle aber, der Schwache, der Truge und der Feige, werden eine<lb/> Gabe der Polyhistoreuschule mit ihren ohne das Verdienst der Schule an Körper<lb/> und Geist besser geratnen Kameraden gemein haben: den Wahn, durch den<lb/> dürftigen Niederschlag der multa, womit ihr Geist auf der Schule gequält<lb/> wordeu ist, zu eiuer scharfen Kritik aller Personen, Einrichtungen und Werke,<lb/> die vor ihre jungen Angen treten, berechtigt und berufen zu sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1408"> Dieser durch die Schule multiplizierte Charakterfehler wird im Bunde mit<lb/> den audern durch die Schule erzeugten oder nicht bekämpften oder gesteigerten<lb/> Schäden, die ich angedeutet habe, der Nährboden der Heeresschen. Die Heeres¬<lb/> kritik, die heutzutage von gebildeten Laien geübt und von den gebildeten Ständen<lb/> des deutschen Volks genossen wird, zeigt das Vorhandensein dieser Krankheit<lb/> an und verbreitet sie zugleich weiter.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0314]
Schulhaß und Heeresscheu
denen man Pietüt und Feinheit des Empfindens, sittliche und künstlerische
Gewissenhaftigkeit, aber nicht dichterische Begabung und Schürfe des Ver¬
standes absprechen kann. Der jugendliche Freiheitsdrang ist bei den einen,
die Frohnatur bei andern, die Lust zu fabuliereu bei den meisten durch den
Ernst und den Zwang der Schule verletzt worden. Obwohl keiner von ihnen
in seiner Jugend auch „beim Elend in die Schule ging," sind sie einig in
der Verurteilung des Gymnasiums, Viel tiefer als diese immerhin wehrhaften
Naturen werden sein empfindende junge Leute, die wie jene mit künstlerischen
lind literarischen Neigungen „behaftet" sind, durch die Schule geschädigt. Ihnen
nimmt sie die Sonne aus der Jugend, wenn sie nicht ein freundliches Ge¬
schick in eine Unterrichtsanstalt führt, wo die geringe Schülerzahl den Lehrern
erlaubt, die Art jedes ihrer Schüler zu ergründen und zu berücksichtigen. Sie
gehn zugrunde, wenn nicht weise und wohlhabende Eltern sie dnrch Ordnung
ihrer Tätigkeit, Ausbildung ihrer Arbeitskraft und sorgfältige Pflege ihres
Körpers in dem Konflikte zwischen den strengen Forderungen der Schule und
der Sehnsucht nach freudiger Beendigung ihrer besondern Anlagen unterstützen.
Die höhere Schule greift mit großem Selbstbewußtsein tief in das Leben
des jungen Menschen und der Familie ein. Die Pflicht, die sie mit diesem
Eingriff auf sich nimmt, den Schüler allseitig zu bilden und an Geist und
Körper gekräftigt ans die Heerstraße des Lebens zu stellen, erfüllt sie nicht.
Indem sie ihre wahre Aufgabe, durch ein wohl crwognes nullum die ihr an¬
vertraute Jngend zu bilden und zu erziehn, vergißt und ein Vielerlei von Kennt¬
nissen dem jungen Geiste für das Leben mitzugeben versucht, schädigt sie die
Jugend an Leib und Seele. Ein körperlich schwacher Schüler wird in ihrem
Banne im besten Falle nicht kräftiger. Die Regel wird sein, daß er unter dem
stetigen Zwange zu freudloser Arbeit, der auch starke Naturen schädigt, und
unter der sich immer wieder erneuernden Furcht vor Probearbeiten unersetzliche
Verluste an Nervenkraft erleidet. Ein andrer, dessen schwacher Wille die trägen
Glieder seines gesunden Körpers nicht zu meistern vermag, wird diese Fähigkeit
auch nach seinem Abgang von der Schule entbehren. Ein ängstlicher Junge,
der das Schulgesetz, das Selbsthilfe streng untersagt, zu seinem Schaden gern
befolgt, wird sich schwerlich Hektor oder Achill zum Helden wählen, „dem er
die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet," sondern als Feigling die Schule
verlassen. Alle aber, der Schwache, der Truge und der Feige, werden eine
Gabe der Polyhistoreuschule mit ihren ohne das Verdienst der Schule an Körper
und Geist besser geratnen Kameraden gemein haben: den Wahn, durch den
dürftigen Niederschlag der multa, womit ihr Geist auf der Schule gequält
wordeu ist, zu eiuer scharfen Kritik aller Personen, Einrichtungen und Werke,
die vor ihre jungen Angen treten, berechtigt und berufen zu sein.
Dieser durch die Schule multiplizierte Charakterfehler wird im Bunde mit
den audern durch die Schule erzeugten oder nicht bekämpften oder gesteigerten
Schäden, die ich angedeutet habe, der Nährboden der Heeresschen. Die Heeres¬
kritik, die heutzutage von gebildeten Laien geübt und von den gebildeten Ständen
des deutschen Volks genossen wird, zeigt das Vorhandensein dieser Krankheit
an und verbreitet sie zugleich weiter.
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