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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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und führt so diese uralten Gaukelbilder, durch die der Menschheit ein Paradies
nicht bloß bei ihrem Eintritt in die Welt, sondern auch für deren Zukunft auf
diesem Planeten angedichtet wird, dem Unkundigen als völlig neue und ernst
zu nehmende Gesellschaftsformen vor. Solange solchen Ideen nur in den
Stndierstuben nachgehangen wird, wie bei Plcitos Republik und in Thomas
Morus Utopia, oder solange sie bloß den Romanschriftstellern Stoff liefern,
wie einem Campanella bei seiner civitas solis und einem Bellamy bei seinen
Rückblicken, so lange sind sie ja harmlos. Aber in der Sache liegt es, und
die Geschichte der Revolutionen, bei denen solche Ideen immer mehr oder
weniger die treibende Kraft gewesen sind, beweist es, daß sich diese Ideen,
wenn sie als Wahn die Massen erfassen, zu den schlimmsten Gefahren aus-
wachsen können.

Danach war für die Regierung und die Stände in Sachsen die Stellung
zur sozialen Bewegung gegeben: es galt alles zu fördern, was zur Hebung
der sozialen Lage des vierten Standes beitragen kann, dagegen aber auch mit
ebensolchen Nachdruck den unter der Form der Sozialdemokratie auftretenden
Bestrebungen nach Vernichtung der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung zugunsten eines bloßen Gesellschaftsphantoms entgegenzutreten. Eine
unparteiische Geschichte wird einmal, des sind wir gewiß, der Negierung und
den Ständen Sachsens das Zeugnis ausstellen, daß sie bestrebt gewesen sind,
nach Möglichkeit diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Über die praktische Durchführung dieser Stellung zu den beiden Fragen
durch die Regierung und die Stunde in Sachsen läßt sich im Nahmen dieser
Darlegungen selbstverständlich nur mit wenig Strichen berichten. Was der
Staat auf dem Wege der Gesetzgebung auf sozialem Gebiete zur Hebung des
vierten Standes beitragen konnte, beschränkt sich in Sachsen wie in allen
andern Einzelstaaten, nachdem alle wesentlichem Teile der sozialen Gesetze
gebung auf das Reich übergegangen sind, nur auf wenige Gebiete. In Frage
konnte hier nur die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Schule und des Steuer¬
wesens kommen, soweit diese die breiten Massen betreffen. Daß auf dem
Gebiete der Volksschule Sachsen in seinem Aufwand an der Spitze aller
deutschen Staaten steht, und daß die Leistungen der Volksschulen dieses Landes
dem entsprechen, ist schon betont worden. Was aber die Steuergesetzgebung
anlangt, so sind in Sachsen die untersten Klassen von der Einkommensteuer
überhaupt befreit, die darauffolgenden aber, in denen vorwiegend die ver¬
heirateten Arbeiter sind, nach der für die sächsische Einkommensteuer bestehenden
Progression oder richtiger Degression mit so niedrigen Sätzen belegt -- die
Einkommensteuer beträgt in der untersten Klasse nur den fünfundzwanzigsten
Teil der in den höchsten Klassen zu zahlenden Steuer --, daß von einer
großen Beschwerung der so Betroffnen nicht die Rede sein kann. Demnächst
kommt in Frage die Überwachung der Durchführung der Arbeiterschutzgesetz¬
gebung durch die Fabrik- und Gewerbeinspektoren. Hier hat sogar die Sozial¬
demokratie bei aller ihrer Skrupellosigkcit in der Erhebung von Vorwürfen
mehr als einmal anerkennen müssen, daß diese Überwachung mit peinlicher
Gewissenhaftigkeit geschieht, ja es wird bei der Tätigkeit der Fabrikinspektoren


Grenzboten II 1905 38
saxonica

und führt so diese uralten Gaukelbilder, durch die der Menschheit ein Paradies
nicht bloß bei ihrem Eintritt in die Welt, sondern auch für deren Zukunft auf
diesem Planeten angedichtet wird, dem Unkundigen als völlig neue und ernst
zu nehmende Gesellschaftsformen vor. Solange solchen Ideen nur in den
Stndierstuben nachgehangen wird, wie bei Plcitos Republik und in Thomas
Morus Utopia, oder solange sie bloß den Romanschriftstellern Stoff liefern,
wie einem Campanella bei seiner civitas solis und einem Bellamy bei seinen
Rückblicken, so lange sind sie ja harmlos. Aber in der Sache liegt es, und
die Geschichte der Revolutionen, bei denen solche Ideen immer mehr oder
weniger die treibende Kraft gewesen sind, beweist es, daß sich diese Ideen,
wenn sie als Wahn die Massen erfassen, zu den schlimmsten Gefahren aus-
wachsen können.

Danach war für die Regierung und die Stände in Sachsen die Stellung
zur sozialen Bewegung gegeben: es galt alles zu fördern, was zur Hebung
der sozialen Lage des vierten Standes beitragen kann, dagegen aber auch mit
ebensolchen Nachdruck den unter der Form der Sozialdemokratie auftretenden
Bestrebungen nach Vernichtung der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung zugunsten eines bloßen Gesellschaftsphantoms entgegenzutreten. Eine
unparteiische Geschichte wird einmal, des sind wir gewiß, der Negierung und
den Ständen Sachsens das Zeugnis ausstellen, daß sie bestrebt gewesen sind,
nach Möglichkeit diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Über die praktische Durchführung dieser Stellung zu den beiden Fragen
durch die Regierung und die Stunde in Sachsen läßt sich im Nahmen dieser
Darlegungen selbstverständlich nur mit wenig Strichen berichten. Was der
Staat auf dem Wege der Gesetzgebung auf sozialem Gebiete zur Hebung des
vierten Standes beitragen konnte, beschränkt sich in Sachsen wie in allen
andern Einzelstaaten, nachdem alle wesentlichem Teile der sozialen Gesetze
gebung auf das Reich übergegangen sind, nur auf wenige Gebiete. In Frage
konnte hier nur die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Schule und des Steuer¬
wesens kommen, soweit diese die breiten Massen betreffen. Daß auf dem
Gebiete der Volksschule Sachsen in seinem Aufwand an der Spitze aller
deutschen Staaten steht, und daß die Leistungen der Volksschulen dieses Landes
dem entsprechen, ist schon betont worden. Was aber die Steuergesetzgebung
anlangt, so sind in Sachsen die untersten Klassen von der Einkommensteuer
überhaupt befreit, die darauffolgenden aber, in denen vorwiegend die ver¬
heirateten Arbeiter sind, nach der für die sächsische Einkommensteuer bestehenden
Progression oder richtiger Degression mit so niedrigen Sätzen belegt — die
Einkommensteuer beträgt in der untersten Klasse nur den fünfundzwanzigsten
Teil der in den höchsten Klassen zu zahlenden Steuer —, daß von einer
großen Beschwerung der so Betroffnen nicht die Rede sein kann. Demnächst
kommt in Frage die Überwachung der Durchführung der Arbeiterschutzgesetz¬
gebung durch die Fabrik- und Gewerbeinspektoren. Hier hat sogar die Sozial¬
demokratie bei aller ihrer Skrupellosigkcit in der Erhebung von Vorwürfen
mehr als einmal anerkennen müssen, daß diese Überwachung mit peinlicher
Gewissenhaftigkeit geschieht, ja es wird bei der Tätigkeit der Fabrikinspektoren


Grenzboten II 1905 38
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/301>, abgerufen am 05.02.2025.