Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches seinen Geschwadern eine wesentlich veränderte, auf die veränderte Lage berechnete Im Figaro hat Camille Pelletan das veränderte Anlehnungsbedürfnis Frank¬ Das Auftauchen des Stichwortes suoeossion ä^utriebv in der französischen und Maßgebliches und Unmaßgebliches seinen Geschwadern eine wesentlich veränderte, auf die veränderte Lage berechnete Im Figaro hat Camille Pelletan das veränderte Anlehnungsbedürfnis Frank¬ Das Auftauchen des Stichwortes suoeossion ä^utriebv in der französischen und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297418"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1311" prev="#ID_1310"> seinen Geschwadern eine wesentlich veränderte, auf die veränderte Lage berechnete<lb/> Dislokation anweisen. Als äußerer Ausdruck dieser neuen Situation werden im<lb/> Laufe des Jahres Flottenbesuche ausgetauscht werden; ein englisches Geschwader ist<lb/> in Brest angekündigt, ein französisches soll zur großen Regattawoche nach Osborne<lb/> kommen, König Eduard nimmt auf seiner Frühjahrsfahrt zweimal den Weg über<lb/> Paris. Das alles ist schon oft dagewesen. Unter Louis Philipp wie unter<lb/> Napoleon dem Dritten haben wir englisch-französische Flottenvcrbrüderungen, gegen¬<lb/> seitige Besuche der Höfe, 1854 sogar eine Kriegsallinnz beider Mächte gegen Ru߬<lb/> land gehabt. Uns Deutsche können diese Austausche von Höflichkeiten ebenso kalt<lb/> lassen wie vor fünfzig und vor siebzig Jahren, wo sie an der Tagesordnung waren.<lb/> Sie werden jetzt von französischer Seite betrieben, weil die Negierung der Republik<lb/> das erklärliche Bedürfnis hat, vor Frankreich in einer Glanzrolle und nach außen<lb/> nicht isoliert zu erscheinen. Gegenüber der Fortdauer des Dreibundes, den Lord<lb/> Salisbury einst mit so großer Freude begrüßte, bedarf Frankreich einer Anlehnung,<lb/> die, da Rußland sie gegenwärtig nicht bieten kann, bei England gesucht und von<lb/> diesem großmütig gewährt wird. Was könnte auch für die britischen Staatsmänner,<lb/> deren bedeutendster zweifellos der König selbst ist, angenehmer sein als ein ihnen<lb/> aus der Hand pickendes Frankreich, zumal angesichts der Schwierigkeiten, die auf<lb/> der Balkanhalbinsel noch der Lösung harren!</p><lb/> <p xml:id="ID_1312"> Im Figaro hat Camille Pelletan das veränderte Anlehnungsbedürfnis Frank¬<lb/> reichs jüngst unumwunden zugestanden. Die russische Allianz sei für Frankreich<lb/> verloren, sie bestehe nur noch auf dem Papier und sei keine Realität mehr. Ru߬<lb/> land habe sich selbst außerstand gesetzt, in nützlicher Weise in die europäischen Dinge<lb/> einzugreifen, und sich damit auch den eventuellen Verpflichtungen zum Beistand<lb/> entzogen, die der Daseinszweck des Bündnisses waren. Schon unterliege Frankreich<lb/> den Konsequenzen der neuen Lage; würde Deutschland eine solche Haltung an¬<lb/> genommen haben, wenn das französisch-russische Bündnis nicht seine ganze Trag¬<lb/> weite verloren hätte? Pelletan findet, daß es unter diesen Umständen „eine Tor¬<lb/> heit und ein Verbrechen zugleich" wäre, „sich auf ein marokkanisches Abenteuer<lb/> einzulassen." Aus demselben Grunde ist der Matin vom 21. April gegen „diese<lb/> Art von Abenteuern." Aber er hat noch einen zweiten Grund, dem wir in andern<lb/> französischen und englischen Stimmen zugleich begegnen: „An dem Tage, wo die<lb/> österreichische Erbschaft eröffnet sein wird, könnte es ernste Jnkonvenienzen<lb/> geben, wenn die französische Politik von Europa abwesend wäre, weil man sie auf<lb/> eine Vergnügungsreise nach Marokko geschickt hätte." In demselben Sinne schreibt<lb/> Coubertin, ein andrer Mitarbeiter des Figaro: „. . . Deutschland richtet sich vor<lb/> uns ans, nicht auf unserm afrikanischen, sondern auf unserm europäischen Wege.<lb/> Es fragt uns, ob wir mit dem Hintergedanken einer Intervention bei Ausbruch<lb/> der österreichischen Erbfolgewirren an der Abwendung Italiens vom Drei¬<lb/> bunde und an der Gewinnung der Freundschaft Englands arbeiten ..."<lb/> '</p><lb/> <p xml:id="ID_1313" next="#ID_1314"> Das Auftauchen des Stichwortes suoeossion ä^utriebv in der französischen und<lb/> in einem Teile der englischen und der italienischen Presse zu derselben Zeit ist<lb/> gewiß kein Zufall. Es verstärkt die auch sonst vorliegenden Beweise, daß auch in<lb/> diplomatischen und andern staatsmännischen Kreisen des Auslandes der Gedanke an<lb/> den „Zerfall Österreichs" zu einem festen Bestandteil der politischen Berechnung<lb/> geworden ist. Gewiß ist der Wunsch der Vater auch dieses Gedankens, daneben<lb/> aber die Besorgnis, daß Deutschland bei diesem „Zerfall" einen großen Rausch zu<lb/> machen beabsichtige, was durch eine europäische Koalition verhindert werden müsse.<lb/> Diese Koalition soll zunächst eine französisch-italienische sein, gestützt auf Rußland<lb/> und England. Daher das Mißvergnügen darüber, daß Rußland zurzeit für<lb/> solche europäische Zwecke nicht abkömmlich ist, und daher auch die Sorge, daß<lb/> sich Frankreich zu dieser Zeit nicht außerhalb Europas, auf der marokkanischen<lb/> Vergnügungsreise, befinden dürfe. Eines Tages werden wir noch erfahren, daß<lb/> Deutschland Herrn DeKafs? zu seiner marokkanischen Politik verleitet und verführt</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
seinen Geschwadern eine wesentlich veränderte, auf die veränderte Lage berechnete
Dislokation anweisen. Als äußerer Ausdruck dieser neuen Situation werden im
Laufe des Jahres Flottenbesuche ausgetauscht werden; ein englisches Geschwader ist
in Brest angekündigt, ein französisches soll zur großen Regattawoche nach Osborne
kommen, König Eduard nimmt auf seiner Frühjahrsfahrt zweimal den Weg über
Paris. Das alles ist schon oft dagewesen. Unter Louis Philipp wie unter
Napoleon dem Dritten haben wir englisch-französische Flottenvcrbrüderungen, gegen¬
seitige Besuche der Höfe, 1854 sogar eine Kriegsallinnz beider Mächte gegen Ru߬
land gehabt. Uns Deutsche können diese Austausche von Höflichkeiten ebenso kalt
lassen wie vor fünfzig und vor siebzig Jahren, wo sie an der Tagesordnung waren.
Sie werden jetzt von französischer Seite betrieben, weil die Negierung der Republik
das erklärliche Bedürfnis hat, vor Frankreich in einer Glanzrolle und nach außen
nicht isoliert zu erscheinen. Gegenüber der Fortdauer des Dreibundes, den Lord
Salisbury einst mit so großer Freude begrüßte, bedarf Frankreich einer Anlehnung,
die, da Rußland sie gegenwärtig nicht bieten kann, bei England gesucht und von
diesem großmütig gewährt wird. Was könnte auch für die britischen Staatsmänner,
deren bedeutendster zweifellos der König selbst ist, angenehmer sein als ein ihnen
aus der Hand pickendes Frankreich, zumal angesichts der Schwierigkeiten, die auf
der Balkanhalbinsel noch der Lösung harren!
Im Figaro hat Camille Pelletan das veränderte Anlehnungsbedürfnis Frank¬
reichs jüngst unumwunden zugestanden. Die russische Allianz sei für Frankreich
verloren, sie bestehe nur noch auf dem Papier und sei keine Realität mehr. Ru߬
land habe sich selbst außerstand gesetzt, in nützlicher Weise in die europäischen Dinge
einzugreifen, und sich damit auch den eventuellen Verpflichtungen zum Beistand
entzogen, die der Daseinszweck des Bündnisses waren. Schon unterliege Frankreich
den Konsequenzen der neuen Lage; würde Deutschland eine solche Haltung an¬
genommen haben, wenn das französisch-russische Bündnis nicht seine ganze Trag¬
weite verloren hätte? Pelletan findet, daß es unter diesen Umständen „eine Tor¬
heit und ein Verbrechen zugleich" wäre, „sich auf ein marokkanisches Abenteuer
einzulassen." Aus demselben Grunde ist der Matin vom 21. April gegen „diese
Art von Abenteuern." Aber er hat noch einen zweiten Grund, dem wir in andern
französischen und englischen Stimmen zugleich begegnen: „An dem Tage, wo die
österreichische Erbschaft eröffnet sein wird, könnte es ernste Jnkonvenienzen
geben, wenn die französische Politik von Europa abwesend wäre, weil man sie auf
eine Vergnügungsreise nach Marokko geschickt hätte." In demselben Sinne schreibt
Coubertin, ein andrer Mitarbeiter des Figaro: „. . . Deutschland richtet sich vor
uns ans, nicht auf unserm afrikanischen, sondern auf unserm europäischen Wege.
Es fragt uns, ob wir mit dem Hintergedanken einer Intervention bei Ausbruch
der österreichischen Erbfolgewirren an der Abwendung Italiens vom Drei¬
bunde und an der Gewinnung der Freundschaft Englands arbeiten ..."
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Das Auftauchen des Stichwortes suoeossion ä^utriebv in der französischen und
in einem Teile der englischen und der italienischen Presse zu derselben Zeit ist
gewiß kein Zufall. Es verstärkt die auch sonst vorliegenden Beweise, daß auch in
diplomatischen und andern staatsmännischen Kreisen des Auslandes der Gedanke an
den „Zerfall Österreichs" zu einem festen Bestandteil der politischen Berechnung
geworden ist. Gewiß ist der Wunsch der Vater auch dieses Gedankens, daneben
aber die Besorgnis, daß Deutschland bei diesem „Zerfall" einen großen Rausch zu
machen beabsichtige, was durch eine europäische Koalition verhindert werden müsse.
Diese Koalition soll zunächst eine französisch-italienische sein, gestützt auf Rußland
und England. Daher das Mißvergnügen darüber, daß Rußland zurzeit für
solche europäische Zwecke nicht abkömmlich ist, und daher auch die Sorge, daß
sich Frankreich zu dieser Zeit nicht außerhalb Europas, auf der marokkanischen
Vergnügungsreise, befinden dürfe. Eines Tages werden wir noch erfahren, daß
Deutschland Herrn DeKafs? zu seiner marokkanischen Politik verleitet und verführt
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