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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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gegenüber verteidigt, ist nicht Sinnenlust, sondern eine Lust am Guten, an der
die veredelte Sinnlichkeit teilnimmt, anstatt ihr zu widerstreben. Vom Sinnen-
gennsz zu befreien, ist nach ihm der Zweck der ästhetischen Frende an? schönen
Sch

W°in ihr schon auf Erden Göttern Wichen.
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Frucht!
An dein Scheine mag der Blick sich weiden;
Des Genusses wandelbare Freuden
Rachel schleunig der Begierde Flucht,
mu


Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Göttlich unter Göttern die Gestalt.

Schiller war, wie sein Leben beweist, ein heroischer Charakter, ein Held
und ein Märtyrer, der sich im Dienst seiner Ideale aufgerieben hat, und was
Übelwollende seine Rhetorik nennen, das war, wie Fischer richtig bemerkt, nur
der sprachliche Ausdruck seiner heroischen Gesinnung und der ans dieser quel¬
lenden echten Begeisterung. Im "Riesenkampf der Pflicht" hat er sich zu der
Erkenntnis durchgerungen, daß zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden dem
Menschen nur die bange Wahl bleibt. Neben das Schöne hat er das Erhabne,
neben die Anmut die Würde als seine Gottheiten gestellt, und um die sittliche
Würde uicht durch selbstsüchtige Motive zu verunreinigen -- nichts entrüstete
ihn mehr, als wenn behauptet wurde, es gebe keine uneigennützige Liebe --,
leugnete er zeitweise das persönliche Fortleben der Seele nach dem Tode. "Auf
den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der
Gegenwart, in welche die bloße Tierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer
unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden Ima¬
gination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört im Einzelnen
zu leben und dem Augenblick zu dienen. . . . Die ersten Früchte, die er in dem
Geisterreich erntet, sind also Sorge und Furcht; beides Wirkungen der Vernunft,
aber einer Vernunft, die sich in ihrem Gegenstand vergreift und ihren Imperativ
unmittelbar auf den Stoff anwendet. Früchte dieses Baumes sind alle unbe¬
dingten Glückseligkeitsysteme, sie mögen den heutigen Tag oder das ganze Leben
oder, was sie um nichts ehrwürdiger macht, die ganze Ewigkeit zu ihrem Gegen¬
stand haben. Eine grenzenlose Dauer des Daseins und Wohlseins, bloß um
des Daseins und Wohlseins willen, ist bloß ein Ideal der Begierde, mithin
eine Forderung, die nur von einer in das Absolute strebenden Tierheit kann
aufgeworfen werden." Daß die Schönheit auch Verführerin zum Bösen werden
könne, leugnet er durchaus uicht. Ausdrücklich hebt er hervor, daß das ästhetisch
berechtigte Wohlgefallen, das ein Verbrecher durch seine Kraft und durch die
Zweckmäßigkeit seines verbrecherischen Planes erweckt, die sittliche Empfindung
schwächen könne, und daß es viele gibt, "die selbst vor einem Verbrechen nicht
erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal


Grenzboten II 1905 32

gegenüber verteidigt, ist nicht Sinnenlust, sondern eine Lust am Guten, an der
die veredelte Sinnlichkeit teilnimmt, anstatt ihr zu widerstreben. Vom Sinnen-
gennsz zu befreien, ist nach ihm der Zweck der ästhetischen Frende an? schönen
Sch

W°in ihr schon auf Erden Göttern Wichen.
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Frucht!
An dein Scheine mag der Blick sich weiden;
Des Genusses wandelbare Freuden
Rachel schleunig der Begierde Flucht,
mu


Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Göttlich unter Göttern die Gestalt.

Schiller war, wie sein Leben beweist, ein heroischer Charakter, ein Held
und ein Märtyrer, der sich im Dienst seiner Ideale aufgerieben hat, und was
Übelwollende seine Rhetorik nennen, das war, wie Fischer richtig bemerkt, nur
der sprachliche Ausdruck seiner heroischen Gesinnung und der ans dieser quel¬
lenden echten Begeisterung. Im „Riesenkampf der Pflicht" hat er sich zu der
Erkenntnis durchgerungen, daß zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden dem
Menschen nur die bange Wahl bleibt. Neben das Schöne hat er das Erhabne,
neben die Anmut die Würde als seine Gottheiten gestellt, und um die sittliche
Würde uicht durch selbstsüchtige Motive zu verunreinigen — nichts entrüstete
ihn mehr, als wenn behauptet wurde, es gebe keine uneigennützige Liebe —,
leugnete er zeitweise das persönliche Fortleben der Seele nach dem Tode. „Auf
den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der
Gegenwart, in welche die bloße Tierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer
unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden Ima¬
gination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört im Einzelnen
zu leben und dem Augenblick zu dienen. . . . Die ersten Früchte, die er in dem
Geisterreich erntet, sind also Sorge und Furcht; beides Wirkungen der Vernunft,
aber einer Vernunft, die sich in ihrem Gegenstand vergreift und ihren Imperativ
unmittelbar auf den Stoff anwendet. Früchte dieses Baumes sind alle unbe¬
dingten Glückseligkeitsysteme, sie mögen den heutigen Tag oder das ganze Leben
oder, was sie um nichts ehrwürdiger macht, die ganze Ewigkeit zu ihrem Gegen¬
stand haben. Eine grenzenlose Dauer des Daseins und Wohlseins, bloß um
des Daseins und Wohlseins willen, ist bloß ein Ideal der Begierde, mithin
eine Forderung, die nur von einer in das Absolute strebenden Tierheit kann
aufgeworfen werden." Daß die Schönheit auch Verführerin zum Bösen werden
könne, leugnet er durchaus uicht. Ausdrücklich hebt er hervor, daß das ästhetisch
berechtigte Wohlgefallen, das ein Verbrecher durch seine Kraft und durch die
Zweckmäßigkeit seines verbrecherischen Planes erweckt, die sittliche Empfindung
schwächen könne, und daß es viele gibt, „die selbst vor einem Verbrechen nicht
erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/253>, abgerufen am 06.02.2025.