Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Amerikanische Strafrechtspflege den alten Ländern das Familienleben wie das öffentliche Leben beherrscht. Dieser Art Leben hat sich auch die Justiz angepaßt. Zwar die Zivil¬ Amerikanische Strafrechtspflege den alten Ländern das Familienleben wie das öffentliche Leben beherrscht. Dieser Art Leben hat sich auch die Justiz angepaßt. Zwar die Zivil¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0203" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297335"/> <fw type="header" place="top"> Amerikanische Strafrechtspflege</fw><lb/> <p xml:id="ID_894" prev="#ID_893"> den alten Ländern das Familienleben wie das öffentliche Leben beherrscht.<lb/> Uralte Traditionen, der Bureaukratismus und die religiösen Vorstellungen<lb/> von Schuld und Sühne haben die Zwangsgewohnheiten zum System aus¬<lb/> gebildet und befestigt. Von alledem ist Nordamerika frei. Darum wachsen<lb/> drüben die Kinder frei auf. Man läßt sie tun, was sie wollen, und sich beim<lb/> Heranwachsen selbst in die Gesellschaftsordnung hineinfinden, was ihnen sehr<lb/> leicht fällt.</p><lb/> <p xml:id="ID_895" next="#ID_896"> Dieser Art Leben hat sich auch die Justiz angepaßt. Zwar die Zivil¬<lb/> rechtspflege erscheint nicht besonders ideal; Rechtsanwälte wie die von Chicago,<lb/> die die Leute in Prozesse hineinsetzen und diese dann mit ein bißchen Ur¬<lb/> kundenfälschung durchführen, möchten wir uns doch nicht wünschen. Aber die<lb/> Strafrechtspflege, um deren Studium es Hintrager vorzugsweise zu tun war,<lb/> ist ungefähr das, was uns Deutschen vorschwebt, wenn wir eine Reform<lb/> wünschen. Ein paar Bruchstücke von dem, was er drüben gesehen hat, werden<lb/> die Sache besser klar machen, als es eine theoretische Auseinandersetzung<lb/> könnte. Im Gerichtshof für kleine Sachen handelt und entscheidet ein Einzel¬<lb/> richter, der in Newhork 7500 Dollars Gehalt bezieht. In den Sitzungen,<lb/> die unser Autor besuchte, war es ein Deutscher namens Kudlich. Ein alter<lb/> Mann ist des Nachts betrunken auf der Straße verhaftet worden. Er bittet:<lb/> „Ach, geben Sie mir noch einmal g. onimos." Der Richter fragt, ob er Frau<lb/> und Kinder habe; er hat sie. Kudlich läßt ihn mit ernstlicher Ermahnung<lb/> frei ausgehn, denn, sagt er zu Hintrager, sperre ich ihn ein, so sind ja nur<lb/> die Frau und die Kinder gestraft. Eine Frau klagt, ihr Mann gebe ihr nicht<lb/> das Nötige zum Unterhalt. Sie selbst verdient drei Dollars die Woche. Kudlich<lb/> sagt dem Manne: Du hast wöchentlich drei Dollars dem Vorstand des städtischen<lb/> Wohltütigkeitsnmtcs abzuliefern; bei diesem mag es sich die Frau holen. Ein<lb/> Mann, der seine Frau geschlagen hat, muß zwanzig Dollars zahlen und zwei¬<lb/> hundert Dollars auf sechs Monate als Bürgschaft hinterlegen; schlägt er sie in<lb/> dieser Zeit noch einmal, so verfällt die Summe. Ein Franzose hat Damen durch<lb/> Blicke belästigt. Der Richter sagt ihm: „Diesesmal will ich Sie noch frei aus¬<lb/> gehn lassen; das nächstemal bestrafe ich Sie." Ein zigeunerhaftes Mädel redet<lb/> er an: „Wo kommen Sie schon wieder her, Mary?" „Grade vom Himmel<lb/> runter auf einem Regenbogen gerutscht." „Da werden Sie sich Splitter ein¬<lb/> gerissen haben; damit Sie Zeit haben, sie wieder herauszukriegen, gebe ich<lb/> Ihnen sechs Monate." Ein Polizist bringt ein Ehepaar, das durch einen<lb/> Wortwechsel auf der Straße die nächtliche Ruhe gestört habe. Der Richter<lb/> entläßt es und sagt zu dem Polizisten: „Sie bringen mir immer Leute, die<lb/> keine wirklich strafbare Handlung begangen haben; Sie scheinen Ihr Amt ver¬<lb/> lieren zu wollen." Zwei Frauen erscheinen, zum Ergötzen des Publikums<lb/> kreischend und zankend. Jede wirft der andern so viel Arkaden vor, daß ein<lb/> deutscher Amtsrichter mehrere Tage damit zu tun hätte. Kudlich entscheidet,<lb/> ohne auf ihr Gewäsch einzugehn: „Jede zahlt zehn Dollars. Nun halten<lb/> Sie den Mund und gehn Sie!" Ein vierzehnjähriger Taschendieb gesteht,<lb/> Wie der Polizist angibt, seine Missetat. „Ja, Junge, was soll ich mit dir<lb/> "«fangen?" spricht der Richter. Da tritt ein Beamter einer Wohltätigkeits-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0203]
Amerikanische Strafrechtspflege
den alten Ländern das Familienleben wie das öffentliche Leben beherrscht.
Uralte Traditionen, der Bureaukratismus und die religiösen Vorstellungen
von Schuld und Sühne haben die Zwangsgewohnheiten zum System aus¬
gebildet und befestigt. Von alledem ist Nordamerika frei. Darum wachsen
drüben die Kinder frei auf. Man läßt sie tun, was sie wollen, und sich beim
Heranwachsen selbst in die Gesellschaftsordnung hineinfinden, was ihnen sehr
leicht fällt.
Dieser Art Leben hat sich auch die Justiz angepaßt. Zwar die Zivil¬
rechtspflege erscheint nicht besonders ideal; Rechtsanwälte wie die von Chicago,
die die Leute in Prozesse hineinsetzen und diese dann mit ein bißchen Ur¬
kundenfälschung durchführen, möchten wir uns doch nicht wünschen. Aber die
Strafrechtspflege, um deren Studium es Hintrager vorzugsweise zu tun war,
ist ungefähr das, was uns Deutschen vorschwebt, wenn wir eine Reform
wünschen. Ein paar Bruchstücke von dem, was er drüben gesehen hat, werden
die Sache besser klar machen, als es eine theoretische Auseinandersetzung
könnte. Im Gerichtshof für kleine Sachen handelt und entscheidet ein Einzel¬
richter, der in Newhork 7500 Dollars Gehalt bezieht. In den Sitzungen,
die unser Autor besuchte, war es ein Deutscher namens Kudlich. Ein alter
Mann ist des Nachts betrunken auf der Straße verhaftet worden. Er bittet:
„Ach, geben Sie mir noch einmal g. onimos." Der Richter fragt, ob er Frau
und Kinder habe; er hat sie. Kudlich läßt ihn mit ernstlicher Ermahnung
frei ausgehn, denn, sagt er zu Hintrager, sperre ich ihn ein, so sind ja nur
die Frau und die Kinder gestraft. Eine Frau klagt, ihr Mann gebe ihr nicht
das Nötige zum Unterhalt. Sie selbst verdient drei Dollars die Woche. Kudlich
sagt dem Manne: Du hast wöchentlich drei Dollars dem Vorstand des städtischen
Wohltütigkeitsnmtcs abzuliefern; bei diesem mag es sich die Frau holen. Ein
Mann, der seine Frau geschlagen hat, muß zwanzig Dollars zahlen und zwei¬
hundert Dollars auf sechs Monate als Bürgschaft hinterlegen; schlägt er sie in
dieser Zeit noch einmal, so verfällt die Summe. Ein Franzose hat Damen durch
Blicke belästigt. Der Richter sagt ihm: „Diesesmal will ich Sie noch frei aus¬
gehn lassen; das nächstemal bestrafe ich Sie." Ein zigeunerhaftes Mädel redet
er an: „Wo kommen Sie schon wieder her, Mary?" „Grade vom Himmel
runter auf einem Regenbogen gerutscht." „Da werden Sie sich Splitter ein¬
gerissen haben; damit Sie Zeit haben, sie wieder herauszukriegen, gebe ich
Ihnen sechs Monate." Ein Polizist bringt ein Ehepaar, das durch einen
Wortwechsel auf der Straße die nächtliche Ruhe gestört habe. Der Richter
entläßt es und sagt zu dem Polizisten: „Sie bringen mir immer Leute, die
keine wirklich strafbare Handlung begangen haben; Sie scheinen Ihr Amt ver¬
lieren zu wollen." Zwei Frauen erscheinen, zum Ergötzen des Publikums
kreischend und zankend. Jede wirft der andern so viel Arkaden vor, daß ein
deutscher Amtsrichter mehrere Tage damit zu tun hätte. Kudlich entscheidet,
ohne auf ihr Gewäsch einzugehn: „Jede zahlt zehn Dollars. Nun halten
Sie den Mund und gehn Sie!" Ein vierzehnjähriger Taschendieb gesteht,
Wie der Polizist angibt, seine Missetat. „Ja, Junge, was soll ich mit dir
"«fangen?" spricht der Richter. Da tritt ein Beamter einer Wohltätigkeits-
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