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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Herrschaft das Ende jeder Kultur, das Aufhören jeder nationalen Existenz, verbunden
mit allen Schreckenstaten, wie sie seit Monaten aus Rußland täglich gemeldet werden,
und damit auch unvermeidlich jedes Erlöschen von Treu und Glauben, von Pietät
und Anhänglichkeit, von Pflicht und Ehre wäre -- beginnt verloren zu gehn oder
ist schon vielen verloren gegangen. Wohl mag der Umstand mit daran schuld sein,
daß, wie in frühern Heften der Grenzboten dargetan worden ist, die Praxis unsrer
Gerichte gegenüber den sozialdemokratischen Ausschreitungen in der Presse, in Reden
und Versammlungen seit einer Reihe von Jahren viel zu milde geworden ist,
sodaß es kein Wunder ist, wenn sich die Empfindung für die Unterschiede von Gesetz¬
mäßigkeit und Gesetzlosigkeit in den breitern Sclüchten mehr und mehr verflüchtigt
hat. Ausschreitungen, die tagtäglich straflos bleiben, erscheinen mit der Zeit auch
dem Publikum nicht mehr als solche, und man hat sich schon daran gewöhnt, ruhig
zuzusehen, wie die sozialdemokratijche Hochflut die Dämme weiter und weiter zersetzt
und abspült, die heute noch zum Schutze gegen sie vorhanden sind.

Wir nähern uns damit einem Zustande der Geister, wie er sich in andern
Ländern vor großen geschichtlichen Katastrophen eingestellt hat. Unsre bürgerlichen
Parteien scheinen ihre Kraft mit der Erreichung ihrer alten politischen und natio¬
nalen Wünsche, dem Aufbau und Ausbau des Reichs, erschöpft zu haben. Sie
wenden sich seit mehr als einem Jahrzehnt nur noch der Pflege ihrer wirtschaft¬
lichen Interessen zu und befehden einander viel schärfer als die Sozialdemokratie.
Wenn Bismarck einmal sagte, er habe sich zu einer Kolonialpolitik wesentlich mit
aus dem Grunde entschlossen, dem deutschen Volke wieder ideale Ziele zu geben,
so beweist schon allein die Tatsache, daß sich mit sehr geringen Ausnahmen das
Großkapital und die großen Vermögen von jeder Beteiligung an der Entwicklung
unsrer Kolonien fernhalten, daß die Kreise, die die Kolonialpolitik als ein ideales
Ziel in sich aufgenommen haben, bei weitem nicht den Umfang erreichen, der
dazu nötig wäre, eine Nation mit vollem Ernst und ganzer Hingebung für eine
politische Aufgabe zu erfüllen. Zolltciriffrngen, Börsengesetze und die damit zu¬
sammenhängenden tiefen Gegensätze zwischen landwirtschaftlichen und Handelsinter¬
essen okkupieren die politische Arbeit unsrer bürgerlichen Parteien fast allein,
und es hat sich daraus ein Sorgen für die Gegenwart unter Verzicht auf jede
Fürsorge für eine fernere Zukunft entwickelt. Man hat in Deutschland oft genug
den Engländern ihren Krämerstandpunkt vorgeworfen, sie die Krämernation ge¬
scholten; diese Krämernation hat aber sehr viel mehr große Eigenschaften entwickelt
als die deutsche und hat sich in großartiger Weise als viel weiter in die Zukunft
schauend erwiesen als irgendein andres Volk. Es liegt in dieser vorschauenden Politik
der Krämernalion ein großartiger Idealismus, ein so fester Glaube an die Zukunft
des britischen Volkes, an seine Kraft, sich durchzusetzen und sich zu behaupten, daß
wir uns Deutschen nur wünschen könnten, diese Eigenschaft wäre auch nur zu einem
Bruchteil so sehr Gemeingut unsers Volkes, wie es in England der Fall ist. Wir
sind auf dem besten Wege, uns von der Krämernation nur die abstoßenden Züge
anzueignen, aber die wirklich großen, ans denen das Schicksal Großbritanniens und
seine Weltstellung beruht, nicht anzuerkennen oder nicht zu verstehn.

Die Zahl der Männer in Deutschland, deren Blick und Einsicht als den Eng¬
ländern ebenbürtig zu betrachten wäre, ist nicht nur sehr gering, sondern ihre
Betätigung hat auch noch mit einer Summe von Beschränktheit und Engherzig¬
keit, nicht nur unsrer politischen Parteien, sondern weiter Berufskreise zu rechnen,
daß man sich nicht wundern darf, daß in Deutschland der Zug zur Größe, der
uns über die Jahre 1866 und 1870 hinübergetragen hat, allmählich erlischt und
verloren geht. Demgegenüber wird die Sozialdemokratie unstreitig von einem
Glauben an ihre selbst noch so fernen Ziele getragen, der, so bedauerlich die Sache
an sich sein mag, sie in eben dem Maße vorwärts führt, wie die bürgerlichen
Parteien bei dem Mangel an großen Zielen zurückbleiben. Das zunehmende Wachs-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Herrschaft das Ende jeder Kultur, das Aufhören jeder nationalen Existenz, verbunden
mit allen Schreckenstaten, wie sie seit Monaten aus Rußland täglich gemeldet werden,
und damit auch unvermeidlich jedes Erlöschen von Treu und Glauben, von Pietät
und Anhänglichkeit, von Pflicht und Ehre wäre — beginnt verloren zu gehn oder
ist schon vielen verloren gegangen. Wohl mag der Umstand mit daran schuld sein,
daß, wie in frühern Heften der Grenzboten dargetan worden ist, die Praxis unsrer
Gerichte gegenüber den sozialdemokratischen Ausschreitungen in der Presse, in Reden
und Versammlungen seit einer Reihe von Jahren viel zu milde geworden ist,
sodaß es kein Wunder ist, wenn sich die Empfindung für die Unterschiede von Gesetz¬
mäßigkeit und Gesetzlosigkeit in den breitern Sclüchten mehr und mehr verflüchtigt
hat. Ausschreitungen, die tagtäglich straflos bleiben, erscheinen mit der Zeit auch
dem Publikum nicht mehr als solche, und man hat sich schon daran gewöhnt, ruhig
zuzusehen, wie die sozialdemokratijche Hochflut die Dämme weiter und weiter zersetzt
und abspült, die heute noch zum Schutze gegen sie vorhanden sind.

Wir nähern uns damit einem Zustande der Geister, wie er sich in andern
Ländern vor großen geschichtlichen Katastrophen eingestellt hat. Unsre bürgerlichen
Parteien scheinen ihre Kraft mit der Erreichung ihrer alten politischen und natio¬
nalen Wünsche, dem Aufbau und Ausbau des Reichs, erschöpft zu haben. Sie
wenden sich seit mehr als einem Jahrzehnt nur noch der Pflege ihrer wirtschaft¬
lichen Interessen zu und befehden einander viel schärfer als die Sozialdemokratie.
Wenn Bismarck einmal sagte, er habe sich zu einer Kolonialpolitik wesentlich mit
aus dem Grunde entschlossen, dem deutschen Volke wieder ideale Ziele zu geben,
so beweist schon allein die Tatsache, daß sich mit sehr geringen Ausnahmen das
Großkapital und die großen Vermögen von jeder Beteiligung an der Entwicklung
unsrer Kolonien fernhalten, daß die Kreise, die die Kolonialpolitik als ein ideales
Ziel in sich aufgenommen haben, bei weitem nicht den Umfang erreichen, der
dazu nötig wäre, eine Nation mit vollem Ernst und ganzer Hingebung für eine
politische Aufgabe zu erfüllen. Zolltciriffrngen, Börsengesetze und die damit zu¬
sammenhängenden tiefen Gegensätze zwischen landwirtschaftlichen und Handelsinter¬
essen okkupieren die politische Arbeit unsrer bürgerlichen Parteien fast allein,
und es hat sich daraus ein Sorgen für die Gegenwart unter Verzicht auf jede
Fürsorge für eine fernere Zukunft entwickelt. Man hat in Deutschland oft genug
den Engländern ihren Krämerstandpunkt vorgeworfen, sie die Krämernation ge¬
scholten; diese Krämernation hat aber sehr viel mehr große Eigenschaften entwickelt
als die deutsche und hat sich in großartiger Weise als viel weiter in die Zukunft
schauend erwiesen als irgendein andres Volk. Es liegt in dieser vorschauenden Politik
der Krämernalion ein großartiger Idealismus, ein so fester Glaube an die Zukunft
des britischen Volkes, an seine Kraft, sich durchzusetzen und sich zu behaupten, daß
wir uns Deutschen nur wünschen könnten, diese Eigenschaft wäre auch nur zu einem
Bruchteil so sehr Gemeingut unsers Volkes, wie es in England der Fall ist. Wir
sind auf dem besten Wege, uns von der Krämernation nur die abstoßenden Züge
anzueignen, aber die wirklich großen, ans denen das Schicksal Großbritanniens und
seine Weltstellung beruht, nicht anzuerkennen oder nicht zu verstehn.

Die Zahl der Männer in Deutschland, deren Blick und Einsicht als den Eng¬
ländern ebenbürtig zu betrachten wäre, ist nicht nur sehr gering, sondern ihre
Betätigung hat auch noch mit einer Summe von Beschränktheit und Engherzig¬
keit, nicht nur unsrer politischen Parteien, sondern weiter Berufskreise zu rechnen,
daß man sich nicht wundern darf, daß in Deutschland der Zug zur Größe, der
uns über die Jahre 1866 und 1870 hinübergetragen hat, allmählich erlischt und
verloren geht. Demgegenüber wird die Sozialdemokratie unstreitig von einem
Glauben an ihre selbst noch so fernen Ziele getragen, der, so bedauerlich die Sache
an sich sein mag, sie in eben dem Maße vorwärts führt, wie die bürgerlichen
Parteien bei dem Mangel an großen Zielen zurückbleiben. Das zunehmende Wachs-


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[0685] Maßgebliches und Unmaßgebliches Herrschaft das Ende jeder Kultur, das Aufhören jeder nationalen Existenz, verbunden mit allen Schreckenstaten, wie sie seit Monaten aus Rußland täglich gemeldet werden, und damit auch unvermeidlich jedes Erlöschen von Treu und Glauben, von Pietät und Anhänglichkeit, von Pflicht und Ehre wäre — beginnt verloren zu gehn oder ist schon vielen verloren gegangen. Wohl mag der Umstand mit daran schuld sein, daß, wie in frühern Heften der Grenzboten dargetan worden ist, die Praxis unsrer Gerichte gegenüber den sozialdemokratischen Ausschreitungen in der Presse, in Reden und Versammlungen seit einer Reihe von Jahren viel zu milde geworden ist, sodaß es kein Wunder ist, wenn sich die Empfindung für die Unterschiede von Gesetz¬ mäßigkeit und Gesetzlosigkeit in den breitern Sclüchten mehr und mehr verflüchtigt hat. Ausschreitungen, die tagtäglich straflos bleiben, erscheinen mit der Zeit auch dem Publikum nicht mehr als solche, und man hat sich schon daran gewöhnt, ruhig zuzusehen, wie die sozialdemokratijche Hochflut die Dämme weiter und weiter zersetzt und abspült, die heute noch zum Schutze gegen sie vorhanden sind. Wir nähern uns damit einem Zustande der Geister, wie er sich in andern Ländern vor großen geschichtlichen Katastrophen eingestellt hat. Unsre bürgerlichen Parteien scheinen ihre Kraft mit der Erreichung ihrer alten politischen und natio¬ nalen Wünsche, dem Aufbau und Ausbau des Reichs, erschöpft zu haben. Sie wenden sich seit mehr als einem Jahrzehnt nur noch der Pflege ihrer wirtschaft¬ lichen Interessen zu und befehden einander viel schärfer als die Sozialdemokratie. Wenn Bismarck einmal sagte, er habe sich zu einer Kolonialpolitik wesentlich mit aus dem Grunde entschlossen, dem deutschen Volke wieder ideale Ziele zu geben, so beweist schon allein die Tatsache, daß sich mit sehr geringen Ausnahmen das Großkapital und die großen Vermögen von jeder Beteiligung an der Entwicklung unsrer Kolonien fernhalten, daß die Kreise, die die Kolonialpolitik als ein ideales Ziel in sich aufgenommen haben, bei weitem nicht den Umfang erreichen, der dazu nötig wäre, eine Nation mit vollem Ernst und ganzer Hingebung für eine politische Aufgabe zu erfüllen. Zolltciriffrngen, Börsengesetze und die damit zu¬ sammenhängenden tiefen Gegensätze zwischen landwirtschaftlichen und Handelsinter¬ essen okkupieren die politische Arbeit unsrer bürgerlichen Parteien fast allein, und es hat sich daraus ein Sorgen für die Gegenwart unter Verzicht auf jede Fürsorge für eine fernere Zukunft entwickelt. Man hat in Deutschland oft genug den Engländern ihren Krämerstandpunkt vorgeworfen, sie die Krämernation ge¬ scholten; diese Krämernation hat aber sehr viel mehr große Eigenschaften entwickelt als die deutsche und hat sich in großartiger Weise als viel weiter in die Zukunft schauend erwiesen als irgendein andres Volk. Es liegt in dieser vorschauenden Politik der Krämernalion ein großartiger Idealismus, ein so fester Glaube an die Zukunft des britischen Volkes, an seine Kraft, sich durchzusetzen und sich zu behaupten, daß wir uns Deutschen nur wünschen könnten, diese Eigenschaft wäre auch nur zu einem Bruchteil so sehr Gemeingut unsers Volkes, wie es in England der Fall ist. Wir sind auf dem besten Wege, uns von der Krämernation nur die abstoßenden Züge anzueignen, aber die wirklich großen, ans denen das Schicksal Großbritanniens und seine Weltstellung beruht, nicht anzuerkennen oder nicht zu verstehn. Die Zahl der Männer in Deutschland, deren Blick und Einsicht als den Eng¬ ländern ebenbürtig zu betrachten wäre, ist nicht nur sehr gering, sondern ihre Betätigung hat auch noch mit einer Summe von Beschränktheit und Engherzig¬ keit, nicht nur unsrer politischen Parteien, sondern weiter Berufskreise zu rechnen, daß man sich nicht wundern darf, daß in Deutschland der Zug zur Größe, der uns über die Jahre 1866 und 1870 hinübergetragen hat, allmählich erlischt und verloren geht. Demgegenüber wird die Sozialdemokratie unstreitig von einem Glauben an ihre selbst noch so fernen Ziele getragen, der, so bedauerlich die Sache an sich sein mag, sie in eben dem Maße vorwärts führt, wie die bürgerlichen Parteien bei dem Mangel an großen Zielen zurückbleiben. Das zunehmende Wachs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/685>, abgerufen am 15.01.2025.