Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches zuzuwenden. Der Abgeordnete von Richthofen leitete in der Sitzung vom 7. d, M. Ob solche Verbeugungen vor der sozialdemokratischen Rhetorik und solche Da aber die nötige Energie und das zwingende Interesse an den öffentlichen Maßgebliches und Unmaßgebliches zuzuwenden. Der Abgeordnete von Richthofen leitete in der Sitzung vom 7. d, M. Ob solche Verbeugungen vor der sozialdemokratischen Rhetorik und solche Da aber die nötige Energie und das zwingende Interesse an den öffentlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0684" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296695"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_3589" prev="#ID_3588"> zuzuwenden. Der Abgeordnete von Richthofen leitete in der Sitzung vom 7. d, M.<lb/> seine Rede mit der wiederholten Anerkennung des Rednergeschicks und des ora-<lb/> torischen Talents des Abgeordneten Bebel ein: „Der Abgeordnete Bebel ist selbst¬<lb/> verständlich ein ganz vorzüglicher Redner." Zwei Tage später folgte Bassermann,<lb/> der es ebenfalls nicht unterlassen konnte, Bebel als „einen hervorragend begabten<lb/> Mann" hinzustellen und die Lektüre des Vorwärts wegen des ausgezeichneten eng¬<lb/> lischen Korrespondenten zu empfehlen. Da solche Äußerungen doch nicht in den<lb/> vier Wänden des Reichstags bleiben, sondern von der Presse weitergetragen werden,<lb/> so dürfen sich die Herren von der Rechten und die Nationalliberalen nicht wundern,<lb/> wenn Bebel schließlich im ganzen Laibe als die bedeutendste und jedenfalls inter¬<lb/> essanteste Persönlichkeit des gesamten Reichstags angesehen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_3590"> Ob solche Verbeugungen vor der sozialdemokratischen Rhetorik und solche<lb/> Empfehlungen der sozialistischen Publizistik geeignet sind, die Sozialdemokratie mit<lb/> Erfolg zu bekämpfen, wird jedermann sich selbst beantworten können; jedenfalls<lb/> wäre es zur Bismarckischen Zeit nicht möglich gewesen, daß der sozialdemokratische<lb/> Führer mit solchen Ausdrücken anerkennender Bewunderung von den Führern der<lb/> bürgerlichen Parteien begrüßt worden wäre. Es ist das ein neuer Beweis dafür,<lb/> daß in unsern gebildeten Ständen das Gefühl für die Bedeutung und den Ernst<lb/> der sozialistischen Gefahr mehr und mehr verloren geht. Wohl ruft man bei jeder<lb/> Gelegenheit nach der Regierung, unter Umständen auch nach Ausnahmegesetzen und<lb/> andern Maßregeln. Aber selbst tun die bürgerlichen Parteien gar nichts, der Re¬<lb/> gierung den Kampf zu erleichtern, den sie bisher auf streng gesetzlichem Boden<lb/> durchzuführen versucht hat. Diese Aufgabe wird ihr täglich schwerer, sowohl da¬<lb/> durch, daß die Sozialdemokratie immer mehr einen revolutionären und gewalttätiger<lb/> Charakter annimmt, als auch dadurch, daß die bürgerlichen Parteien im großen und<lb/> ganzen fast vollständig versagen. Es war unter dem Eindruck dieser Tatsache, daß<lb/> jüngst ein hoher Militär im vertrauten Kreise seine Überzeugung dahin aussprach,<lb/> daß die Sozialdemokratie obsiegen werde, weil das bürgerliche Element in seinem<lb/> Widerstande fast vollständig erlahmt sei, und nicht viel anders sind Wohl auch die<lb/> Ermahnungen des Staatssekretärs Grafen Posadowsky zu verstehn, die ihm nament¬<lb/> lich bei den Konservativen so verübelt worden sind, und die doch nur derselben<lb/> Erwägung entsprungen waren. Es ist schon bei den Betrachtungen über die letzten<lb/> Reichstagswahlen zahlenmäßig nachgewiesen worden, daß die bürgerlichen Parteien<lb/> es vollständig in der Hand hätten, die Sozialdemokratie schon in der Wahlschlacht<lb/> zu überwinden und damit dem Reichstage ein ganz andres Aussehen und ein ganz<lb/> andres Ansehen zu geben.</p><lb/> <p xml:id="ID_3591" next="#ID_3592"> Da aber die nötige Energie und das zwingende Interesse an den öffentlichen<lb/> Angelegenheiten bei den bürgerlichen Parteien nicht hinreichend vorhanden ist, sind<lb/> die Folgen allerdings unausbleiblich, und längst liegen die Dinge doch so, daß es<lb/> für die Regierung völlig aussichtslos wäre, an den Reichstag mit Maßnahmen<lb/> gegen die Sozialdemokratie heranzutreten. Der Abgeordnete von Richthofen klagte<lb/> mit Recht darüber, daß er und Herr Bebel sich kaum noch untereinander ver¬<lb/> stünden, vielmehr gleichsam in fremden Zungen zueinander redeten. Je mehr das<lb/> aber tatsächlich der Fall ist, um so weniger Grund liegt doch wohl vor, diese<lb/> fremde Sprache Bebels der Öffentlichkeit auch noch mit voller Anerkennung seiner<lb/> Talente und seiner rhetorischen Begabung zu empfehlen. Unser Bürgertum hat<lb/> mit Ausnahme der industriellen Kreise, denen das sozialdemokratische Wasser schon<lb/> an den Hals geht, den Kampf verlernt, der ehemals mit fester, prinzipieller Über¬<lb/> zeugung und mit der ganzen Energie und Widerstandsfähigkeit einer solchen geführt<lb/> wurde. Unsre wissenschaftlichen Kreise sehen die Sozialdemokratie nur noch als<lb/> ein Problem der wissenschaftlichen Erforschung und Begründung an. Das Bewußtsein,<lb/> das ehedem die weitesten Schichten unsers Volkes durchdrang, daß die Sozialdemokratie<lb/> das volle Gegenteil der Freiheit des Individuums wie der Geister bedeute, daß ihre</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0684]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
zuzuwenden. Der Abgeordnete von Richthofen leitete in der Sitzung vom 7. d, M.
seine Rede mit der wiederholten Anerkennung des Rednergeschicks und des ora-
torischen Talents des Abgeordneten Bebel ein: „Der Abgeordnete Bebel ist selbst¬
verständlich ein ganz vorzüglicher Redner." Zwei Tage später folgte Bassermann,
der es ebenfalls nicht unterlassen konnte, Bebel als „einen hervorragend begabten
Mann" hinzustellen und die Lektüre des Vorwärts wegen des ausgezeichneten eng¬
lischen Korrespondenten zu empfehlen. Da solche Äußerungen doch nicht in den
vier Wänden des Reichstags bleiben, sondern von der Presse weitergetragen werden,
so dürfen sich die Herren von der Rechten und die Nationalliberalen nicht wundern,
wenn Bebel schließlich im ganzen Laibe als die bedeutendste und jedenfalls inter¬
essanteste Persönlichkeit des gesamten Reichstags angesehen wird.
Ob solche Verbeugungen vor der sozialdemokratischen Rhetorik und solche
Empfehlungen der sozialistischen Publizistik geeignet sind, die Sozialdemokratie mit
Erfolg zu bekämpfen, wird jedermann sich selbst beantworten können; jedenfalls
wäre es zur Bismarckischen Zeit nicht möglich gewesen, daß der sozialdemokratische
Führer mit solchen Ausdrücken anerkennender Bewunderung von den Führern der
bürgerlichen Parteien begrüßt worden wäre. Es ist das ein neuer Beweis dafür,
daß in unsern gebildeten Ständen das Gefühl für die Bedeutung und den Ernst
der sozialistischen Gefahr mehr und mehr verloren geht. Wohl ruft man bei jeder
Gelegenheit nach der Regierung, unter Umständen auch nach Ausnahmegesetzen und
andern Maßregeln. Aber selbst tun die bürgerlichen Parteien gar nichts, der Re¬
gierung den Kampf zu erleichtern, den sie bisher auf streng gesetzlichem Boden
durchzuführen versucht hat. Diese Aufgabe wird ihr täglich schwerer, sowohl da¬
durch, daß die Sozialdemokratie immer mehr einen revolutionären und gewalttätiger
Charakter annimmt, als auch dadurch, daß die bürgerlichen Parteien im großen und
ganzen fast vollständig versagen. Es war unter dem Eindruck dieser Tatsache, daß
jüngst ein hoher Militär im vertrauten Kreise seine Überzeugung dahin aussprach,
daß die Sozialdemokratie obsiegen werde, weil das bürgerliche Element in seinem
Widerstande fast vollständig erlahmt sei, und nicht viel anders sind Wohl auch die
Ermahnungen des Staatssekretärs Grafen Posadowsky zu verstehn, die ihm nament¬
lich bei den Konservativen so verübelt worden sind, und die doch nur derselben
Erwägung entsprungen waren. Es ist schon bei den Betrachtungen über die letzten
Reichstagswahlen zahlenmäßig nachgewiesen worden, daß die bürgerlichen Parteien
es vollständig in der Hand hätten, die Sozialdemokratie schon in der Wahlschlacht
zu überwinden und damit dem Reichstage ein ganz andres Aussehen und ein ganz
andres Ansehen zu geben.
Da aber die nötige Energie und das zwingende Interesse an den öffentlichen
Angelegenheiten bei den bürgerlichen Parteien nicht hinreichend vorhanden ist, sind
die Folgen allerdings unausbleiblich, und längst liegen die Dinge doch so, daß es
für die Regierung völlig aussichtslos wäre, an den Reichstag mit Maßnahmen
gegen die Sozialdemokratie heranzutreten. Der Abgeordnete von Richthofen klagte
mit Recht darüber, daß er und Herr Bebel sich kaum noch untereinander ver¬
stünden, vielmehr gleichsam in fremden Zungen zueinander redeten. Je mehr das
aber tatsächlich der Fall ist, um so weniger Grund liegt doch wohl vor, diese
fremde Sprache Bebels der Öffentlichkeit auch noch mit voller Anerkennung seiner
Talente und seiner rhetorischen Begabung zu empfehlen. Unser Bürgertum hat
mit Ausnahme der industriellen Kreise, denen das sozialdemokratische Wasser schon
an den Hals geht, den Kampf verlernt, der ehemals mit fester, prinzipieller Über¬
zeugung und mit der ganzen Energie und Widerstandsfähigkeit einer solchen geführt
wurde. Unsre wissenschaftlichen Kreise sehen die Sozialdemokratie nur noch als
ein Problem der wissenschaftlichen Erforschung und Begründung an. Das Bewußtsein,
das ehedem die weitesten Schichten unsers Volkes durchdrang, daß die Sozialdemokratie
das volle Gegenteil der Freiheit des Individuums wie der Geister bedeute, daß ihre
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