Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.von der Beichte muß als einem, der seinem Gegner eine Ohrfeige versetzt hat. das zu erkennen Und was hat die Kasuistik selbst beim Glauben des Priesters an sein Die ländliche Bevölkerung mag bei uns das Bedürfnis einer Reform des von der Beichte muß als einem, der seinem Gegner eine Ohrfeige versetzt hat. das zu erkennen Und was hat die Kasuistik selbst beim Glauben des Priesters an sein Die ländliche Bevölkerung mag bei uns das Bedürfnis einer Reform des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0661" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296672"/> <fw type="header" place="top"> von der Beichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_3360" prev="#ID_3359"> muß als einem, der seinem Gegner eine Ohrfeige versetzt hat. das zu erkennen<lb/> bedarf es keines Handbuchs der Kasuistik.</p><lb/> <p xml:id="ID_3361"> Und was hat die Kasuistik selbst beim Glauben des Priesters an sein<lb/> wider Matthäus 7, 1 angemaßtes Richteramt heute praktisch für einen Wert?<lb/> Abgesehen von den selten vorkommenden Reservatfällen (gewisse schwere Ver¬<lb/> brechen sind solche; schwere Verbrecher aber beichten höchstens im Zuchthause),<lb/> die einen Aufschub der Absolution fordern, werden alle ohne Unterschied sofort<lb/> absolviert und mit der Verpflichtung, ein paar Vaterunser zu beten, „bestraft."<lb/> Nur bei einer Klasse von „Sünderinnen" wird heute manchmal von dem ver¬<lb/> meintlichen Recht, Sünden zu behalten, Gebrauch gemacht: bei den in gemischter<lb/> Ehe lebenden Frauen, die um des ehelichen Friedens willen in die evangelische<lb/> Kindererziehung gewilligt haben. Ein verwerflicher Mißbrauch, der den häus¬<lb/> lichen wie den öffentlichen Frieden stört, die Gewissen verwirrt und fälscht,<lb/> ist also der einzige Gebrauch, der noch von der Kasuistik gemacht wird. Oder<lb/> heißt es nicht, den Christen ein irriges Gewissen beibringen, wenn sie eine<lb/> brave und tüchtige Frau, die ihre Kinder gut erzieht und nur aus zwingenden<lb/> Gründen gegen eine kirchliche Vorschrift verstößt, für ärger halten sollen als<lb/> einen Mörder? Dieser wird nach Einholung der Fakultas — Mord ist ein<lb/> Reservatfall — ohne Umstände absolviert. Gewiß kommt der Geistliche so<lb/> wenig ohne Kasuistik aus wie der Richter, nur braucht er sie nicht als Richter,<lb/> der er nicht ist, sondern als Morallehrer und Erzieher. Dem Kinde und dem<lb/> Volke müssen die Pflichten bekannt gemacht werden, die sie zu erfüllen, und<lb/> die Sünden, die sie zu meiden haben, sowohl der bürgerlichen Ordnung wegen<lb/> als um ihres eignen leiblichen und Seelenheils willen, denn ein ethisches<lb/> Genie, das von selbst seinen Weg zu Gott fände, ist doch nun einmal der<lb/> Durchschnittsmensch nicht; nicht zu reden davon, daß das ethische Genie am<lb/> Krenz, auf dem Scheiterhaufen oder dem Schafott, im Kerker zu enden pflegt.<lb/> Und dabei muß denn auch auf den Unterschied in der Schwere der Ver¬<lb/> schuldungen aufmerksam gemacht werden, nur daß die Einteilung in läßliche<lb/> und Todsünden zu verwerfen ist, weil niemand weiß, welche von seinen Mit¬<lb/> brüdern dem ewigen Tode verfallen sind. Aber der Beichtstuhl ist nicht der<lb/> Ort zu solcher Belehrung. Was alle brauchen, das kann nur in einem ordent¬<lb/> lichen Unterricht in der Schule und auf der Kanzel mitgeteilt werden, und<lb/> handelt es sich um Erörterung eines besondern Falles, um Rat in einer<lb/> schwierigen Lage, so ist das Wohn- oder das Amtszimmer des Geistlichen ein<lb/> viel geeigneterer Ort dazu als das lächerliche Möbel, ohne das die Kirche<lb/> fünfzehn Jahrhunderte lang ausgekommen ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_3362" next="#ID_3363"> Die ländliche Bevölkerung mag bei uns das Bedürfnis einer Reform des<lb/> Instituts noch nicht empfinden, und da der Zwang zu wenigstens einmaliger<lb/> Gewissenserforschung im Jahre, der gute Vorsatz, der dabei gefaßt wird, die<lb/> in außergewöhnlich empfänglicher Stimmung vernommnen Mahnungen des<lb/> Beichtvaters und die Beicht- und Kommuniongebete immerhin der Seele einen<lb/> kleinen Stoß nach oben und nach vorwärts versetzen, so wäre, wenn es sich<lb/> bloß um Landleute handelte, kaum ein Grund vorhanden, an einer harmlosen<lb/> ab ein wenig nützlichen Institution zu rütteln- Aber der moderne Stadt?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0661]
von der Beichte
muß als einem, der seinem Gegner eine Ohrfeige versetzt hat. das zu erkennen
bedarf es keines Handbuchs der Kasuistik.
Und was hat die Kasuistik selbst beim Glauben des Priesters an sein
wider Matthäus 7, 1 angemaßtes Richteramt heute praktisch für einen Wert?
Abgesehen von den selten vorkommenden Reservatfällen (gewisse schwere Ver¬
brechen sind solche; schwere Verbrecher aber beichten höchstens im Zuchthause),
die einen Aufschub der Absolution fordern, werden alle ohne Unterschied sofort
absolviert und mit der Verpflichtung, ein paar Vaterunser zu beten, „bestraft."
Nur bei einer Klasse von „Sünderinnen" wird heute manchmal von dem ver¬
meintlichen Recht, Sünden zu behalten, Gebrauch gemacht: bei den in gemischter
Ehe lebenden Frauen, die um des ehelichen Friedens willen in die evangelische
Kindererziehung gewilligt haben. Ein verwerflicher Mißbrauch, der den häus¬
lichen wie den öffentlichen Frieden stört, die Gewissen verwirrt und fälscht,
ist also der einzige Gebrauch, der noch von der Kasuistik gemacht wird. Oder
heißt es nicht, den Christen ein irriges Gewissen beibringen, wenn sie eine
brave und tüchtige Frau, die ihre Kinder gut erzieht und nur aus zwingenden
Gründen gegen eine kirchliche Vorschrift verstößt, für ärger halten sollen als
einen Mörder? Dieser wird nach Einholung der Fakultas — Mord ist ein
Reservatfall — ohne Umstände absolviert. Gewiß kommt der Geistliche so
wenig ohne Kasuistik aus wie der Richter, nur braucht er sie nicht als Richter,
der er nicht ist, sondern als Morallehrer und Erzieher. Dem Kinde und dem
Volke müssen die Pflichten bekannt gemacht werden, die sie zu erfüllen, und
die Sünden, die sie zu meiden haben, sowohl der bürgerlichen Ordnung wegen
als um ihres eignen leiblichen und Seelenheils willen, denn ein ethisches
Genie, das von selbst seinen Weg zu Gott fände, ist doch nun einmal der
Durchschnittsmensch nicht; nicht zu reden davon, daß das ethische Genie am
Krenz, auf dem Scheiterhaufen oder dem Schafott, im Kerker zu enden pflegt.
Und dabei muß denn auch auf den Unterschied in der Schwere der Ver¬
schuldungen aufmerksam gemacht werden, nur daß die Einteilung in läßliche
und Todsünden zu verwerfen ist, weil niemand weiß, welche von seinen Mit¬
brüdern dem ewigen Tode verfallen sind. Aber der Beichtstuhl ist nicht der
Ort zu solcher Belehrung. Was alle brauchen, das kann nur in einem ordent¬
lichen Unterricht in der Schule und auf der Kanzel mitgeteilt werden, und
handelt es sich um Erörterung eines besondern Falles, um Rat in einer
schwierigen Lage, so ist das Wohn- oder das Amtszimmer des Geistlichen ein
viel geeigneterer Ort dazu als das lächerliche Möbel, ohne das die Kirche
fünfzehn Jahrhunderte lang ausgekommen ist.
Die ländliche Bevölkerung mag bei uns das Bedürfnis einer Reform des
Instituts noch nicht empfinden, und da der Zwang zu wenigstens einmaliger
Gewissenserforschung im Jahre, der gute Vorsatz, der dabei gefaßt wird, die
in außergewöhnlich empfänglicher Stimmung vernommnen Mahnungen des
Beichtvaters und die Beicht- und Kommuniongebete immerhin der Seele einen
kleinen Stoß nach oben und nach vorwärts versetzen, so wäre, wenn es sich
bloß um Landleute handelte, kaum ein Grund vorhanden, an einer harmlosen
ab ein wenig nützlichen Institution zu rütteln- Aber der moderne Stadt?
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