Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn nötigen, aber kein Verständnis für die notwendigen Reformen hatte, die zur Der adliche Teil der liberalen Partei war der von alters her politisch Der Verfassungskonflikt in Ungarn nötigen, aber kein Verständnis für die notwendigen Reformen hatte, die zur Der adliche Teil der liberalen Partei war der von alters her politisch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0639" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296650"/> <fw type="header" place="top"> Der Verfassungskonflikt in Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3302" prev="#ID_3301"> nötigen, aber kein Verständnis für die notwendigen Reformen hatte, die zur<lb/> innern Entwicklung des Landes dringend notwendig waren. Sein „System"<lb/> bestand darin, unter allen Umständen seine Partei in der Herrschaft zu erhalten,<lb/> und das wurde in der Weise ins Werk gesetzt, daß bei den Wahlen die Re¬<lb/> gierung ihre Anhänger mit dem ganzen Apparat der Komitatsverwaltung<lb/> unterstützte. So wurde die Mehrheit der liberalen Partei, die 1878 nur acht<lb/> Stimmen betrug, zustande gebracht und aufrecht erhalten, bis >sie bei den<lb/> Wahlen vom 26. Januar 1905 unter Tisza dem Jüngern jäh zusammenbrach.<lb/> Wie das möglich war, ist im Auslande, aber auch in Österreich, nicht immer<lb/> recht klar geworden, weil die Ursachen der Unzufriedenheit mit der Wirtschaft<lb/> der liberalen Partei in der ausländischen Presse unbekannt geblieben oder tot¬<lb/> geschwiegen worden sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_3303" next="#ID_3304"> Der adliche Teil der liberalen Partei war der von alters her politisch<lb/> befähigtste und steht noch heute auf dem Standpunkt, an dem Ausgleich mit<lb/> Österreich festzuhalten. Die politische Tätigkeit des Reichstags seit dem Aus¬<lb/> gleich faßten sie als Fortsetzung des frühern ständischen auf, worin sie aus¬<lb/> schlaggebend gewesen waren. So sollte es auch jetzt sein: sie würden be¬<lb/> schließen, und der König würde ihre Beschlüsse unterschreiben, etwa wie es in<lb/> England unter der Königin Viktoria der Fall war. Dieser Standpunkt deckte<lb/> sich vollkommen mit der modernen parlamentarischen Auffassung des andern<lb/> Flügels der Partei, der alle Staatsgewalt in das Parlament verlegt und der<lb/> Krone nur eine dekorative Rolle zuschreibt. In diesem Sinne fanden sie sich<lb/> zusammen und arbeiteten einträchtiglich miteinander. Dem Adel fiel meist der<lb/> repräsentative Teil zu, die bei der modernen Parteipolitik notwendige Arbeit<lb/> für die Presse und die Agitation besorgte der andre Flügel der Partei. Nachdem<lb/> unter Koloman Tisza die unbedingte Durchsetzung der Partei zum Grundsatz<lb/> erhoben worden war, erhielt der agitatorische Flügel immer größere Wichtig¬<lb/> keit, denn die Wahlen wurden schwieriger und kosteten schrecklich viel Geld.<lb/> Dadurch gewann auch die Finanzwelt einen ungebührlichen Einfluß, und die<lb/> herrschende Partei suchte sich für die bei den Wahlen gebrachten Opfer schadlos<lb/> zu halten. Die mit einseitiger Parteiherrschaft immer eng verknüpfte Korrup¬<lb/> tion und Begünstigung der Parteigenossen nahm überHand und rief tiefe Un¬<lb/> zufriedenheit hervor, die namentlich auch magyarische Kreise erfaßte. Daß die<lb/> Nichtmagyaren unzufrieden waren, fand keine Beachtung und verstand sich von<lb/> selbst. Gegen sie wurde der ganze Machtapparat des Staats in Bewegung ge¬<lb/> setzt, insbesondre bei den Wahlen, bei denen nur allzu häufig die Gewehre<lb/> der Gendarmerie oder des herbeigezognen Militärs den Ausschlag gaben, wenn<lb/> sich die Unterdrückten mit Gewalt gegen die Beeinflussung der Wahl Recht zu<lb/> verschaffen suchten, während außerdem selbstverständlich jedes andre Mittel, die<lb/> Nichtmagyaren von der Wahlurne fernzuhalten, als erlaubt galt. Interessant<lb/> ist die durchaus in den Tatsachen begründete Angabe des „Protests" der<lb/> Führer der Slowaken, Serben und Rumänen Ungarns vom Januar 1898,<lb/> „daß sich die Regierungspartei gerade aus den Wahlbezirken der Nationali¬<lb/> täten rekrutiert, wogegen die echt magyarischen Wahlbezirke größtenteils Oppo¬<lb/> sitionelle wählen." Also in deu Wahlkreisen mit nichtmagyarischer Mehrheit,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0639]
Der Verfassungskonflikt in Ungarn
nötigen, aber kein Verständnis für die notwendigen Reformen hatte, die zur
innern Entwicklung des Landes dringend notwendig waren. Sein „System"
bestand darin, unter allen Umständen seine Partei in der Herrschaft zu erhalten,
und das wurde in der Weise ins Werk gesetzt, daß bei den Wahlen die Re¬
gierung ihre Anhänger mit dem ganzen Apparat der Komitatsverwaltung
unterstützte. So wurde die Mehrheit der liberalen Partei, die 1878 nur acht
Stimmen betrug, zustande gebracht und aufrecht erhalten, bis >sie bei den
Wahlen vom 26. Januar 1905 unter Tisza dem Jüngern jäh zusammenbrach.
Wie das möglich war, ist im Auslande, aber auch in Österreich, nicht immer
recht klar geworden, weil die Ursachen der Unzufriedenheit mit der Wirtschaft
der liberalen Partei in der ausländischen Presse unbekannt geblieben oder tot¬
geschwiegen worden sind.
Der adliche Teil der liberalen Partei war der von alters her politisch
befähigtste und steht noch heute auf dem Standpunkt, an dem Ausgleich mit
Österreich festzuhalten. Die politische Tätigkeit des Reichstags seit dem Aus¬
gleich faßten sie als Fortsetzung des frühern ständischen auf, worin sie aus¬
schlaggebend gewesen waren. So sollte es auch jetzt sein: sie würden be¬
schließen, und der König würde ihre Beschlüsse unterschreiben, etwa wie es in
England unter der Königin Viktoria der Fall war. Dieser Standpunkt deckte
sich vollkommen mit der modernen parlamentarischen Auffassung des andern
Flügels der Partei, der alle Staatsgewalt in das Parlament verlegt und der
Krone nur eine dekorative Rolle zuschreibt. In diesem Sinne fanden sie sich
zusammen und arbeiteten einträchtiglich miteinander. Dem Adel fiel meist der
repräsentative Teil zu, die bei der modernen Parteipolitik notwendige Arbeit
für die Presse und die Agitation besorgte der andre Flügel der Partei. Nachdem
unter Koloman Tisza die unbedingte Durchsetzung der Partei zum Grundsatz
erhoben worden war, erhielt der agitatorische Flügel immer größere Wichtig¬
keit, denn die Wahlen wurden schwieriger und kosteten schrecklich viel Geld.
Dadurch gewann auch die Finanzwelt einen ungebührlichen Einfluß, und die
herrschende Partei suchte sich für die bei den Wahlen gebrachten Opfer schadlos
zu halten. Die mit einseitiger Parteiherrschaft immer eng verknüpfte Korrup¬
tion und Begünstigung der Parteigenossen nahm überHand und rief tiefe Un¬
zufriedenheit hervor, die namentlich auch magyarische Kreise erfaßte. Daß die
Nichtmagyaren unzufrieden waren, fand keine Beachtung und verstand sich von
selbst. Gegen sie wurde der ganze Machtapparat des Staats in Bewegung ge¬
setzt, insbesondre bei den Wahlen, bei denen nur allzu häufig die Gewehre
der Gendarmerie oder des herbeigezognen Militärs den Ausschlag gaben, wenn
sich die Unterdrückten mit Gewalt gegen die Beeinflussung der Wahl Recht zu
verschaffen suchten, während außerdem selbstverständlich jedes andre Mittel, die
Nichtmagyaren von der Wahlurne fernzuhalten, als erlaubt galt. Interessant
ist die durchaus in den Tatsachen begründete Angabe des „Protests" der
Führer der Slowaken, Serben und Rumänen Ungarns vom Januar 1898,
„daß sich die Regierungspartei gerade aus den Wahlbezirken der Nationali¬
täten rekrutiert, wogegen die echt magyarischen Wahlbezirke größtenteils Oppo¬
sitionelle wählen." Also in deu Wahlkreisen mit nichtmagyarischer Mehrheit,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |