Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn nie hinausgekommen, und darum versagt ihre angebliche "avitische" Komitats¬ Das ist ein wenig viel Konfliktsstoff auf einmal, und man muß sich billig Der Verfassungskonflikt in Ungarn nie hinausgekommen, und darum versagt ihre angebliche „avitische" Komitats¬ Das ist ein wenig viel Konfliktsstoff auf einmal, und man muß sich billig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0638" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296649"/> <fw type="header" place="top"> Der Verfassungskonflikt in Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3300" prev="#ID_3299"> nie hinausgekommen, und darum versagt ihre angebliche „avitische" Komitats¬<lb/> verwaltung in allen Fragen, außer in denen der politischen Herrschaft. Wirt¬<lb/> schaftliche und soziale Angelegenheiten begegnen geringem Verständnis und<lb/> finden nur dann Förderung, wenn ein einflußreicher Freund der oligarchischen<lb/> Herrschaft dabei beteiligt ist; die agrarischen Verhältnisse sind so stark vernach¬<lb/> lässigt worden, daß die Auswanderung einen erschreckenden Umfang erreicht<lb/> hat. Es gibt auf allen Gebieten sehr viel zu verbessern, aber da versagt die<lb/> Verwaltung und auch die Gesetzgebung, denn sie müßte ja bei der Verwaltung<lb/> beginnen. Die Unzufriedenheit darüber ist groß und herrscht nicht etwa bei<lb/> den Nichtmagyaren allein. Die liberale Partei ist aber seit länger als dreißig<lb/> Jahren nur bestrebt gewesen, sich in der Herrschaft zu erhalten, und dachte<lb/> nicht an Reformen, sie hat auch den vor allem von der hauptstädtischen<lb/> Presse gepredigten Chauvinismus nur gefördert, um darin den Wunsch nach<lb/> Reformen untergehn zu lassen. Der Chauvinismus knüpft eng an die<lb/> Forderungen der Unabhängigkeitspartei an und bezweckt nichts geringeres als<lb/> die Abänderung des Ausgleichs mit Österreich zugunsten Ungarns sowie die<lb/> Magyarisierung des ganzen Landes und verliert sich in uferlosen Träumen<lb/> einer ungarischen Großmachtspolitik auf der Balkanhalbinsel. Ob die Kräfte<lb/> des Volkes auch nur zur Erreichung eines dieser Ziele ausreichen, danach wird<lb/> nicht gefragt. Das zu Zeiten Deccks erlassene Nationalitätengesetz, das den<lb/> Frieden mit den andern Völkerschaften des Landes gewährleisten sollte, ist<lb/> gänzlich beiseite geschoben worden und hat zahlreichen Angriffen auf die Nicht¬<lb/> magyaren (Ortsnamengesetz, Volksschulgesetzentwürfe usw.) Platz gemacht, die<lb/> Ausgleichsfrage steht so, daß keine neue Vereinbarung mehr möglich erscheint,<lb/> und der Imperialismus hat zum Konflikt mit der Krone wegen der Armee<lb/> geführt; augenblicklich bietet diese Angelegenheit den Schauplatz, auf dem Ent¬<lb/> scheidungen erwartet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_3301" next="#ID_3302"> Das ist ein wenig viel Konfliktsstoff auf einmal, und man muß sich billig<lb/> wundern, daß eine Partei, die seit 1867, und hauptsächlich seit der straffen<lb/> Organisierung durch Koloman Tisza nach 1875, die Leitung des Landes un¬<lb/> unterbrochen in den Händen hatte, in allen diesen Fragen nicht vorbeugend<lb/> und mäßigend gewirkt hat. Das lag freilich in dem Wesen der liberalen<lb/> Partei begründet. Unter diesem Namen hatten sich die Anhänger des Aus¬<lb/> gleichs zusammengefunden, besonders die alten Adelsparteien und viele parla¬<lb/> mentarische Streber, die in dem neuen öffentlichen Leben eine Rolle spielen<lb/> wollten und davon persönliche Vorteile erhofften, unter ihnen viele getaufte<lb/> und umgetaufte Juden, die nach Renegatenart ihre neue nationale Zuge¬<lb/> hörigkeit lauter betonten als die eigentlichen Magyaren selbst. Sie sind auch,<lb/> vor allem durch ihren Einfluß und durch ihre Beteiligung an der Presse, die<lb/> wesentlichen Schürer des nationalen Chauvinismus gewesen und haben den<lb/> Altdeutschen Anlaß zur Erfindung der Bezeichnung Judäo-Magyarismus ge¬<lb/> geben. Koloman Tisza, der alle diese Leute mit eiserner Hand in eine ge¬<lb/> schlossene Partei zusammenfaßte, war eigentlich kein schöpferischer Staatsmann,<lb/> sondern nur ein genialer Parteitaktiker, der es wohl fertig brachte, seine An¬<lb/> hänger zu den bedeutenden Opfern für die Regelung der Staatsfinanzen zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0638]
Der Verfassungskonflikt in Ungarn
nie hinausgekommen, und darum versagt ihre angebliche „avitische" Komitats¬
verwaltung in allen Fragen, außer in denen der politischen Herrschaft. Wirt¬
schaftliche und soziale Angelegenheiten begegnen geringem Verständnis und
finden nur dann Förderung, wenn ein einflußreicher Freund der oligarchischen
Herrschaft dabei beteiligt ist; die agrarischen Verhältnisse sind so stark vernach¬
lässigt worden, daß die Auswanderung einen erschreckenden Umfang erreicht
hat. Es gibt auf allen Gebieten sehr viel zu verbessern, aber da versagt die
Verwaltung und auch die Gesetzgebung, denn sie müßte ja bei der Verwaltung
beginnen. Die Unzufriedenheit darüber ist groß und herrscht nicht etwa bei
den Nichtmagyaren allein. Die liberale Partei ist aber seit länger als dreißig
Jahren nur bestrebt gewesen, sich in der Herrschaft zu erhalten, und dachte
nicht an Reformen, sie hat auch den vor allem von der hauptstädtischen
Presse gepredigten Chauvinismus nur gefördert, um darin den Wunsch nach
Reformen untergehn zu lassen. Der Chauvinismus knüpft eng an die
Forderungen der Unabhängigkeitspartei an und bezweckt nichts geringeres als
die Abänderung des Ausgleichs mit Österreich zugunsten Ungarns sowie die
Magyarisierung des ganzen Landes und verliert sich in uferlosen Träumen
einer ungarischen Großmachtspolitik auf der Balkanhalbinsel. Ob die Kräfte
des Volkes auch nur zur Erreichung eines dieser Ziele ausreichen, danach wird
nicht gefragt. Das zu Zeiten Deccks erlassene Nationalitätengesetz, das den
Frieden mit den andern Völkerschaften des Landes gewährleisten sollte, ist
gänzlich beiseite geschoben worden und hat zahlreichen Angriffen auf die Nicht¬
magyaren (Ortsnamengesetz, Volksschulgesetzentwürfe usw.) Platz gemacht, die
Ausgleichsfrage steht so, daß keine neue Vereinbarung mehr möglich erscheint,
und der Imperialismus hat zum Konflikt mit der Krone wegen der Armee
geführt; augenblicklich bietet diese Angelegenheit den Schauplatz, auf dem Ent¬
scheidungen erwartet werden.
Das ist ein wenig viel Konfliktsstoff auf einmal, und man muß sich billig
wundern, daß eine Partei, die seit 1867, und hauptsächlich seit der straffen
Organisierung durch Koloman Tisza nach 1875, die Leitung des Landes un¬
unterbrochen in den Händen hatte, in allen diesen Fragen nicht vorbeugend
und mäßigend gewirkt hat. Das lag freilich in dem Wesen der liberalen
Partei begründet. Unter diesem Namen hatten sich die Anhänger des Aus¬
gleichs zusammengefunden, besonders die alten Adelsparteien und viele parla¬
mentarische Streber, die in dem neuen öffentlichen Leben eine Rolle spielen
wollten und davon persönliche Vorteile erhofften, unter ihnen viele getaufte
und umgetaufte Juden, die nach Renegatenart ihre neue nationale Zuge¬
hörigkeit lauter betonten als die eigentlichen Magyaren selbst. Sie sind auch,
vor allem durch ihren Einfluß und durch ihre Beteiligung an der Presse, die
wesentlichen Schürer des nationalen Chauvinismus gewesen und haben den
Altdeutschen Anlaß zur Erfindung der Bezeichnung Judäo-Magyarismus ge¬
geben. Koloman Tisza, der alle diese Leute mit eiserner Hand in eine ge¬
schlossene Partei zusammenfaßte, war eigentlich kein schöpferischer Staatsmann,
sondern nur ein genialer Parteitaktiker, der es wohl fertig brachte, seine An¬
hänger zu den bedeutenden Opfern für die Regelung der Staatsfinanzen zu
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