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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdigung

Stellung des Weibes in der Menschheitskultur aufbaut, und der althebräische
Spruchdichter wird darin Recht behalten. Aus dem steten Aufblick zum Welten¬
geist und aus dem seiner Weisheit vertrauenden Überblick über die Weltverhält¬
nisse wird ja das sicher treffende Urteil im Denken, die feine Scheu vor allem
Niedrigen im Gefühl und der zarte Takt im Gebiete des Wollens und so die
herrliche Trias geboren, die Goethe wohl meinte, wenn er seinen "Faust" mit
den Worten schloß: "Das ewig Weibliche zieht uns hinan."

Zugleich die ursprüngliche Stärke und zugleich das spätere Erlahmen des
Einflusses, den das Schöne sogar auf unsre Menschenwürdigung ausübt,
spiegeln sich in der Tatsache, daß der Ausdruck "schön" und die mit ihm ver¬
wandten Wörter vielfach auch im übertragnen Sinne gebraucht werden. Kräftig
der Seele vorschwebend, sind sie auch über das engere Gebiet des Ästhetischen
hinaus erobernd vorgedrungen und sind glänzende Surrogate für die Ausdrücke
"trefflich, passend, wertvoll überhaupt usw." geworden. Der Grad, worin das
geschehen ist, wirft vielleicht noch einen -- obgleich nur indirekten -- Lichtstrahl
auf die Macht, die dem Begriffe des Schönen in der betreffenden Volksseele
eigen war. Deshalb sei die Frage, ob sich diese gleichsam nachwirkende Herr¬
schaft des Schönen als eines Maßstabes der Menschenschätzung auch in der
althebrüischen Literatursprache zeigt, auch noch, aber gerade deshalb erst an
dieser Stelle aufgeworfen. Diese Frage wird uns zugleich eine Brücke bilden,
worauf wir zu der Betrachtung eines andern Literaturgebiets hinübergehen
können.

Wie wenig die Bezeichnungen "schön, Schönheit, schön sein" im Althebräischen
einen übertragnen Sinn bekommen haben, kann schon daraus ersehen werden,
daß dieser metaphorische Gebrauch der erwähnten Ausdrücke im neusten Wörter¬
buch dieser Sprache, dem großen LuMsn-Löbrsv Lexioon, gar nicht ausdrücklich
behandelt wird. In der Tat taucht dieser übertragne Sinn von "Schön¬
heit usw." im ältern Hebräischen nur erst halb und halb und selten an der
Oberfläche der Literatursprache empor: die "Schönheit" des israelitischen Königs
im allgemeinen (Ich. 33, 16) meint natürlicherweise dessen Herrlichkeit, und so
bezeichnet auch die "Schönheit" des Königs von Tyrus, nicht eines bestimmten
Königs dieser Stadt, den Glanz oder die Pracht dieses Königs (Hes. 28, 12),
und so spüren wir die über sein eigentliches Gebiet hinausgreifende Herrschaft
des Ausdruckes "Schönheit" noch in "die Schönheit (d. h. die Trefflichkeit) seiner
Weisheit" (28, 7) und sonst noch ein paarmal bei diesem spätern Autor, wie
in 16, 13 b. Ich will jedoch die Leser keineswegs mit lexikographischen Einzel¬
heiten beschweren -- aber Sprachgeschichte und Kulturgeschichte stehn freilich
in enger Wechselbeziehung --, und es ist doch auch von geistesgeschichtlichen
Interesse, daß diese übertragne Bedeutung von "schön" im Neuhebräischen ziemlich
gebräuchlich ist, wie auch das jüngste Wörterbuch des Neuhebräischen -- es
stammt von Gustaf Dalman -- belegt. Ist es denn ferner nicht auch kultur¬
geschichtlich von Bedeutung, daß das Adjektiv "schön" in der gesamten alt¬
hebräischen Literatur nur von einem einzigen Autor im übertragnen Sinne
verwandt wird? Es ist der Verfasser des Buches, das "Der Prediger Salo-
monis" genannt zu werden pflegt, das aber die späteste Schrift des Alten


Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdigung

Stellung des Weibes in der Menschheitskultur aufbaut, und der althebräische
Spruchdichter wird darin Recht behalten. Aus dem steten Aufblick zum Welten¬
geist und aus dem seiner Weisheit vertrauenden Überblick über die Weltverhält¬
nisse wird ja das sicher treffende Urteil im Denken, die feine Scheu vor allem
Niedrigen im Gefühl und der zarte Takt im Gebiete des Wollens und so die
herrliche Trias geboren, die Goethe wohl meinte, wenn er seinen „Faust" mit
den Worten schloß: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan."

Zugleich die ursprüngliche Stärke und zugleich das spätere Erlahmen des
Einflusses, den das Schöne sogar auf unsre Menschenwürdigung ausübt,
spiegeln sich in der Tatsache, daß der Ausdruck „schön" und die mit ihm ver¬
wandten Wörter vielfach auch im übertragnen Sinne gebraucht werden. Kräftig
der Seele vorschwebend, sind sie auch über das engere Gebiet des Ästhetischen
hinaus erobernd vorgedrungen und sind glänzende Surrogate für die Ausdrücke
„trefflich, passend, wertvoll überhaupt usw." geworden. Der Grad, worin das
geschehen ist, wirft vielleicht noch einen — obgleich nur indirekten — Lichtstrahl
auf die Macht, die dem Begriffe des Schönen in der betreffenden Volksseele
eigen war. Deshalb sei die Frage, ob sich diese gleichsam nachwirkende Herr¬
schaft des Schönen als eines Maßstabes der Menschenschätzung auch in der
althebrüischen Literatursprache zeigt, auch noch, aber gerade deshalb erst an
dieser Stelle aufgeworfen. Diese Frage wird uns zugleich eine Brücke bilden,
worauf wir zu der Betrachtung eines andern Literaturgebiets hinübergehen
können.

Wie wenig die Bezeichnungen „schön, Schönheit, schön sein" im Althebräischen
einen übertragnen Sinn bekommen haben, kann schon daraus ersehen werden,
daß dieser metaphorische Gebrauch der erwähnten Ausdrücke im neusten Wörter¬
buch dieser Sprache, dem großen LuMsn-Löbrsv Lexioon, gar nicht ausdrücklich
behandelt wird. In der Tat taucht dieser übertragne Sinn von „Schön¬
heit usw." im ältern Hebräischen nur erst halb und halb und selten an der
Oberfläche der Literatursprache empor: die „Schönheit" des israelitischen Königs
im allgemeinen (Ich. 33, 16) meint natürlicherweise dessen Herrlichkeit, und so
bezeichnet auch die „Schönheit" des Königs von Tyrus, nicht eines bestimmten
Königs dieser Stadt, den Glanz oder die Pracht dieses Königs (Hes. 28, 12),
und so spüren wir die über sein eigentliches Gebiet hinausgreifende Herrschaft
des Ausdruckes „Schönheit" noch in „die Schönheit (d. h. die Trefflichkeit) seiner
Weisheit" (28, 7) und sonst noch ein paarmal bei diesem spätern Autor, wie
in 16, 13 b. Ich will jedoch die Leser keineswegs mit lexikographischen Einzel¬
heiten beschweren — aber Sprachgeschichte und Kulturgeschichte stehn freilich
in enger Wechselbeziehung —, und es ist doch auch von geistesgeschichtlichen
Interesse, daß diese übertragne Bedeutung von „schön" im Neuhebräischen ziemlich
gebräuchlich ist, wie auch das jüngste Wörterbuch des Neuhebräischen — es
stammt von Gustaf Dalman — belegt. Ist es denn ferner nicht auch kultur¬
geschichtlich von Bedeutung, daß das Adjektiv „schön" in der gesamten alt¬
hebräischen Literatur nur von einem einzigen Autor im übertragnen Sinne
verwandt wird? Es ist der Verfasser des Buches, das „Der Prediger Salo-
monis" genannt zu werden pflegt, das aber die späteste Schrift des Alten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/552>, abgerufen am 15.01.2025.