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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Ästhetik als Norm der Nenschemoürdigung

Reigentanz das Ereignis feierte, wodurch ihr zwischen den nachsetzenden Be¬
drücker und die Wasserwogen eingekeiltes Volk aus Not und Tod errettet wurde.
Derselbe Erzähler erwähnt auch, wie später hebräische Frauen die Kriegstaten
der Helden mit vollem Verständnis, ja mit scharfem Urteil verfolgten und so
nach Goliaths Besiegung durch ihren Gesang "Saul hat tausend geschlagen,
David aber hat zehntausend geschlagen" in Sauls Brust den ersten Keim der
Eifersucht gegen David senkten (1. Sam. 18, 6 f.). Aber der erlauchten Schar,
an der das Auge eines dankbaren Volkes mit Verehrung hängt, gehören
nicht bloß willkommne ^ Beifallsspenderinnen für heldenhafte Männertaten an,
nein, auch Fahnenträgerinnen, wie Debora, stehn da, die in der Bedrängnis
ihres Volkes selbst das Panier zur Abschüttlung des Fremdenjoches entfalteten.
Unter diesen Frauen von kühnem Entschluß und kraftvoller Energie wird freilich
auch eine Jack gepriesen, die mit einer unerschrocknen Hand einen unheimlich
listigen Sinn verband (Richt. 4, 17 ff.). Aber die Volkserinnernng Israels ver¬
weilte doch ebenso teilnahmvoll bei dem Bilde jener -- ja darf ich hinzufügen
"bekannten"? - Schwiegertochter des Richters Ell (1. Sam. 4, 19ff.). Als sie
von der Niederlage ihres Volkes, dem Verlust des Nationalheiligtums und dein
Tode ihres Mannes hörte, da trat einer der ergreifenden Augenblicke ein, wo das
Bewußtsein eines Volkes gleichsam sichtbare Gestalt annimmt und als Herold
eines neuen Tages durch die Gaue des Vaterlandes schreitet: ihren Geist aus¬
hauchend, gab diese Frau dem neugebornen Sohne den Namen "Nicht-Ehre"
(Jkabod) und senkte damit den Entschluß zur Tilgung dieser Schmach in die
Seele ihres Volkes. Ungenannt und doch mit leuchtenden Farben in das Buch
der Geschichte gezeichnet, führt sie zugleich den Chor der Frauen an, die durch
die Glut ihrer Religiosität das geistliche Staatswesen ihrer Nation zu erhalten
halfen.

Wie sehr die ethische Würdigung des Weibes in deu Vordergrund des alt¬
israelitischen Kulturbewußtseins trat, erkennen wir noch besonders deutlich aus
dem berühmtesten Abschnitt des althebräischen Schrifttums, der hierher gehört.
Ein so viele hundert Jahre älterer Vorgänger des Loblieds auf Johanna Schuh,
pflegt er "das Lied vom braven Weibe" genannt zu werden und ist der Ab¬
schluß des Buches der Proverbieu. In diesem alphabetischen Akrostichon -- des¬
halb zweiundzwanzig Verse nach der Zahl der hebräischen Buchstaben um¬
fassend -- reflektieren sich wie in einem Spiegelbild alle einzelnen Normen der
Wertschätzung des Weibes, die in der obigen Darstellung einzeln vor unser Auge
getreten sind: die Zurückdrängung der körperlichen Vorzüge bei der Beurteilung
des Wertes einer Frau, die Betonung der geistigen Begabung und Leistung, die
formale Tugend des aufopferungsvollen Fleißes, die materialen Tugenden der
Mutterliebe und der Gattentreue, die hochgesinnte Teilnahme an Wohl und
Wehe des Vaterlandes. Ja auch folgende zwei Grundlagen für die Wertschätzung
des Lebensgehalts einer Frau hat der Dichter uns nicht zu vergessen gelehrt: die
Wohltätigkeit gegen die Armen und die Gottesfurcht. Denn in die Worte "ein
Weib, das den Ewigen fürchtet, soll man loben" klingt die Dichtung aus. Also
Religiosität, die im weiblichen Gemüt immer und überall ihr reinstes und stärkstes
Altarfeuer gehabt hat, ist das unterste Fundament, auf dem sich die Würde-


Die Ästhetik als Norm der Nenschemoürdigung

Reigentanz das Ereignis feierte, wodurch ihr zwischen den nachsetzenden Be¬
drücker und die Wasserwogen eingekeiltes Volk aus Not und Tod errettet wurde.
Derselbe Erzähler erwähnt auch, wie später hebräische Frauen die Kriegstaten
der Helden mit vollem Verständnis, ja mit scharfem Urteil verfolgten und so
nach Goliaths Besiegung durch ihren Gesang „Saul hat tausend geschlagen,
David aber hat zehntausend geschlagen" in Sauls Brust den ersten Keim der
Eifersucht gegen David senkten (1. Sam. 18, 6 f.). Aber der erlauchten Schar,
an der das Auge eines dankbaren Volkes mit Verehrung hängt, gehören
nicht bloß willkommne ^ Beifallsspenderinnen für heldenhafte Männertaten an,
nein, auch Fahnenträgerinnen, wie Debora, stehn da, die in der Bedrängnis
ihres Volkes selbst das Panier zur Abschüttlung des Fremdenjoches entfalteten.
Unter diesen Frauen von kühnem Entschluß und kraftvoller Energie wird freilich
auch eine Jack gepriesen, die mit einer unerschrocknen Hand einen unheimlich
listigen Sinn verband (Richt. 4, 17 ff.). Aber die Volkserinnernng Israels ver¬
weilte doch ebenso teilnahmvoll bei dem Bilde jener — ja darf ich hinzufügen
„bekannten"? - Schwiegertochter des Richters Ell (1. Sam. 4, 19ff.). Als sie
von der Niederlage ihres Volkes, dem Verlust des Nationalheiligtums und dein
Tode ihres Mannes hörte, da trat einer der ergreifenden Augenblicke ein, wo das
Bewußtsein eines Volkes gleichsam sichtbare Gestalt annimmt und als Herold
eines neuen Tages durch die Gaue des Vaterlandes schreitet: ihren Geist aus¬
hauchend, gab diese Frau dem neugebornen Sohne den Namen „Nicht-Ehre"
(Jkabod) und senkte damit den Entschluß zur Tilgung dieser Schmach in die
Seele ihres Volkes. Ungenannt und doch mit leuchtenden Farben in das Buch
der Geschichte gezeichnet, führt sie zugleich den Chor der Frauen an, die durch
die Glut ihrer Religiosität das geistliche Staatswesen ihrer Nation zu erhalten
halfen.

Wie sehr die ethische Würdigung des Weibes in deu Vordergrund des alt¬
israelitischen Kulturbewußtseins trat, erkennen wir noch besonders deutlich aus
dem berühmtesten Abschnitt des althebräischen Schrifttums, der hierher gehört.
Ein so viele hundert Jahre älterer Vorgänger des Loblieds auf Johanna Schuh,
pflegt er „das Lied vom braven Weibe" genannt zu werden und ist der Ab¬
schluß des Buches der Proverbieu. In diesem alphabetischen Akrostichon — des¬
halb zweiundzwanzig Verse nach der Zahl der hebräischen Buchstaben um¬
fassend — reflektieren sich wie in einem Spiegelbild alle einzelnen Normen der
Wertschätzung des Weibes, die in der obigen Darstellung einzeln vor unser Auge
getreten sind: die Zurückdrängung der körperlichen Vorzüge bei der Beurteilung
des Wertes einer Frau, die Betonung der geistigen Begabung und Leistung, die
formale Tugend des aufopferungsvollen Fleißes, die materialen Tugenden der
Mutterliebe und der Gattentreue, die hochgesinnte Teilnahme an Wohl und
Wehe des Vaterlandes. Ja auch folgende zwei Grundlagen für die Wertschätzung
des Lebensgehalts einer Frau hat der Dichter uns nicht zu vergessen gelehrt: die
Wohltätigkeit gegen die Armen und die Gottesfurcht. Denn in die Worte „ein
Weib, das den Ewigen fürchtet, soll man loben" klingt die Dichtung aus. Also
Religiosität, die im weiblichen Gemüt immer und überall ihr reinstes und stärkstes
Altarfeuer gehabt hat, ist das unterste Fundament, auf dem sich die Würde-


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[0551] Die Ästhetik als Norm der Nenschemoürdigung Reigentanz das Ereignis feierte, wodurch ihr zwischen den nachsetzenden Be¬ drücker und die Wasserwogen eingekeiltes Volk aus Not und Tod errettet wurde. Derselbe Erzähler erwähnt auch, wie später hebräische Frauen die Kriegstaten der Helden mit vollem Verständnis, ja mit scharfem Urteil verfolgten und so nach Goliaths Besiegung durch ihren Gesang „Saul hat tausend geschlagen, David aber hat zehntausend geschlagen" in Sauls Brust den ersten Keim der Eifersucht gegen David senkten (1. Sam. 18, 6 f.). Aber der erlauchten Schar, an der das Auge eines dankbaren Volkes mit Verehrung hängt, gehören nicht bloß willkommne ^ Beifallsspenderinnen für heldenhafte Männertaten an, nein, auch Fahnenträgerinnen, wie Debora, stehn da, die in der Bedrängnis ihres Volkes selbst das Panier zur Abschüttlung des Fremdenjoches entfalteten. Unter diesen Frauen von kühnem Entschluß und kraftvoller Energie wird freilich auch eine Jack gepriesen, die mit einer unerschrocknen Hand einen unheimlich listigen Sinn verband (Richt. 4, 17 ff.). Aber die Volkserinnernng Israels ver¬ weilte doch ebenso teilnahmvoll bei dem Bilde jener — ja darf ich hinzufügen „bekannten"? - Schwiegertochter des Richters Ell (1. Sam. 4, 19ff.). Als sie von der Niederlage ihres Volkes, dem Verlust des Nationalheiligtums und dein Tode ihres Mannes hörte, da trat einer der ergreifenden Augenblicke ein, wo das Bewußtsein eines Volkes gleichsam sichtbare Gestalt annimmt und als Herold eines neuen Tages durch die Gaue des Vaterlandes schreitet: ihren Geist aus¬ hauchend, gab diese Frau dem neugebornen Sohne den Namen „Nicht-Ehre" (Jkabod) und senkte damit den Entschluß zur Tilgung dieser Schmach in die Seele ihres Volkes. Ungenannt und doch mit leuchtenden Farben in das Buch der Geschichte gezeichnet, führt sie zugleich den Chor der Frauen an, die durch die Glut ihrer Religiosität das geistliche Staatswesen ihrer Nation zu erhalten halfen. Wie sehr die ethische Würdigung des Weibes in deu Vordergrund des alt¬ israelitischen Kulturbewußtseins trat, erkennen wir noch besonders deutlich aus dem berühmtesten Abschnitt des althebräischen Schrifttums, der hierher gehört. Ein so viele hundert Jahre älterer Vorgänger des Loblieds auf Johanna Schuh, pflegt er „das Lied vom braven Weibe" genannt zu werden und ist der Ab¬ schluß des Buches der Proverbieu. In diesem alphabetischen Akrostichon — des¬ halb zweiundzwanzig Verse nach der Zahl der hebräischen Buchstaben um¬ fassend — reflektieren sich wie in einem Spiegelbild alle einzelnen Normen der Wertschätzung des Weibes, die in der obigen Darstellung einzeln vor unser Auge getreten sind: die Zurückdrängung der körperlichen Vorzüge bei der Beurteilung des Wertes einer Frau, die Betonung der geistigen Begabung und Leistung, die formale Tugend des aufopferungsvollen Fleißes, die materialen Tugenden der Mutterliebe und der Gattentreue, die hochgesinnte Teilnahme an Wohl und Wehe des Vaterlandes. Ja auch folgende zwei Grundlagen für die Wertschätzung des Lebensgehalts einer Frau hat der Dichter uns nicht zu vergessen gelehrt: die Wohltätigkeit gegen die Armen und die Gottesfurcht. Denn in die Worte „ein Weib, das den Ewigen fürchtet, soll man loben" klingt die Dichtung aus. Also Religiosität, die im weiblichen Gemüt immer und überall ihr reinstes und stärkstes Altarfeuer gehabt hat, ist das unterste Fundament, auf dem sich die Würde-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/551>, abgerufen am 15.01.2025.