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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Nach der Hühnerhunde

Wir an dem Baum vorüberkamen, konnte ich mich nicht enthalten, mir die Wirkung
des Schusses anzusehen. Sie war überraschend genng: die Kugel hatte den starken
Stamm glatt durchgeschlagen.

Also mußte es mit Martins Behauptung doch seine Richtigkeit haben. Der
Hirsch war nur für ein Autogramm zu bekommen. In welchem Zusammenhange
dabei Ursache und Wirkung stauben, das war mir freilich ebenso rätselhaft wie
alles andre, was ich in den letzten Stunden erlebt, gehört und gesehen hatte. Aber
eins war mir jetzt gewiß: den Dreißigender mußte ich zur Strecke bringen, und
wenn ich nachher nie wieder eine Büchse in die Hand nehmen sollte!

Ich beschleunigte meine Schritte, daß es dem Jäger, der doch gewiß ein
rüstiger Bursch war, Mühe machte, mir zu folgen. Im Schlosse angelangt, konnte
ich kaum die Zeit zum Diner erwarten. Ich erkundigte mich bei dem alten Be¬
dienten, ob ich inzwischen ein wenig die Bibliothek besichtigen könnte, erfuhr aber,
daß sie abgeschlossen sei, und daß der Professor, der in den Wald gegangen sein
müsse, den Schlüssel bei sich trage. Es blieb mir also nichts andres übrig, als
mich auf mein Zimmer zu begeben und geduldig zu warten, bis man mich zum
Essen rufen würde. Die Stunden, die ich so zubrachte, vergingen mir jedoch merk¬
würdig schnell. Ich mußte unausgesetzt an den Hirsch denken, vergegenwärtigte
mir alle Einzelheiten meines Erlebnisses und stellte mir vor, wie es sein müßte,
wenn er im Feuer meines Schusses zusammenbräche und mit den Kronen seines
Riesengeweihs im Todeskampfe den Boden aufwühle. Und dann malte ich mir
aus, wie die Trophäe, auf einen Schild aus Eichenholz montiert, mein Arbeits¬
zimmer schmücken und jeden Besucher mit ehrfurchtsvollem Staunen erfüllen würde.

Endlich kam die Tischzeit heran. Man rief mich in den Saal hinunter, wo
die Herren, deren Bekanntschaft ich am Abend zuvor gemacht hatte, schon vollzählig
versammelt waren und sich, in kleinen Gruppen nmherstehend, unterhielten. Man
wartete ans den Hausherrn, der jedoch nicht erschien, sondern sich mit dem Hinweis
auf sein Leiden, das ihn heute ganz besonders plage, entschuldigen ließ. Das kam
mir freilich höchst ungelegen. Ich brannte darauf, mit ihm über den Hirsch zu
sprechen und mich so bald wie möglich in das Album einzutragen, und nun ließ
er sich nicht sehen!

Ich wüßte heute nicht mehr zu sagen, was es zu essen gab. Hungrig wie
ich war, langte ich von allem zu, was aufgetragen wurde, speiste aber mit der
Gleichgültigkeit eines Automaten. Auch an der Unterhaltung beteiligte ich mich
nicht, was meine Tischgenossen auch gar nicht übel zu nehmen schienen. Sie waren
ja alle selbst in einer ähnlichen Lage gewesen, verstanden meinen Gemütszustand
und entschuldigte" deshalb mein Betragen. Aus den Bruchstücken ihres Gesprächs,
die wie aus weiter Ferne an mein Ohr klangen, konnte ich entnehmen, daß sie
alle eine Morgenpürsche unternommen hatten, aber erfolglos heimgekehrt waren.
Wenn ich ihren Berichten Glauben schenken durfte, so wäre jeder von ihnen bei
einem Haare zum Schusse gekommen -- wenn ihm nicht im letzten Augenblick ein
ganz geringfügiger Umstand einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Der
Eine hatte, gerade als er abdrücken wollte, den Krumpf in den Finger bekommen,
dem Andern war beim Zielen eine winzige Mücke ins Auge geflogen, dem Dritten
mußte, als er einen braven Hirsch vor sich hatte und gerade anlegen wollte, das
Jagdglas an den Gewehrlauf klappen, der Vierte war zwar zum Losdrücken ge¬
kommen, hatte aber vergessen gehabt, eine Patrone in den Lauf zu stecken -- kurz,
jeder hatte eine von den unzähligen und unberechenbaren kleinen Tücken erfahren
müssen, mit denen das Schicksal den passionierten Weidmann zu verfolgen pflegt.

Nach Aufhebung der Tafel näherte sich mir Professor Eberhard, nahm mich
beiseite und sagte:

Der Herr Baron hat heute früh um sechs im Galgenwald einen Schuß fallen
hören. Er glaubt deshalb annehmen zu dürfen, daß Ihnen der Hirsch zusagt,
und ersucht Sie um die Gefälligkeit, sich in sein Autographenalbum einzutragen.


Nach der Hühnerhunde

Wir an dem Baum vorüberkamen, konnte ich mich nicht enthalten, mir die Wirkung
des Schusses anzusehen. Sie war überraschend genng: die Kugel hatte den starken
Stamm glatt durchgeschlagen.

Also mußte es mit Martins Behauptung doch seine Richtigkeit haben. Der
Hirsch war nur für ein Autogramm zu bekommen. In welchem Zusammenhange
dabei Ursache und Wirkung stauben, das war mir freilich ebenso rätselhaft wie
alles andre, was ich in den letzten Stunden erlebt, gehört und gesehen hatte. Aber
eins war mir jetzt gewiß: den Dreißigender mußte ich zur Strecke bringen, und
wenn ich nachher nie wieder eine Büchse in die Hand nehmen sollte!

Ich beschleunigte meine Schritte, daß es dem Jäger, der doch gewiß ein
rüstiger Bursch war, Mühe machte, mir zu folgen. Im Schlosse angelangt, konnte
ich kaum die Zeit zum Diner erwarten. Ich erkundigte mich bei dem alten Be¬
dienten, ob ich inzwischen ein wenig die Bibliothek besichtigen könnte, erfuhr aber,
daß sie abgeschlossen sei, und daß der Professor, der in den Wald gegangen sein
müsse, den Schlüssel bei sich trage. Es blieb mir also nichts andres übrig, als
mich auf mein Zimmer zu begeben und geduldig zu warten, bis man mich zum
Essen rufen würde. Die Stunden, die ich so zubrachte, vergingen mir jedoch merk¬
würdig schnell. Ich mußte unausgesetzt an den Hirsch denken, vergegenwärtigte
mir alle Einzelheiten meines Erlebnisses und stellte mir vor, wie es sein müßte,
wenn er im Feuer meines Schusses zusammenbräche und mit den Kronen seines
Riesengeweihs im Todeskampfe den Boden aufwühle. Und dann malte ich mir
aus, wie die Trophäe, auf einen Schild aus Eichenholz montiert, mein Arbeits¬
zimmer schmücken und jeden Besucher mit ehrfurchtsvollem Staunen erfüllen würde.

Endlich kam die Tischzeit heran. Man rief mich in den Saal hinunter, wo
die Herren, deren Bekanntschaft ich am Abend zuvor gemacht hatte, schon vollzählig
versammelt waren und sich, in kleinen Gruppen nmherstehend, unterhielten. Man
wartete ans den Hausherrn, der jedoch nicht erschien, sondern sich mit dem Hinweis
auf sein Leiden, das ihn heute ganz besonders plage, entschuldigen ließ. Das kam
mir freilich höchst ungelegen. Ich brannte darauf, mit ihm über den Hirsch zu
sprechen und mich so bald wie möglich in das Album einzutragen, und nun ließ
er sich nicht sehen!

Ich wüßte heute nicht mehr zu sagen, was es zu essen gab. Hungrig wie
ich war, langte ich von allem zu, was aufgetragen wurde, speiste aber mit der
Gleichgültigkeit eines Automaten. Auch an der Unterhaltung beteiligte ich mich
nicht, was meine Tischgenossen auch gar nicht übel zu nehmen schienen. Sie waren
ja alle selbst in einer ähnlichen Lage gewesen, verstanden meinen Gemütszustand
und entschuldigte» deshalb mein Betragen. Aus den Bruchstücken ihres Gesprächs,
die wie aus weiter Ferne an mein Ohr klangen, konnte ich entnehmen, daß sie
alle eine Morgenpürsche unternommen hatten, aber erfolglos heimgekehrt waren.
Wenn ich ihren Berichten Glauben schenken durfte, so wäre jeder von ihnen bei
einem Haare zum Schusse gekommen — wenn ihm nicht im letzten Augenblick ein
ganz geringfügiger Umstand einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Der
Eine hatte, gerade als er abdrücken wollte, den Krumpf in den Finger bekommen,
dem Andern war beim Zielen eine winzige Mücke ins Auge geflogen, dem Dritten
mußte, als er einen braven Hirsch vor sich hatte und gerade anlegen wollte, das
Jagdglas an den Gewehrlauf klappen, der Vierte war zwar zum Losdrücken ge¬
kommen, hatte aber vergessen gehabt, eine Patrone in den Lauf zu stecken — kurz,
jeder hatte eine von den unzähligen und unberechenbaren kleinen Tücken erfahren
müssen, mit denen das Schicksal den passionierten Weidmann zu verfolgen pflegt.

Nach Aufhebung der Tafel näherte sich mir Professor Eberhard, nahm mich
beiseite und sagte:

Der Herr Baron hat heute früh um sechs im Galgenwald einen Schuß fallen
hören. Er glaubt deshalb annehmen zu dürfen, daß Ihnen der Hirsch zusagt,
und ersucht Sie um die Gefälligkeit, sich in sein Autographenalbum einzutragen.


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[0503] Nach der Hühnerhunde Wir an dem Baum vorüberkamen, konnte ich mich nicht enthalten, mir die Wirkung des Schusses anzusehen. Sie war überraschend genng: die Kugel hatte den starken Stamm glatt durchgeschlagen. Also mußte es mit Martins Behauptung doch seine Richtigkeit haben. Der Hirsch war nur für ein Autogramm zu bekommen. In welchem Zusammenhange dabei Ursache und Wirkung stauben, das war mir freilich ebenso rätselhaft wie alles andre, was ich in den letzten Stunden erlebt, gehört und gesehen hatte. Aber eins war mir jetzt gewiß: den Dreißigender mußte ich zur Strecke bringen, und wenn ich nachher nie wieder eine Büchse in die Hand nehmen sollte! Ich beschleunigte meine Schritte, daß es dem Jäger, der doch gewiß ein rüstiger Bursch war, Mühe machte, mir zu folgen. Im Schlosse angelangt, konnte ich kaum die Zeit zum Diner erwarten. Ich erkundigte mich bei dem alten Be¬ dienten, ob ich inzwischen ein wenig die Bibliothek besichtigen könnte, erfuhr aber, daß sie abgeschlossen sei, und daß der Professor, der in den Wald gegangen sein müsse, den Schlüssel bei sich trage. Es blieb mir also nichts andres übrig, als mich auf mein Zimmer zu begeben und geduldig zu warten, bis man mich zum Essen rufen würde. Die Stunden, die ich so zubrachte, vergingen mir jedoch merk¬ würdig schnell. Ich mußte unausgesetzt an den Hirsch denken, vergegenwärtigte mir alle Einzelheiten meines Erlebnisses und stellte mir vor, wie es sein müßte, wenn er im Feuer meines Schusses zusammenbräche und mit den Kronen seines Riesengeweihs im Todeskampfe den Boden aufwühle. Und dann malte ich mir aus, wie die Trophäe, auf einen Schild aus Eichenholz montiert, mein Arbeits¬ zimmer schmücken und jeden Besucher mit ehrfurchtsvollem Staunen erfüllen würde. Endlich kam die Tischzeit heran. Man rief mich in den Saal hinunter, wo die Herren, deren Bekanntschaft ich am Abend zuvor gemacht hatte, schon vollzählig versammelt waren und sich, in kleinen Gruppen nmherstehend, unterhielten. Man wartete ans den Hausherrn, der jedoch nicht erschien, sondern sich mit dem Hinweis auf sein Leiden, das ihn heute ganz besonders plage, entschuldigen ließ. Das kam mir freilich höchst ungelegen. Ich brannte darauf, mit ihm über den Hirsch zu sprechen und mich so bald wie möglich in das Album einzutragen, und nun ließ er sich nicht sehen! Ich wüßte heute nicht mehr zu sagen, was es zu essen gab. Hungrig wie ich war, langte ich von allem zu, was aufgetragen wurde, speiste aber mit der Gleichgültigkeit eines Automaten. Auch an der Unterhaltung beteiligte ich mich nicht, was meine Tischgenossen auch gar nicht übel zu nehmen schienen. Sie waren ja alle selbst in einer ähnlichen Lage gewesen, verstanden meinen Gemütszustand und entschuldigte» deshalb mein Betragen. Aus den Bruchstücken ihres Gesprächs, die wie aus weiter Ferne an mein Ohr klangen, konnte ich entnehmen, daß sie alle eine Morgenpürsche unternommen hatten, aber erfolglos heimgekehrt waren. Wenn ich ihren Berichten Glauben schenken durfte, so wäre jeder von ihnen bei einem Haare zum Schusse gekommen — wenn ihm nicht im letzten Augenblick ein ganz geringfügiger Umstand einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Der Eine hatte, gerade als er abdrücken wollte, den Krumpf in den Finger bekommen, dem Andern war beim Zielen eine winzige Mücke ins Auge geflogen, dem Dritten mußte, als er einen braven Hirsch vor sich hatte und gerade anlegen wollte, das Jagdglas an den Gewehrlauf klappen, der Vierte war zwar zum Losdrücken ge¬ kommen, hatte aber vergessen gehabt, eine Patrone in den Lauf zu stecken — kurz, jeder hatte eine von den unzähligen und unberechenbaren kleinen Tücken erfahren müssen, mit denen das Schicksal den passionierten Weidmann zu verfolgen pflegt. Nach Aufhebung der Tafel näherte sich mir Professor Eberhard, nahm mich beiseite und sagte: Der Herr Baron hat heute früh um sechs im Galgenwald einen Schuß fallen hören. Er glaubt deshalb annehmen zu dürfen, daß Ihnen der Hirsch zusagt, und ersucht Sie um die Gefälligkeit, sich in sein Autographenalbum einzutragen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/503>, abgerufen am 16.01.2025.